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Manfred Lütz Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitwahn und den Fitness-Kult

Der Verdrängung des Zukunftsproblems der Altersversorgung entspricht die Konzentration auf das Gegenwartsproblem Gesundheit. Der Bestsellerautor und Arzt Manfred Lütz hat seinem Buch "Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult" ein Wort von Platon vorangestellt. Es lautet: "Die ständige Sorge um die Gesundheit ist auch eine Krankheit." Herr Lütz, halten Sie Deutschland für ein krankes Land?

Jürgen Liminski | 17.06.2002
    Lütz: Im Sinne von Platon ganz sicher, denn mein Eindruck ist, dass alle Deutschen sich in einer Weise Sorgen um die Gesundheit machen, die völlig überzogen sind. Gesundheit gilt allgemein als höchstes Gut: Jede Geburtstagsrede über 65 hat mit Sicherheit den Satz: 'Gesundheit ist unser höchstes Gut.’ Dabei ist das philosophisch völliger Unsinn. Gesundheit ist in der gesamten philosophischen Tradition des Abendlandes und des Morgenlandes niemals das höchste Gut gewesen - ein so zerbrechliches Gut die Einheit von Heiligkeit und Glückseligkeit oder so was, oder Gott, oder ähnliches. Aber Gesundheit gilt heute bei uns als höchstes Gut und dadurch sind die Leute von morgens bis abends mit diesen Fragen beschäftigt, laufen zum Arzt, zum Therapeuten. Es gibt einen schlimmen Spruch, der heißt: 'Gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde.’ Also je mehr Untersuchungen man macht, desto mehr pathologische Werte bekommt man mit. Es gibt Menschen, die von morgens bis abends nicht mehr leben, sondern nur noch vorbeugend leben und dann gesund sterben.

    Frage: Herr Lütz, Sie stellen die Gesundheit sozusagen dar als neue Weltreligion. Da be- schreiben Sie auch Kultformen. 'Von der Prozessionstradition zur Chefarztvisite’ heißt ein Unterkapitel. Es geht um neue Bußübungen. Dann geht es auch um Schönheit, Sex und Tod im Sonderangebot, um das Krankenhaus als Kathedrale des 2o. und wahrscheinlich auch des 21. Jahrhunderts und so weiter und so fort. Die Parallelen sind in der Tat erstaunlich. Nun sind Sie hauptberuflich Arzt für Psychiatrie und haben auch Theologie studiert. Ist der Gesundheitswahn Ihrer Meinung nach ein moderner Religionsersatz, so wie vor 2oo Jahren etwa die Vernunft die Religion ersetzen sollte?

    Lütz: Ich glaube in der Tat, dass die Menschen heute vielfach nicht mehr an den lieben Gott glauben, aber an die Gesundheit. Der Deutsche Fitness-Studio-Verband hat berichtet, dass im Jahre 2ooo 4,59 Millionen Deutsche dort Mitglieder sind. Im gleichen Jahr 2ooo sind noch 4,42 Millionen Deutsche in den katholischen Sonntagsgottesdienst gegangen, also das Jahr 2ooo ist ein Wendepunkt. Die Gesundheitsreligion hat sozusagen die Macht übernommen und ich glaube in der Tat, dass alle Formen der religiösen Tradition inzwischen im Gesundheitswesen angelangt sind. Die Wallfahrtstradition hat man da: Die Leute aus Hannover fahren nach München, um da sich operieren zu lassen, und wegen der gleichen Operation fährt man aus München nach Hannover - je weiter weg, desto mehr Heilserwartung ist damit verbunden. Auch Schuld gibt es eigentlich nur noch in diesem Bereich. Der Begriff Sünde erscheint im deutschen - wenn man das mal genau beobachtet - eigentlich nur noch im Zusammenhang mit Sahnetorte. Also Sünde, das ist eine Ernährungssünde oder etwas ähnliches, oder man hat nicht genügend auf dem Fitnesspfad zugebracht. Auch Blasphemie gibt es eigentlich nur noch im Gesundheitsbereich. Sie können heute die größten Albernheiten über Jesus Christus erzählen, aber bei der Gesundheit: Da hört der Spaß auf. Das ist die einzige satirefreie Zone in unserer Gesellschaft und deswegen habe ich in meinem Buch versucht, diesen Bereich mal zu betreten. Ich glaube, dass man der mächtigsten Religion aller Zeiten - für die ich die Gesundheitsreligion in der Tat halte, auch für die teuerste Religion aller Zeiten - mit Satire zunächst einmal begegnen muss, und es gibt inzwischen auch schon einen Fundamentalismus dieser Gesundheitsreligion: Das ist die Ethik des Heilens, die neuerdings erfunden wurde. Das bedeutet, wenn sie heilen, irgendwen heilen, können sie dafür alles machen. Sie können kleine Kinder töten. Denn heilen, das ist ein absolutes Ziel, und wer dagegen redet, gilt als zynisch.

    Frage: Sie sprechen von der teuersten Religion aller Zeiten. Wir diskutieren hier in Deutsch- land in der Tat vor allem über Kosten, über die Kosten der Gesundheit. Das ist auch die politische Kategorie des Gesundheitswahns, wenn man so will. Welche politischen Konsequenzen sind denn aus dieser Situation zu ziehen?

    Lütz: Also ich glaube, dass die politischen Konsequenzen bereits gravierend sind. Denn weil dieser Bereich geradezu sakral aufgewertet wird, weil der Gesundheitsbegriff religiös aufgeladen ist, traut sich im Grunde kein Politiker mehr, die Pfade der 'political correctness’ in diesem Bereich zu verlassen. Jeder muss sagen, dass Gesundheit selbstverständlich das höchste Gut ist und dass aller Einsatz dazu aufgewandt werden muss, um jedem Einzelnen maximale Gesundheit zu sichern. Jedem Kenner der Lage ist bekannt, dass das jetzt schon nicht möglich ist und dass das zum sofortigen Zusammenbruch des Gesundheitssystems führen würde - aber man darf es nicht sagen. Und das ist sehr gefährlich. Das Gesundheits- system insgesamt verschlingt mehr Geld als der ganze Bundeshaushalt. Die Krankenkassenkosten im letzten Jahr waren mehr - summa summarum mehr - als der gesamte Bundeshaushalt. Und dennoch gibt es niemanden, der diesen gewaltigen Tanker steuern kann. Weil, sobald man steuert, muss man ja abwägen, muss man sagen: Können wir da mal etwas weniger ausgeben? Und das steht man bereits unter Tabu. Das darf man überhaupt nicht sagen, dann ist man im Grunde nicht mehr wählbar. Von daher gibt es gravierende Konsequenzen und insofern hat das Buch schon viele Reaktionen bei Krankenkassen, bei Ärztevertretern ausgelöst. Ich werde eine Diskussion mit dem Präsidenten der Bundesärztekammer, Herrn Prof. Hoppe, haben, weil die Ärzte natürlich den Ansprüchen - die ja auch immer weiter wachsen - gar nicht mehr standhalten können. Und dann werden immer wieder die Kosten verteilt auf verschiedene Gruppen, die es dann schuld sein sollen: die Ärzte, die Pharmaindustrie und so weiter. In Wirklichkeit liegt es daran, dass die Erwartungen in diesem Bereich viel zu hoch sind und jetzt schon nicht befriedigt werden können.

    Frage: Gesundheitswahn und Fitnesskult - das ist also Ihre Diagnose, man kann auch sagen: die Diagnose des sozial kritischen Beobachters. Sie sind Arzt, wie sieht denn Ihre Therapie aus? Wie kann man denn die Lust am Leben erhalten oder neu gewinnen? Denn das scheint ja gerade das zu sein, was fehlt?

    Lütz: Also zunächst einmal muss man auch mit Satire, aber auch mit Kritik dieser Entwicklung endlich einmal begegnen. Wenn Bestseller heißen 'young for ever’ (für immer jung), dann ist das ja gelogen - das ist ganz klar -, denn jeder weiß, dass auch dieser Autor sterben wird. Vielleicht gesund, aber er wird sterben. Das heißt, wir müssen von dieser ganzen Lüge in diesem Bereich mal endlich herunterkommen, und wir müssen nüchtern die Realität zur Kenntnis nehmen im Bewusstsein der Begrenztheit des Lebens - und das ist eigentlich die Weisheit aller Völker immer gewesen: im Bewusstsein der Grenzen des Lebens jeden Tag bewusst leben. Ein Kapitel des Buches heißt 'Sterben und Tod als Würze des Lebens - oder was ein pompejianisches Bordell mit dem heiligen Hieronymus verbindet’. Das ist immerhin erklärungsbedürftig. In einem pompejianischen Bordell sind Totenmasken an der Wand als Bewusstsein: Lebe jeden Tag intensiv. Und der Totenschädel beim heiligen Hieronymus heißt im Grunde das gleiche: Lebe jeden Tag sehr bewusst. Natürlich nicht im Bordell - da gibt es Unterschiede. Aber das bewusste Leben jedes Moments, das ist eigentlich das, was die Alten Muße nannten, das heißt dass man Zeit ganz intensiv er- lebt. Und das ist zum Beispiel in der sinnlichen barocken christlichen Tradition, sehr intensiv zu erleben. Es gibt keine lebenslustigere Zeit als die Barockzeit. Und da kommt immer wieder der Schnittertod vor, nicht als Auslöser einer Depression, sondern als Aufforderung zu einem vitalen Leben. Und darum geht es in dem Buch auch um eine ganzheitliche Art von Spiritualität, die man dann leben kann, wenn man sich nicht von morgens bis abends nur um etwas kümmert, was man im letzten, in dieser Absolutheit, gar nicht erreichen kann.

    Frage: Das heißt - wenn ich Ihre These richtig verstehe: Spiritualität gehört mit zur Gesundheit?

    Lütz: Ich glaube, Gesundheit ist gar nicht so wichtig. Ich glaube, Gesundheit ist relativ wichtig. Sie ist ein hohes Gut, aber wenn man sich übermäßig - und das gilt bei allen Gütern -, wenn man sich übermäßig nur mit der Gesundheit beschäftigt, kann man sich gar nicht mehr mit Spiritualität, mit dem eigentlichen Glück, mit der Lust am Leben jeden Moments, wirklich beschäftigen. Und insofern stehlen diese Fitness-Apostel den Menschen auch ihr Leben, wenn man nur noch vorbeugend lebt und gar nicht mehr zum wirklichen Leben kommt. Eine gewisse Ehrlichkeit gibt es allerdings doch. Man sagt immer wieder: 'fit for fun’ - da gibt es auch Zeitschriften, die so heißen -, das heißt ja, man macht sich fit, um anschließend Spaß zu haben, aber die meisten Leute, die ich kenne, die haben gar keine Zeit mehr, um anschließend Spaß zu haben, weil sie völlig fertig sind von dem, was sie alles für die Fitness getan haben.

    Frage: Sie plädieren hier für Muße, halten offenbar wenig von Hektik. Heute leben wir in einer durch-ökonomisierten Welt. Übrigens: Die Fitnessindustrie schafft ja auch Arbeitsplätze. Keiner hat mehr Zeit. Alles muss laufen im doppelten Sinn des Wortes. Plädieren Sie auch für mehr Faulheit?

    Lütz: Das könnte man so sagen. Aber Aristoteles hat gesagt: Wir arbeiten, um Muße zu haben. Also man muss auch arbeiten, damit man dann Muße haben kann, insofern nicht durchgehende Faulheit. Und Faulheit würde ja auch bedeuten, dass man einfach nur Langeweile hat. Muße ist etwas Intensives. Es ist etwas, was Freude macht, was auch Spaß macht und was das Leben farbiger und geschmackvoller macht. Und darum geht es. Nicht um einfaches Sich-hinlegen und sich mit der Sonne voll knallen lassen und faul sein, oder vor der Glotze. Das wäre zu wenig.

    Frage: An wen richtet sich Ihr Buch? Wer sollte, wer muss es lesen?

    Lütz: Das Buch ist geschrieben für diese Fitnessstudio-Mitglieder, aber für die Sorte, die einen gewissen Sinn für Humor hat, und die auch Lust hat, etwas nachdenklich zu werden über das, was am Ende des Fitness oder über das Ende des Fitnesspfads hinaus auf sie wartet. Und es ist natürlich geschrieben für 75 Millionen Deutsche, die noch nicht Mitglied eines Fitnessstudios sind - als Ermutigung zum Durchhalten.

    Das war Manfred Lütz über sein Buch "Lebenslust. Wider die Diät-Sadisten, den Gesundheitswahn und den Fitness-Kult", erschienen im Pattloch-Verlag in München, 21o Seiten zu 14 Euro neunzig.