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Mangelwirtschaft in Venezuela
Der Fluch des schwarzen Goldes

Venezuela ist extrem von Öleinnahmen abhängig. Wegen des niedrigen Ölpreises steht das Land nun kurz vor dem Staatsbankrott. Das macht sich besonders im Gesundheitssystem bemerkbar: Medikamente sind kaum noch zu bekommen, selbst Kopfschmerztabletten und Spritzen sind Mangelware. Auch Grundnahrungsmittel sind rationiert.

Von Anne Demmer | 16.01.2016
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    Ölförderung im venezolanischen Morichal (dpa/picture-alliance/ Miguel Gutierrez)
    Der Wartesaal in einem Krankenhaus im Zentrum von Caracas ist voll, fast alle blauen Plastiksitze sind belegt. Norma Hernández wartet auf ihre Mutter, die gerade behandelt wird. Seit Wochen ist sie auf der Suche nach einem speziellen Medikament.
    "Ohne dieses Medikament würde meine Mutter einen epileptischen Anfall nach dem anderen bekommen. Wir haben alles versucht, über die sozialen Netzwerke, Freunde, Familie - bis wir nun in einem anderen Krankenhaus zwei Ampullen bekommen haben."
    Sie holt sie aus ihrer Handtasche hervor. Doch zwei Ampullen werden nur ein paar Wochen vorhalten, die Suche geht also weiter. In Venezuela sind selbst Kopfschmerztabletten knapp, bemerkt eine junge Frau, genervt und noch viel schlimmer:
    "Verhütungsmittel - ob Pille oder Kondome - sind kaum erhältlich. Ich kann nur beten, dass ich nicht schwanger werde, weil in der jetzigen Krise ein Kind zu bekommen - lieber nicht."
    Experten befürchten, dass die ohnehin schon hohe Anzahl von Teenagerschwangerschaften in die Höhe schnellen könnte. Von HIV ganz zu schweigen. Kondome findet man im Land kaum, oder zu völlig überhöhten Preisen. Das Problem: In Venezuela werden sie nicht hergestellt, und durch die katastrophale Wirtschaftslage sind Importe, die nicht staatlich gestützt werden, fast unmöglich.
    Kritik an den Missständen ist unerwünscht
    Das macht sich auch in den Krankenhäusern bemerkbar. Fernando González öffnet seinen Medikamentenschrank im Behandlungszimmer, der ist quasi leer, Antibiotika gibt es nur noch wenige Packungen. Er weiß kaum noch, wie er seine Patienten versorgen soll.
    "Die Patienten rufen mich verzweifelt an, ob ich dies oder jenes Medikament für sie habe, das sie in der Apotheke nicht bekommen, aber ich kann ihnen da oft auch nicht weiterhelfen. Das ist natürlich eine schwierige Situation."
    Der Arzt will seinen richtigen Namen nicht nennen. Er befürchtet Sanktionen durch die Regierung: "Das Gesundheitsministerium könnte mich vorladen und mir sogar meine Lizenz entziehen. Am Ende könnte ich dafür sogar im Gefängnis landen."
    So ist es einem Kollegen von ihm ergangen, der sich auf Twitter über den Notstand in den Krankenhäusern beschwert hat. Fernando González und seine Kollegen sind kurz davor, die Vereinten Nationen um Hilfe zu bitten. So gehe es nicht weiter, das Land stecke in einer humanitären Krise. Jeden Tag muss er im OP improvisieren.
    "Wir haben keine antibakteriellen Mittel, um die Wunden zu reinigen, also benutzen wir blaue Kernseife, die ansonsten für die normale Wäsche benutzt wird."
    Es fehlt an den einfachsten Dingen: Latexhandschuhe auch Spritzen und Kanülen sind Mangelware. Insbesondere für Krebspatienten ist es eine aussichtslose Situation.
    "Sie können nicht warten. Sie brauchen sofort eine Behandlung. Aber eine Chemotherapie können wir ihnen nicht bieten. Die Krankheit kann nicht aufgehalten werden. Der Patient wird schnell sterben."
    Der Alltag wird zum Überlebenskampf
    Die schwere Wirtschaftskrise macht den Alltag für viele Venezolaner - im wahrsten Sinne des Wortes - zu einem Überlebenskampf. Die Inflation liegt bei 140 Prozent, die höchste weltweit. Das Bruttoinlandsprodukt ist um sieben Prozent gesunken – das sagen die gerade veröffentlichten Wirtschaftszahlen der venezolanischen Zentralbank, es sind die ersten nach einem Jahr. Und der Ölpreis hat einen historischen Tiefststand. Präsident Nicolás Maduro ist davon überzeugt, dass der Ölpreis manipuliert wird.
    "Der Preis für venezolanisches Rohöl ist innerhalb von einer Woche auf 24 US-Dollar gefallen. Das ist der niedrigste Stand seit zwölf Jahren. Der Ölmarkt ist ein Preiskrieg, der unabhängige Staaten brechen soll."
    Venezuela hat über Jahrzehnte auf die Öleinnahmen gesetzt und darüber die Lebensmittelproduktion, die Industrie vernachlässigt. Deswegen müssen fast alle Nahrungsmittel und Industrieprodukte importiert werden. Aber die Kassen sind leer. Die wirtschaftliche Lage ist desolat. Präsident Maduro hat nun den wirtschaftlichen Notstand ausgerufen.
    Ein entsprechendes Dekret wurde im Staatsanzeiger veröffentlicht, es stattet ihn mit weitreichenden Sonderrechten aus, um Wirtschaftsreformen einzuleiten. Es soll zunächst auf 60 Tage begrenzt werden. Doch bevor es in Kraft treten kann, muss darüber in der Nationalversammlung abgestimmt werden. Die konservative Opposition, die nach den Parlamentswahlen Ende letzten Jahres eine Mehrheit im Parlament innehat, könnte das Dekret kippen. Seit Tagen verschärfen sich Konflikte zwischen Exekutive und Legislative. Währenddessen verschlechtert sich die Versorgungslage für die Bevölkerung immer weiter.
    Vor einem Supermarkt am Rande von Caracas hat sich eine lange Schlange über den Parkplatz gebildet. Milch, Eier, Mehl, Windeln, Shampoo sind immer schwerer zu bekommen und vor allen Dingen nicht jeden Tag. Die Endnummer auf dem Personalausweis ist entscheidend, an welchem Wochentag im Supermarkt Grundnahrungsmittel eingekauft werden können.
    Warten für zwei Päckchen Zucker
    Heute ist Mariella an der Reihe. Fünf Stunden stand die 23-jährige in der Sonne vor dem Supermarkt – das Warten hat sich gelohnt. Sie konnte zwei Pakete Zucker ergattern, die fehlten ihr, um Kuchen zu backen. Von dem Verkauf lebt sie, doch ihre Kunden bestellen immer seltener, weil sie selbst kein Geld mehr übrig haben.
    "Ich kann die Qualität des Kuchens nicht mehr gewährleisten. Es ist schwierig, die Produkte überhaupt zu bekommen, und dann sind sie auch noch teuer. Stundenlang muss man in der Schlange stehen, die Zeit brauche ich eigentlich für die Kuchenproduktion. Es ist wirklich stressig."
    Sie muss quasi Wunder vollbringen, damit sich der Verkauf überhaupt noch lohnt: "Die Kunst ist es weniger Zutaten zu verwenden, aber der Geschmack darf natürlich nicht gänzlich verloren gehen. Ich will ja, dass meine Kunden zufrieden sind."
    Während Mariella ihren Heimweg antritt, ist die Schlange vor dem Supermarkt noch länger geworden. Eine Frau spannt einen Schirm gegen die Sonne auf. Früher hat sie die Sozialisten gewählt, doch bei den letzten Parlamentswahlen hat sie sich dagegen entschieden, Maduro sei für die Misere verantwortlich. Das ewige Warten in der Schlange hat sie satt.
    "Es wäre schrecklich, wenn ich heute nicht mehr dran komme. Aber man muss die Ruhe bewahren. Das hier ist unsere Realität. Aber ich hoffe, dass sich bald was ändert." Es muss sich etwas ändern – fügt sie später hinzu. In der Schlange geht es währenddessen nicht voran.