Freitag, 29. März 2024

Archiv


"Man muss ja nicht immer nordkoreanische Ergebnisse haben"

Sigmar Gabriel wurde mit 83,6 Prozent der Stimmen als SPD-Vorsitzender wiedergewählt. Das zeige, dass eine große Mehrheit hinter ihm stehe, sagt Ralf Stegner, SPD-Chef in Schleswig-Holstein. Mit seiner ehrlichen Rede habe Gabriel Führung gezeigt.

Ralf Stegner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 15.11.2013
    Christoph Heinemann: Die SPD ist nach Hause zurückgekehrt. In Leipzig steht die Wiege der ältesten deutschen Partei, dort, wo 1863 der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein gegründet wurde. Ein guter Ort, um über das Selbstverständnis nachzudenken und Wunden zu lecken nach der zweiten vergeigten Bundestagswahl. Die Parteiführung wird heute neu bestimmt. Der erste Akt ging gestern über die Bühne. Eine Parteiführung, die nach der Regierungsbildung vielleicht bald schon wieder umgebildet werden muss.

    Wir haben vor einer dreiviertel Stunde das folgende Gespräch mit Ralf Stegner aufgezeichnet. Er ist SPD-Vorsitzender in Schleswig-Holstein. – Guten Morgen, Herr Stegner!

    Ralf Stegner: Schönen guten Morgen, Herr Heinemann!

    Heinemann: "Nach Klartextrede – SPD watscht Gabriel ab", titelt heute die "Bild"-Zeitung. War das zu viel Klartext gestern?

    Stegner: Nein, das glaube ich nicht, und ich finde das auch ein bisschen übertrieben. Man muss ja nicht immer nordkoreanische Ergebnisse haben. Ich finde, deutlich über 80 Prozent, das zeigt schon, dass eine große Mehrheit hinter Sigmar Gabriel auch steht. Auf der anderen Seite war es natürlich eine sehr ehrliche Rede. Es war eine, die nüchtern analysiert hat, die den Finger in manche Wunde gelegt hat, und die natürlich auch angemessen ist, wenn man ein doch sehr schlechtes Wahlergebnis erzielt hat mit 25 Prozent bei der Bundestagswahl und wir dann dazu auch noch in schwierigen Koalitionsverhandlungen mit der Union sind, was ja auf große Skepsis in der Partei stößt – nicht nur bei der Basis, sondern bei Menschen wie mir auch und bei vielen anderen auch. Von daher, glaube ich, hat Sigmar Gabriel Führung gezeigt, und das hat immer bis zu einem gewissen Grat dann auch ihren Preis.

    Heinemann: Zum Ergebnis noch mal. Seit 1946 haben nur vier SPD-Vorsitzende schlechter abgeschnitten. Das war Scharping, Lafontaine, zweimal Schröder. Mag die Partei Gabriel nicht?

    Stegner: Ganz im Gegenteil. Ich glaube, Sigmar Gabriel hat seit 2009 die Führung übernommen, hat in Dresden die Partei auch aus einer sehr bitteren Niederlage heraus wieder Selbstbewusstsein gegeben und hat für deutlich mehr innerparteiliche Demokratie gesorgt, hat an das angeknüpft, was Kurt Beck begonnen hatte, und hat sehr, sehr viel Zustimmung. Ich glaube, wir wären in einer ganz anderen, viel schlechteren Lage, wenn Sigmar Gabriel das nicht angestoßen hätte. Dazu gehörte nämlich auch, dass wir Fehler korrigiert haben, die wir gemacht haben, als wir bei den rot-grünen Sozialreformen teilweise die Arbeit entwertet haben und unser Gerechtigkeits-Markenzeichen doch infrage geraten ist bei vielen, die unsere Anhänger, Mitglieder und Wähler sind, und insofern, finde ich, kann er damit gut leben, mit diesem Wahlergebnis in einer solchen Lage. Es ist viel besser, als da donnernde Reden zu halten und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Das ist es bei 25 Prozent erkennbar nicht.

    Heinemann: Wir wollen hören, was Sigmar Gabriel gestern gesagt hat.

    O-Ton Sigmar Gabriel: "Ich verspreche das für mich, aber auch für alle, die da verhandeln: Wir werden kein zweites Mal eine Politik betreiben, bei der die SPD wieder gegen ihr eigenes Selbstverständnis verstößt. Das darf es mit uns nicht noch einmal geben, liebe Genossinnen und Genossen."

    Heinemann: Herr Stegner, heißt das, mit der SPD nie wieder "Agenda 2010"?

    Stegner: Nein. Das heißt vor allen Dingen, dass wir jedenfalls, wenn wir Reformen machen – und die waren ja auch damals notwendig. Das kann man überhaupt gar nicht bestreiten. Wir hatten fünf Millionen Arbeitslose, viele waren im Sozialhilfebezug ohne jede Perspektive. Aber dass wir darauf achten, dass nicht dabei herauskommt wie halt auch, dass da prekäre Beschäftigung sich noch verfestigt, dass auch teilweise in einem Tonfall geredet wurde über diejenigen, die in schwierige Lage kommen, dass manche ihre SPD da nicht wiedererkannt haben. Wir müssen die Gerechtigkeitspartei sein, wir müssen die sein, für die Gerechtigkeit Maßstab und Kompass ist, wir müssen die sein, die für die vielen Menschen, die arbeiten oder als Rentner gearbeitet haben, unseren Wohlstand alle miterarbeiten, dass die auch ihren Teil vom Kuchen bekommen.

    Heinemann: Das heißt, Regieren heißt Geld verteilen?

    Profilbild von Sigmar Gabriel bei einer Rede auf dem SPD-Parteitag in Leipzig. Gabriel hebt gestikulierend den rechten Finger.
    Gabriel "hat für deutlich mehr innerparteiliche Demokratie gesorgt", sagt Stegner. (picture alliance / dpa / Kay Nietfeld)
    "Wir müssen die Gerechtigkeitspartei sein"
    Stegner: Nein, das heißt es überhaupt nicht, sondern das heißt, es klug zu investieren. Schauen Sie, wenn wir heute zum Beispiel in Bildung investieren, was wir dringend tun müssen, weil das eine Frage von Lebenschancen ist, dann ist das was, was auf Dauer die Gesellschaft weniger kostet, weil jedes Kind, das ohne Ausbildung die Schule verlässt, oder ohne Schulabschluss, das produziert doch auch Sozialtransfer-Kosten. Das wollen wir nicht, also es ist eine andere SPD.

    Heinemann: Aber ist denn die SPD nach den Erfahrungen der "Agenda 2010" überhaupt noch in der Lage, unpopuläre, aber notwendige Entscheidungen zu treffen?

    Stegner: Ich finde nicht, dass es Ausweis von Mut ist, wenn man den Schwächsten was wegnimmt. Das ist ja so dieses Klischee: Unpopulär heißt, man muss den Schwächsten was wegnehmen.

    Heinemann: Man muss insgesamt was wegnehmen.

    Stegner: Richtig ist, dass man sich mit den Mächtigen anlegt. Da haben wir eine Menge zu tun übrigens, finde ich, in unserer Gesellschaft, nicht Politik in Europa für die Banken zu machen, sondern dafür zu sorgen, dass die Jugendarbeitslosigkeit geringer wird. Ich glaube schon, es gibt immer schwierige Situationen. Energiewende ist eine schwierige Aufgabe, die wir haben, soziale Sicherungssysteme, bei der demografischen Entwicklung in guter Verfassung zu bleiben. Das ist alles schwierig, aber wer, wenn nicht die SPD, kann das leisten. Sie ist im Übrigen diejenige, wenn die regiert hat in Deutschland, dann ging es den Menschen in der Regel deutlich besser als in anderen Zeiten. Wir sind da nicht geknickt und wir sind schon gar nicht von gestern. Wir müssen nur die Aufgaben, wie Willy Brandt auch gesagt hat, die die Zeit uns stellt, dann auch mit unseren Grundwerten annehmen.

    Heinemann: Die SPD will sich öffnen. Wie nahe stehen Sie der Linkspartei inhaltlich?

    Stegner: Nicht besonders, muss ich ehrlich sagen, wenn ich mir manches anhöre, was West-Linke hier so von sich geben. Ich bevorzuge viel eher, dass wir Gerechtigkeitspartei sind und die im Westen gar nicht in die Parlamente kommen. Aber wir müssen halt auch zur Kenntnis nehmen: Sie sind gerade auch im Osten natürlich da, sie sind ein Wettbewerber und sie konnten es sich bisher bequem machen, weil sie immer gesagt haben, so nach dem Motto, wir werden ja gar nicht in die Regierung gehen müssen. Und wir haben es der Union auch bequem gemacht, weil die Mehrheit diesseits der Union, wie Willy Brandt das genannt hat, diese Mehrheit von uns nicht genutzt worden ist. Frau Merkel hat quasi immer darauf vertrauen können: Wenn die Linkspartei stark wird – die hat dafür quasi eine Kerze ins Fenster gestellt, dass das passiert -, dann ist sie ungefährdet. Das ist töricht, glaube ich, und insofern korrigiert die Partei zurecht, dass wir vor Wahlen solche Dinge ausschließen. Die einzigen Koalitionen, die wir nicht bilden können und niemals werden, sind mit Rechtsparteien oder Rechtspopulisten.

    Heinemann: Viele DDR-Bürgerrechtler sind nach der Wende in die SPD eingetreten. Wie sehr freuen die sich auf eine Zusammenarbeit mit ehemaligen Stasi-Leuten und SED-Mitgliedern?

    "Die Linkspartei muss sich dazu auch verändern"
    Stegner: Ich glaube nicht, dass das der Kern der Linkspartei heute ist. Das ist inzwischen eine andere Partei geworden. Aber noch mal: Ich werbe hier mitnichten für die Linkspartei, ganz im Gegenteil. Sie sind Wettbewerber, mit denen wir auch hart umgehen müssen. Aber die SPD definiert sich nicht über andere Parteien, sondern sie steht für sich selbst. Und ob das nun FDP, CDU, Grüne oder Linkspartei sind, das sind alles Konkurrenzparteien. Wir wollen selbst möglichst stark werden. Aber wir können es doch den Konservativen nicht einfach machen, überall in Europa ist das so, dass, wenn es linke Mehrheiten gibt, die jedenfalls theoretisch genutzt werden können. Aber noch mal: Die Linkspartei muss sich dazu auch verändern. Die haben jetzt Druck unter ihrem Dach und die Union hat das auch. Die SPD muss auch immer gucken, dass sie auch eine realistische Option hat, selbst die Regierung zu führen, denn auf Dauer Juniorpartner in einer Koalition mit der Union, das ist wirklich nichts für uns.

    Heinemann: Das hängt ja auch vom Programm ab. – Sie haben eben gesagt, wir sind nicht von gestern. Die Wochenzeitung "Die Zeit" schreibt in dieser Woche sinngemäß, die SPD biete inhaltlich nur alte Hüte: Kohle, Mindestlohn, Straßenbau, Rente mit 63. Hat eine Volkspartei, die nur den Traditionsbestand anbietet, auf dem neuerdings ja sehr beweglichen Markt der Wählergunst überhaupt eine Chance?

    Stegner: Ach wissen Sie, das ist eine Abteilung aus den Wohlfühletagen unserer Gesellschaft.

    Heinemann: Haben Sie was gegen Wohlfühlen?

    Stegner: Überhaupt nicht. Aber wir haben ganz viele Leute getroffen im Wahlkampf, die uns gefragt haben, wie kann ich meine Miete oder den Strom bezahlen, was ist mit der Ausbildung unserer Kinder, wie geht es mir, wenn ich in die Rente komme, oder meine Eltern pflegebedürftig werden, wie kann ich das alles leisten. Das sind doch Fragen, die die Menschen bewegen, und um diese Fragen haben wir uns gefälligst zu kümmern als SPD. Andere tun das nicht und die, die so was schreiben, natürlich erst recht nicht. Die, die die höchsten Einkommen und Vermögen haben, die wollen nicht, dass sie stärker besteuert werden. Viele finden die Gesellschaft so in Ordnung. Die sagen, das ist doch gut geregelt mit oben und unten. Die SPD war immer stark, wenn sie versucht hat, Gesellschaft auch zu verändern, mit unseren Grundwerten, natürlich mit dem Realismus auch, den man haben muss, wenn man praktischen Fortschritt für Menschen erreicht. Wenn Sie so wollen: Für uns ist momentan die Frage, dass wir es uns nicht einfach machen dürfen, siehe Parteitag, aber dass wir was erreichen müssen für die Menschen, die es schwer haben in unserer Gesellschaft, das ist unser Job und den muss die SPD machen. Dann haben wir auch wieder Erfolg.

    Heinemann: Wo sind denn die SPD-Angebote für die sogenannte Generation Y?

    Stegner: Na ja, natürlich dürfen wir nicht sagen, wir sind jetzt nur für diejenigen da, denen es schlecht geht.

    Heinemann: Konkret! Wo sind die Angebote?

    "Wir tun was für ein soziales Europa"
    Stegner: Wo sind die Angebote? Ich glaube, dass es ein gutes Angebot auch für diese Generation ist, wenn wir sagen, wir kümmern uns um Investitionen in die Moderne dieses Landes, wir tun was für die Infrastruktur, wir tun was für die Kommunen, da leben die ja auch, wir tun was für die bestmögliche Bildung und Forschung auch in diesem Land, dass wir wettbewerbsfähig bleiben, auch im Wettbewerb mit den Chinesen und Indern und Brasilianern und all den anderen auf der Welt, wir tun was für ein soziales Europa. Und auch diese Generation, von der Sie reden, ist doch nicht dafür, dass wir eine Flüchtlingspolitik unterstützen wie in Lampedusa, wo Menschen ums Leben kommen, die aus bitterer Not flüchten müssen. Wir sind doch nicht hartherzig, nur weil es ihnen besser geht. Ich glaube, man muss da realistisch auf die Gesellschaft gucken, und wir sind mitnichten eine Entweder-oder-Partei, sondern wir sind eine Sowohl-als-auch-Partei als Volkspartei.

    Heinemann: Stichwort Flüchtlinge, Einwanderung. Die SPD setzt sich ja für die doppelte Staatsbürgerschaft ein. Werden dem Parteivorstand künftig mehr Führungsleute mit Migrationshintergrund angehören?

    Stegner: Ich fürchte, nicht mehr, aber ich hoffe, hoffentlich gleich viele. Heute wird der Vorstand erst wieder gewählt. Es gibt jetzt doch noch zusätzliche Bewerbungen, wie ich gestern gehört habe. Aber dass wir da noch mehr zu tun haben, selber vielfältiger werden müssen, das stimmt auch. Aber auch da gucken Sie sich doch mal um. Wir haben Parteien in Deutschland, die werben für Einfalt. Wir müssen für Vielfalt sorgen, wir sind bunter geworden. Manche Parteien lassen sich erst durch Urteile von Karlsruhe, vom Bundesverfassungsgericht dazu zwingen, andere Lebensgemeinschaften zu akzeptieren als die traditionelle Ehe.

    Heinemann: Aber Sie gehen nicht gerade mit gutem Beispiel voran.

    Stegner: Jedenfalls mit einem besseren Beispiel, als das bei anderen Parteien der Fall ist. Aber ich sage ja nicht, dass wir perfekt sind. Ich habe keine rosarote Brille, überhaupt nicht. Wir sind in einer schwierigen Lage: wir beschäftigen uns mit uns selbst, wir vergewissern uns auch selbst. Aber wir arbeiten hart daran, dass es besser wird. Wenn das alle anderen auch tun, dann haben wir gesellschaftlichen Fortschritt. Die SPD muss sich da überhaupt nicht verstecken. Und ich will Ihnen noch eins sagen: Gucken Sie mal, wir lassen unsere Mitglieder abstimmen über das Koalitionsergebnis am Ende. Welche Partei tut so was? Das ist Demokratie im 21. Jahrhundert und das ist Fortschritt in einer Partei wie der SPD. Machen Sie sich um uns keine Sorgen, wir sind 150 Jahre da und können immer noch vieles besser als andere.

    Heinemann: Ralf Stegner, der SPD-Vorsitzende von Schleswig-Holstein. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Stegner: Sehr gerne! Auf Wiederhören.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.