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Mali in Mühlheim

Im westafrikanischen Mali haben sich die Traditionen des Masken- und Marionettentheaters und des satirischen Volkstheaters bis heute erhalten. Die Gruppe Sogolon ist in der internationalen Figurentheater-Szene so etwas wie ein lebender Mythos. Man hat von ihr gehört, aber die wenigsten haben sie gesehen. In Mülheim gab es Gelegenheit dazu, Sogolon live zu erleben.

Von Dorothea Marcus | 18.09.2007
    Obwohl es in Mali kein subventioniertes Theater mehr gibt, ist Theater in Mali allgegenwärtig: in Form von Marionetten, der so genannten "Seele des Volkes". Bereits in vorchristlichen Gräbern wurden in Mali Puppen aus Ton gefunden.

    " Die erste Zivilisationsschule der Malinesen ist die Marionette. Sie gehört zu unserer Grunderziehung. Die Marionette kann man nicht ideologisch umdrehen. Sie ist der unveräußerliche Schatz der Ahnen, sie bleiben intakt, man kann mit ihnen die Wahrheit sagen. Es ist ein Spiegel, in den die Gesellschaft guckt. Die Marionette hat Mali zum tolerantesten Volk der Welt gemacht. Am Tag, an dem es eine Marionettenvorführung gibt, geht der Imam nicht zur Moschee. An diesem Tag trinkt er Bier. Erst nach dem Tanz der Marionetten geht er zur Moschee und betet. Wir sind ein Land, in dem die Feste gefeiert werden, wie sie fallen: wenn Weihnachten ist, wird Weihnachten gefeiert. Wenn Ramadan ist, wird Ramadan gefeiert. "

    Yaya Coulibay entstammt einer uralten Puppenspieldynastie. Heute leitet er das berühmteste Puppentheater des Landes Sogolon als Familienunternehmen. Aber er ist auch Puppenbauer, Professor und Schriftsteller, der an der Pariser Sorbonne Anthropologie studiert hat. Er inszeniert in Nizza eine Kinderoper mit 1000 Marionetten und hat mit der berühmten Handspring Puppet Company aus Südafrika gearbeitet. In seinem Haus in Bamako, das auch ein Theater ist, befinden sich rund 25 000 Puppen, teilweise über 100 Jahre alt. In jedem Dorf in Mali gibt es mindestens eine Puppenspielgruppe, die auf Plätzen und in Schulen, aber vor allem in französischen Kulturzentren spielen - bis 1960 war Mali französische Kolonie.

    Das Stück "Der Jäger und der Löwe" ist eine alte Fabel. Weil eine schöne Frau einen repräsentativen Ehemann braucht, soll Koke einen Löwen erlegen, um im Dorf etwas zu gelten. Er legt eine Falle aus, die zuschnappt: in der Schlinge verfängt sich ein menschengroße Löwenpuppe mit Holzkopf und wallender Mähne. Doch sein Berater, eine kleine, bunt gekleidete Hyänenmarionette, ist nicht auf den Kopf gefallen: Wer so einen Löwen fängt, sei kein richtiger Mann, verkündet er. Wer würde da nicht an der Ehre gepackt. Doch natürlich unterliegt Koke im offenen Zweikampf dem Löwen, liegt gefesselt zu seinen Füßen und wird von den Tieren im Busch und den Dorfbewohnern beschimpft. Eine Marionette nach der anderen tritt heran und beklagt, dass der Mensch Tiere ausrottet und Bäume fällt, so dass sich die Wüste immer mehr ausbreitet.

    Unter den Puppen sind Weiße und Schwarze, sie tragen traditionelle Kleidung oder Safari-Look. Rührend sind die lebensechten Plastik- und Turnschuhe an den Füßen. Auch in "Die Taufe des jungen Löwen" und der "Goldenen Kalebasse" geht es um Löwen, Wettbewerbe, Ausgestoßensein aus der Gemeinschaft. Jedem Stück merkt man an, dass es gleichzeitig eine kultische Handlung ist: Vor jeder Vorstellung nimmt Coulibaly einen mit Muscheln besetzten Gürtel, das Amulett, und spricht ein Gebet. Möge das Theater die Menschen in Frieden versammeln. Dann folgt ein Trommel- und Gesangskonzert und wilde Choreografien, in der sich die Tänzer gegenseitig übertrumpfen. Wenn die Geschichte beginnt, wechseln sich Menschen und Marionetten in ihren Auftritten ab. Lebensgroß sind Antilopen und Pferdefiguren, die sich so rasend im Kreis drehen, dass Staub aufwirbelt. Die kleinen Marionetten werden von den Spielern offen über die Bühne geführt - aber es gibt auch Masken und Stabpuppen. Zum Schluss holt Coulibaly Zuschauer zu einem Fruchtbarkeitstanz auf die Bühne

    Das alles ist wunderschön. Dennoch wirken die Fabeln auf einen westlichen Blick vorhersehbar, folkloristisch ungebrochen und gänzlich unpolitisch. Das Politische an einem Festival, das die Theaterlandschaft Mali vorstellt, ist wohl eher, dass es den vorurteilsbelasteten Zuschauer etwas über die Jahrtausende alte Kultur Afrikas lehrt. Ihn lehrt, dass die Marionette das kulturelle Fundament Malis ist, das sogar Japan und Südamerika beeinflusste. Und dass es kulturelle Welten gibt, die vom Westen unbeeinflusst, autonom und großartig für sich stehen. Doch letztlich kann man Sogolon in Deutschland nur als etwas gänzlich Fremdes staunend bewundern.