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Manifesta 10
Performances als Unterwanderung des Alltags

Performances für die Straße sind in Paris oder Berlin bei Kunstfestivals Routine. In St. Petersburg gehören sie jedoch zum heikelsten Teil der Manifesta. Zumal die polnische Kuratorin, Joanna Warsza, dafür vor allem Künstler aus den ehemaligen Sowjetrepubliken oder Staaten des einstigen Warschauer Paktes eingeladen hat.

Von Carsten Probst | 28.07.2014
    Männer leeren Beutel mit Schnee für die Performance "Cold Painting" des russischen Künstlers Pavel Braila.
    Interventionen in der Stadt: Performances auf der Straße wie "Cold Painting" des russischen Künstlers Pavel Braila gehören zum Programm der Manifesta in St. Petersburg. (Anatoly Maltsev / dpa)
    Ein Performance-Programm für die Straße mag in Paris, London oder Berlin inzwischen Routine bei Kunstfestivals sein - in St. Petersburg aber ist es der heikelste Teil im Programm der Manifesta 10. Kunstaktionen im öffentlichen Raum gibt es kaum in Russland. Radikale Künstlergruppen wie Voina oder Pussy Riot haben sich in den letzten Jahren vorgewagt, aber die extremen Reaktionen der Politik darauf zeigen nur, wie dass dem Kunstverständnis in Russland enge Grenzen gesetzt sind. Joanna Warsza, die aus Polen stammende Kuratorin, leitet das Manifesta-Programm für den öffentlichen Raum, das überall in der Stadt abspielen soll, als Unterwanderung des Alltags.
    Kritische Sicht der russischen Gegenwart
    Das birgt schon von vornherein Konfliktstoff, hat Warsza doch zudem Performance-Künstler fast ausschließlich aus ehemaligen Sowjetrepubliken oder Staaten des einstigen Warschauer Paktes eingeladen, die zweifellos ihre kritische Sicht der russischen Gegenwart darstellen. Aber Joanna Warsza geht es überhaupt nicht um Krawall oder den buchstäblich gestreckten Mittelfinger für die Staatsmacht. Kunst kann eine sanfte Macht sein, davon ist sie überzeugt. Kunst kann die Menschen zusammenbringen, ohne nur kommerzielle Gehirnwäsche zu betreiben, aber gleichzeitig auch den Leuten die Furcht vor politischen Veranstaltungen nehmen. Pavel Braila aus der Republik Moldova ist einer der von ihr eingeladenen Künstler:
    "Das Problem in Moldavien ist, dass wir hundert Jahre hinterher hinken. Ich unterrichte dort an der Kunsthochschule in Chisinau, und das größte Problem, genau wie übrigens hier in Russland, ist, dass die Kunsterziehung am Beginn des 20. Jahrhunderts aufhört - beim Post-Impressionismus! Wir haben also eine Lücke bei der Kunstvermittlung von hundert Jahren. Und das ist der Grund, weshalb man als Künstler aus Osteuropa verdammt gut informiert sein muss über die Gegenwart."
    Künstlerische Zeitverschiebung
    Wie früher zu Sowjetzeiten, so glaubt Braila, kommt Künstlern nach wie vor in Russland die Aufgabe zu, die Menschen mit aktuellen Informationen zu versorgen, die ihnen die Medien nicht liefern. Er selbst ist mit gleich zwei Aktionen in St. Petersburg vertreten. So hat er mit der Petersburger Stadtverwaltung ausgehandelt, dass die berühmte Kanone auf der Peter und Paul-Festung nicht nur einmal am Tag ihren traditionellen Schuss um 12 Uhr mittags abgibt, sondern auch einen weiteren eine Stunde später, um 13 Uhr. Eine kleine künstlerische Zeitverschiebung - mit großer Bedeutung. Denn dadurch wird Petersburg, die am meisten europäische Großstadt Russlands, symbolisch von der mitteleuropäischen Zeitzone weg und in die Moskauer Zeitzone hineingerückt. Und dies ist ein Vorgang, den man gerade unlängst im weltpolitischen Maßstab auf der Krim beobachten konnte, nachdem die Administration dort von russlandorientierten Kräften übernommen worden war.
    Alevtina Kachize ist eine Künstlerin aus der Ost-Ukraine und Aktivistin der Maidan-Proteste. Trotz aller politischen Spannungen ist sie nach Petersburg gekommen und betreibt auf der Manifesta ein Internetprojekt mit ihren persönlichen Aufzeichnungen über die sozialen Netzwerke, das dem "Informationskrieg zwischen Ost und West", wie sie sagt, entgegenwirken soll.
    Kosakenchor in der Eremitage
    Deimantas Narkevicus ist ein auch im Westen inzwischen bekannter Performancekünstler aus Litauen und sorgte schon während der ersten Tage der Manifesta an verschiedenen Orten in St. Petersburg für Aufsehen, indem er unter anderem in der Eremitage einen Kosakenchor auftreten ließ - Kosaken stammen ursprünglich aus Südrussland und der Ukraine und verfügen über ein großes Repertoire an Gesängen, die das Leid des Krieges beklagen. Doch auch Petersburger Performancegruppen bietet diese Manifesta zum ersten Mal in ihrer eigenen Stadt eine international beachtete Bühne. Kein Krawall, keine Provokation, eher nur kleine, hintergründig formulierte Nadelstiche. Sie sind die eigentlichen Qualitäten der diesjährigen Manifesta.