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"Man muss sich herauskonsumieren aus der Krise"

Eine florierende Wirtschaft lasse sich künftig nur noch über steigende Löhne erreichen, die zu Konsum führen, sagt Heiner Flassbeck. Der Wirtschaftsexperte begründet das mit fehlendem Konsum bei uns und einem wegbrechenden Exportmarkt durch die Abwertung vieler Schwellenländer.

Heiner Flassbeck im Gespräch mit Dirk Müller | 05.09.2013
    Dirk Müller: Syrien überlagert alles – fast alles, auch den G20-Gipfel in Russland, aber es gibt noch eine ganz andere Agenda, so nebenbei, die ursprünglich das wichtigste Themenfeld ausmachen sollte: die internationale Wirtschafts- und Finanzkrise nämlich. Was haben die Regierungen bislang unternommen, gingen die Staatsschulden runter? Ist der Euro wieder stabil geworden und wohin tendiert die Konjunktur weltweit? Und wie umgehen mit den Schattenbanken und den Hedgefonds? Die Wirtschaft und der G20-Gipfel – Vor dem G20-Gipfel (MP3-Audio) aus Sankt Petersburg berichtet Andreas Kolbe.

    Wo steht die Weltwirtschaft? Unser Thema mit Wirtschafts- und Finanzexperte Heiner Flassbeck, vormals Staatssekretär unter Oskar Lafontaine, anschließend Chefvolkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, jetzt immer noch als Autor und Publizist aktiv. Guten Morgen!

    Heiner Flassbeck: Guten Morgen!

    Müller: Herr Flassbeck, spüren Sie noch die Krise?

    Flassbeck: Ja, die Frage, wo steht die Weltwirtschaft, ist eigentlich die richtige Frage. Sie steht immer noch, leider, sie hat sich noch nicht viel bewegt. Es gibt ein klein bisschen Bewegung in den USA, ein bisschen mehr Bewegung dank sehr aggressiver Politik in Japan, es gibt aber in Europa immer noch Stillstand oder Rückgang.
    Jenseits dieses einen Quartals, wo es mal ein bisschen besser aussah, gibt es immer noch Rückgang in den meisten Ländern, und in den Schwellenländern gibt es eine neue Krise, das wird hier nicht so richtig zur Kenntnis genommen, aber es gibt eine Währungskrise in einigen Schwellenländern, Brasilien, Indien, Indonesien, das sind wichtige Länder, wo die Währungen stark abwerten, und wo diese Länder jetzt mit restriktiver Politik sogar dagegenhalten.

    Müller: Machen diese Schwellenländer dieselben Fehler, die wir gemacht haben?

    Flassbeck: Nein, sie sind Opfer eines Systems. Wir haben immer noch das falsche System, das falsche Währungssystem, wir haben ein Währungssystem, wo Brasilien zum Beispiel durch Spekulationen mit Währung unter starken Aufwertungsdruck geraten ist. Die brasilianische Währung hat extrem aufgewertet in den letzten fünf, sechs Jahren, Brasilien hat sich darüber heftig beklagt, es ist nichts geschehen, international. Das ist eine internationale Frage, die man nur global lösen kann, in den G20 wurde das heftigst diskutiert, es ist nichts geschehen, und jetzt kommt die Konsequenz, jetzt kommen die Kapitalströme, die drehen um, und dann kommt eine starke Abwertung, die auch – Brasilien braucht seine Abwertung, aber die unordentlich ist, die wild ist und viel zu weit geht und viel zu schnell geht, und dieses Problem hat die G20 überhaupt nicht angefasst, vielleicht das wichtigste Problem, in meinen Augen ganz klar das wichtigste Problem für die gesamte Weltwirtschaft.

    Müller: USA?

    Flassbeck: Ja, die USA – wir haben ja gesehen, die haben extrem expansive Geldpolitik gemacht, aggressiv expansive Geldpolitik. Es hat ein bisschen geholfen, aber der Grund ist ganz einfach, wir haben weltweit eine Verminderung der Einkommenserwartung der Menschen. Die Menschen erleben, dass sie ohnehin geringe Einkommen hatten, wir haben ja alle die Ungleichheit auf der ganzen industrialisierten Welt beklagt, und gleichzeitig haben wir hohe Arbeitslosigkeit, und die hohe Arbeitslosigkeit drückt auf die unteren Einkommen natürlich ganz besonders, und dadurch kommen wir nicht aus dem Sumpf heraus, weil die Menschen keine positiven Einkommenserwartungen haben.

    Ohne positive Einkommenserwartungen geht es nun mal nicht, weil für die großen Länder, wenn ich die G20 nehme, zusammen – das ist eine geschlossene Volkswirtschaft, die können sich nicht herausexportieren, gegen wen wollen die denn exportieren? Da gibt es nichts auf der Welt, sie können nur aus der Krise herauskommen durch Konsum. Und da hängt es genau, weil die Arbeitslosigkeit auf die Einkommen weiter drückt, das ist ein Fehler im System – auch ein Fehler im System, der leider auch nicht diskutiert wird, und wenn Europa jetzt nach der Botschaft von Frau Merkel versucht, wettbewerbsfähig zu werden über Lohnsenkung, dann ist es genau das falsche Rezept, weil das ist das Rezept für eine kleine offene Volkswirtschaft, aber nicht für eine große geschlossene Volkswirtschaft, wie es Europa darstellt. Man kann sich nicht herausexportieren aus der Krise, man muss sich herauskonsumieren aus der Krise.

    Müller: Konsumieren ist das Stichwort, Herr Flassbeck, lassen Sie uns darüber noch mal reden. Sie haben eben gesagt, die Amerikaner haben expansive Geldpolitik betrieben, ein bisschen hat es geholfen, in Europa sind ja ähnliche Tendenzen zumindest gewesen, um die Eurokrise in irgendeiner Form da in den Griff zu bekommen. Es hat Konjunkturprogramme gegeben, es hat Milliarden an Investitionen gegeben. Warum hat das Ihrer Meinung nach immer noch nicht so richtig weitergeholfen?

    Flassbeck: Ja, genau aus dem Grunde, weil wir verminderte Erwartungen der Menschen haben. Sie haben gesehen, früher hatte man eine Rezession, die hat zwei, drei Quartale gedauert, und dann hat jeder gesagt, dann geht es wieder aufwärts. Ja, warum ging es wieder aufwärts? Für die Welt insgesamt ging es nur deswegen aufwärts, weil die Menschen wieder konsumiert haben, weil sie wieder erhofft haben, oh, meine Einkommen werden steigen, und ich kann wieder konsumieren – das ist der einzige entscheidende Grund.

    Müller: Weil man Vertrauen auch braucht, um das zu tun?

    Flassbeck: Genau, Vertrauen, und die Erwartung, dass die Dinge sich normalisieren, und aber auch meine Einkommen sich normalisieren. Nur diese Einkommenserwartung gibt es auf der ganzen Welt nicht mehr. Und Japan hat das vorgemacht, 20 Jahre sind in Japan die Löhne jedes Jahr gesunken, ein klein bisschen immer nur, aber sie sind gesunken. Dadurch kommen sie nie aus der Krise heraus, weil die Menschen einfach kein Zutrauen mehr haben in die wirtschaftliche Entwicklung. Und da ist der Knackpunkt, und über den wird überhaupt nicht geredet.

    Müller: Aber wenn man sein Produkt nicht verkaufen kann, weil es zu teuer ist, kann man doch nicht auch noch die Löhne erhöhen.

    Flassbeck: Ja, für die Welt ist es ja nicht zu teuer. Was ist für die Welt zu teuer? Wir haben ja keinen Konkurrenten im Mars und in der Venus, auf der Venus gibt es auch noch keine Konkurrenten. Für die Welt ist zu teuer, ist teuer genug sozusagen, was wir uns selbst leisten können. Es geht nur darum, was wir uns selbst leisten können, und das funktioniert nur, wenn die Menschen partizipieren am Ergebnis des Wohlstandes. Das tun sie aber seit 20 Jahren schon nicht mehr systematisch und das ist jetzt in der Krise richtig zum Tragen gekommen, weil bei niedrigen Löhnen, bei niedrigen Einkommen für die Masse der Menschen haben wir noch Arbeitslosigkeit bekommen, und das hätte niemals passieren dürfen, das ist gegen die Gesetze der Marktwirtschaft. Aber die Arbeitslosigkeit war natürlich eine finanzmarktkrisenbedingte Arbeitslosigkeit, die hatte mit Löhnen überhaupt nichts zu tun, und hier ist ein Fehler im System, den wir erkennen müssen, auf den wir reagieren müssen, aber das ist wie gesagt weit, weit in der Ferne.

    Müller: Herr Flassbeck, jetzt müssen wir darüber reden, was eine Regierung, welche auch immer, jetzt konkret tun könnte. Sie kann das Geld ja im Grunde im gesamten Währungsraum nicht mehr billiger machen. Sie kann sich auch nicht neu verschulden, noch höher verschulden – oder doch?

    Flassbeck: Ja, irgendjemand muss sich verschulden. Sie müssen dafür sorgen, dass irgendjemand sich verschuldet, irgendjemand muss sich immer verschulden.

    Müller: Wer sollte das denn tun?

    Flassbeck: Ja, die Unternehmen, hoffentlich die Unternehmen. Eine normale Marktwirtschaft ist eine Marktwirtschaft, wo die Unternehmen sich verschulden. In den 1960er- und den 1950er-Jahren in Deutschland – Wirtschaftswunder – haben die privaten Haushalte gespart, der Staat hat sich rausgehalten und hat kaum Schulden gemacht, aber die Unternehmen haben sich verschuldet. Heute sind die Unternehmen in Deutschland Sparer - das ist völlig absurd.

    Und die Einzigen, die verschuldet haben, bisher, war das Ausland. Aber einer muss sich verschulden, denn sonst können wir nicht sparen. Wenn die Leute alle sparen, wenn der Staat spart, die Unternehmen sparen und die Haushalte sparen, kann es niemals aufgehen, dann gibt es eine Katastrophe in der wirtschaftlichen Entwicklung, weil keine Nachfrage mehr da ist, und bisher hat sich das Ausland verschuldet. Nun ist das Ausland aber überwiegend pleite und kann sich nicht mehr verschulden. Deswegen müssen wir die deutschen Unternehmen dazu bringen, sich zu verschulden – das geht aber wiederum auch nur über höhere Löhne, und vielleicht über höhere Steuern, aber das ist alles Tabuthema, beides sind Tabuthemen in Deutschland, deswegen finden wir keinen Weg aus der Krise, deswegen hoffen wir wieder auf den Export. Wir hoffen: Irgendwo auf der Welt wird es ja einen geben, der unsere Produkte kauft. Aber das ist keine Lösung.

    Müller: Viele Unternehmen mit Milliardenumsätzen, die zum Teil ja auch noch – auch deutsche Unternehmen – Milliardengewinne machen, hätten damit ja bestimmt ein Problem, warum sollten die sich verschulden, wenn deren Absatzmärkte im Moment grundsätzlich noch einigermaßen funktionieren?

    Flassbeck: Deren Absatzmärkte funktionieren ja eben auch nicht mehr so richtig. In Deutschland, der deutsche Binnenmarkt ist tot seit 15 Jahren. Bisher haben wir uns über den Export gerettet, aber das geht jetzt nicht mehr. Mit der Eurokrise ist ja ein erheblicher Exportmarkt weg. Und wenn jetzt die Schwellenländer abwerten, was sie gerade tun, ist der Markt auch weg. So, dann stellt sich die Frage wieder: Wie funktioniert Wirtschaft, wie werden wir diese Wirtschaft wieder ankurbeln können? Und das geht nur über steigende Einkommen im Innern, nur über steigende Einkommen im Inneren, und wenn das nicht funktioniert, dann muss der Staat sich verschulden, dann muss man tatsächlich sagen, ich bin nicht für Staatsverschuldung, aber wenn niemand anders sich verschuldet, kann der Staat nicht auch noch sagen, nein, ich spare jetzt auch. Dann bricht die Wirtschaft zusammen, dann haben wir Katastrophe in ganz kurzer Zeit.

    Müller: Aber dann bekomme ich ja als Aktionär keine Dividende mehr.

    Flassbeck: Na, wieso? Sie bekommen die Dividende auf andere Art und Weise. Jetzt bekommen Sie Dividende, weil die Unternehmen auf riesigen Bergen von Gewinnen sitzen, wenn die Wirtschaft floriert, kriegen Sie Dividende, weil die Unternehmen wieder investieren und dadurch der gesamte Motor der Wirtschaft anläuft.

    Diese Berge von Gewinnen sind ja nur dem deutschen Export geschuldet, die gibt es nicht, wenn keine Einkommen da sind, wenn keine Nachfrage da ist, gibt es diese Gewinne nicht. Die sind nur dem Export geschuldet, nur das Modell, sagte ich ja, geht gerade zu Ende, und deswegen müssen wir hier was ändern.

    Müller: Der Wirtschafts- und Finanzexperte Heiner Flassbeck bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Flassbeck: Wiederhören!


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.