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"Mann im Dunkel"

Der Schriftsteller Paul Auster hält es für bemerkenswert, dass ein Schwarzer Präsidentschaftskandidat einer der beiden großen Parteien des Landes werden konnte. So etwas hätte es noch nie gegeben. Als Obama nominiert wurde, habe ihn das mit Stolz erfüllt, so Auster im Vorfeld der US-Wahlen.

Paul Auster im Gespräch Denis Scheck | 04.11.2008
    Denis Scheck: Ihr Deutschlandbesuch fällt nicht nur in die Zeit der amerikanischen Wahlen, sondern auch in eine Zeit der ökonomischen Krise, ja des Chaos an den Börsen. Erleben wir zur Zeit das Ende des Turbokapitalismus, das Ende des Kapitalismus oder gar das Ende der Welt, wie wir Sie kennen? Wie wirkt sich diese Krise auf die Wahlen aus?

    Paul Auster: Sie fragen, als besäße ich auf irgendeinem dieser Felder sonderliche Expertise. Richtig ist: Ja, wir stecken in einer großen Krise und uns steht nun eine enorm wichtige Wahl bevor. Aber ob Sie es glauben oder nicht: Manchmal halte ich diese Krise sogar für ganz gut. Denn vielleicht bedeutet sie ja wirklich das Ende dessen, was ich den Dschungel-Kapitalismus nenne. Dass Milton Friedman nun endlich tot ist, und dass niemand mehr diesen verrückten Ideen von einer ungezügelt freien und uneingeschränkt offenem Marktwirtschaft folgen wird. Es muss Regeln und Einschränkungen geben, es muss Möglichkeiten geben, die Art, wie wir Geschäfte machen, zu regulieren und zu überwachen. Das System muss reformiert werden. Im Chinesischen gibt es die alte Redensart: Mögest du in uninteressanten Zeiten leben. Wir leben bedauerlicherweise in sehr interessanten Zeiten. Aber ich glaube nicht, dass wir untergehen, dass wir in eine Weltwirtschaftskrise hineinschliddern wie die in den 30er Jahren. Die Menschen in Europa und auf der ganzen Welt sind sich dafür der Probleme zu sehr bewusst, und diese Probleme sind lösbar. Drücken wir also die Daumen.

    Scheck: Ist die Entscheidung zwischen Obama und McCain ein Indikator dafür sei, wie rassistisch die USA heute sind?

    Auster: Es ist eine bemerkenswerte Sache, dass ein Schwarzer Präsidentschaftskandidat einer der beiden großen Parteien des Landes ist. So etwas gab es noch nie. Als Obama nominiert wurde, hat mich das mit Stolz erfüllt und ich war der Überzeugung, dass damit etwas ganz Großartiges geleistet worden ist. Ich bin aber der Überzeugung, dass noch mehr geleistet werden muss. Obama muss die Wahlen auch gewinnen. Nach allem, was man lesen kann, ist er McCain in den Meinungsumfragen davongezogen, aber ich glaube nicht an Meinungsumfragen. Es läuft tatsächlich auf die Frage hinaus, wie rassistisch unser Land heute ist. Im Grunde müsste alles auf einen Erdrutschsieg für die Demokraten hinauslaufen. Nach den Blamagen der letzten acht Jahre wäre es in der amerikanischen Politik normal, die Republikaner abzuwählen und die Demokraten ins Amt zu wählen. Aber in diesem Jahr spielt dieser Faktor X eine Rolle, das Unbekannte, und deshalb kann ich keine Vorhersage machen. Wir wissen es erst am Abend des 4. November.

    Scheck: Sie waren jetzt in Berlin, Hamburg, Wien und zum ersten Mal in Stuttgart. Was fällt Ihnen denn als der größte Unterschied zwischen Deutschland, Österreich und den USA auf?

    Auster: Hauptsächlich dass hier alles funktioniert. In Amerika funktioniert nicht soviel.

    Scheck: In meinen Augen ist "Mann im Dunkel" Ihr politischster Roman. Sie haben einmal erklärt, im Jahre 2000 habe Ihre Welt, Ihre Wirklichkeit einen Irrweg beschritten. Was war der Auslöser dieses Gedankens?

    Auster: Ich spreche von den amerikanischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000. Tatsache ist, dass Al Gore zum Präsidenten gewählt wurde. Er hat die Wahlen gewonnen. Das weiß auch jeder. Durch politische und juristische Tricks haben die Republikaner die Wahlen gestohlen. Der Oberste Gerichtshof hat das durch das empörendste Urteil in der Geschichte des Landes abgesegnet. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie deprimiert ich an dem Tag war, als dieses Urteil verkündet wurde und Al Gore aufgab. Ich war so am Boden zerstört wie an dem Tag, als mein Vater starb. Ich bin in ein tiefes schwarzes Loch gefallen. Ich hatte das Gefühl, mein Amerika unwiederbringlich verloren zu haben. Wenn ein Idiot wie Bush die Geschicke des Landes lenkt, dann muss dies zu schlimmen Dingen führen. Während ich also in den letzten acht Jahren ein Desaster nach dem anderen miterlebt habe, machte sich in mir der Gedanke breit, dass wir nicht mehr in der realen Welt leben, dass wir vom rechten Weg abgekommen sind, dass wir Gore gewählt, aber nicht bekommen haben, sondern statt dessen diesen Idioten. In der wirklichen Welt steht Al Gore am Ende seiner zweiten Amtszeit als Präsident, wir haben den Irak nie besetzt, und der 11. September, ja die Welt, in der wir heute leben und die Krise, in der wir uns heute befinden, zu all dem ist es nie gekommen. Die Hauptfigur meines Romans denkt sich nun aus, dass im Jahr 2000 einige Amerikaner so verstört waren, dass sich einzelne Bundesstaaten von den USA abspalten und es zu einem Bürgerkrieg kommt.

    Scheck: Kommen wir auf den wahren Anfang Ihres neuen Romans "Mann im Dunkel" zu sprechen, nämlich auf die Widmung. Warum haben Sie ihn dem israelischen Schriftsteller David Grossmann, seiner Familie und insbesondere seinem Sohn gewidmet?

    Auster: Viele Zuhörer werden David Grossmann als bedeutenden Romancier und Essayisten kennen, außerdem kämpft er im Nahen Osten für Frieden: Er ist einer der wenigen, die sich mit klarer und vernünftiger Stimme für Harmonie in dieser schrecklichen Weltgegend einsetzen. David Grossmann ist ein sehr enger Freund von mir, ich kenne ihn und seine Familie seit vielen Jahren. Vor zwei Jahren, im Sommer 2006, starb sein jüngster Sohn Uri im Alter von 20 Jahren in jenem kurzen Krieg zwischen Israel und Libanon - wenige Stunden, ehe der Waffenstillstand verkündet wurde und nur ein oder zwei Tage, nachdem sein Vater zusammen mit Amos Oz zu dem israelischen Ministerpräsidenten Olmert gepilgert waren und diesen um die Einstellung der Kampfhandlungen gebeten hatten. Dieser Tod traf mich sehr hart. Da der Roman, den ich geschrieben habe, auch vom Tod eines jungen Mannes in einem Krieg handelt, deshalb schien es mir angemessen, dieses Buch David und seiner Familie zu widmen.

    Scheck: Sie sind Jahrgang 1947. Wie haben Sie persönlich eigentlich Krieg erfahren?

    Auster: Ich war nie in einem Krieg. Als junger Mensch habe ich natürlich den Vietnamkrieg erlebt, den die USA in den 60er und 70er Jahren geführt haben. Potentiell hätte ich Soldat werden können, denn damals war es so, dass man nach dem Ende des Studiums der Wehrpflicht unterlag. Anders als heute, wo wir eine Freiwilligenarmee aus Berufssoldaten unterhalten, gab es damals noch die Wehrpflicht. Ich war als Student so gegen den Krieg in Vietnam, dass ich mir geschworen hatte, da nicht mitzumachen. Lieber wollte ich mich ins Gefängnis werfen lassen, als in diesem ungerechtfertigten und dummen Krieg zu kämpfen. Zum Glück musste ich nicht in den Krieg. Nicht lange nach meinem Studienabschluss wurde das Einberufungssystem reformiert und eine Wehrpflicht-Lotterie eingeführt. Jedem jungen Mann wurde auf Grundlage seines Geburtstages eine Nummer zugelost, eines Tages hat man diese Nummern aus einer Lostrommel gezogen. Je niedriger die Nummer, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass man tatsächlich eingezogen wurde. Aber ich hatte die Nummer 297 von 366 gezogen, deshalb war mir klar, dass man mich nie einziehen würde, und so kam es dann auch. Ich war also nie im Krieg. Was ich miterlebt habe und was ähnlich war wie Krieg, waren die Rassenunruhen in Newark, New Jersey 1967. Zufällig war ich damals in Newark und erlebte die mit. Das kam einem Krieg recht nahe: Chaos auf den Straßen, Menschen, die Schaufenster zertrümmerten, Schüsse, Polizisten, die auf Menschen einprügelten, ein riesiges Durcheinander. Wenn man so etwas einmal mit eigenen Augen gesehen hat, vergisst man das nie, das hinterlässt einen starken Eindruck. Mit den Bildern dieser Geschehnisse, keinem echten Krieg, aber eine Art Krieg, bin ich seither durchs Leben gegangen.

    Scheck: Und damit sind wir im Zentrum jener poetologischen Gesetze, die den literarischen Kosmos von Paul Auster regieren: Zufall, Glück, das blinde Schicksal. Warum ist der Zufall so wichtig für Sie?

    Auster: Der Zufall ist nicht nur wichtig für mich, sondern für uns alle. Zufall gehört zu unserem Leben. Wir alle wissen, dass wir unser Leben nicht völlig in der Hand haben. Wir alle wissen, dass es manchmal zu Unfällen kommt, dass das Unerwartete eintritt. Wir besitzen einen Willen, wir haben Wünsche, wir haben die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und Pläne zu schmieden, wir können uns Ziele für die Zukunft setzen. Aber wie jeder weiß, haben wir all das nicht immer in der Hand. Andere Dinge kommen dazwischen. Das könnte man als Zufall definieren, das Unerwartete. Für mich ist das nichts weniger als der Mechanismus der Wirklichkeit, so funktioniert unser Leben. Ich habe in meinem Werk versucht, mich damit auseinanderzusetzen und das zu verstehen. Denn jeder, der glaubt, er habe sein Leben, sein Schicksal wirklich absolut im Griff, ist schlichtweg verrückt. So jemand gehört ins Irrenhaus. Fragen Sie doch nur einmal Ihre Eltern, wie sie sich kennengelernt haben. Denn eines ist ja klar: Hätten die sich nicht kennengelernt, gäbe es Sie heute nicht. In neun von zehn Fällen bekommt man dann eine völlig unwahrscheinliche Geschichte zu hören: "Ich habe auf den Bus gewartet, aber der Bus hatte Verspätung, und da kam diese attraktive Frau, mit der ich mich unterhalten wollte, also sprach ich sie an ... " Und irgendwann heiraten die und Sie kommen auf die Welt. Wäre der Bus aber pünktlich gekommen, gäbe es Sie heute nicht. So geht häufig im Leben zu.

    Scheck: Ihr Roman "Mann im Dunkel" enthält gewissermaßen drei Bücher in einem: einen Familienroman, einen Kriegsroman und außerdem auch noch einen Filmführer.

    Auster: Zumindest werden darin vier Filme ausführlich behandelt, die mir sehr am Herzen liegen. Ich bin wirklich der Überzeugung, dass jeder davon so gut wie sehr gute Literatur ist. Das ist selten. Was diese vier Filme miteinander verbindet, ist in meinen Augen eine Art Humanismus. Diese Filme beziehen die gleiche Stellung zum Leben wie die bedeutendsten Romanciers. Unter Humanismus verstehe ich den Respekt vor dem Individuum, das Interesse am Leben und am Innenleben sogenannter gewöhnlicher Menschen, dass man diese Menschen mit Würde darstellt, ihr Leben im Film ohne Manipulation, ohne Beschleunigung oder hektischem Schnitt sich entfalten lässt, dass man einfach menschliches Leben auf die Leinwand bringt. Und das gelingt nur den ganz großen Regisseuren und Filmemachern.

    Scheck: Da Sie so wie Stephen King in der seltenen Lage sind, auch selbst als Regisseur zu arbeiten, muss ich Ihnen natürlich eine Frage dazu stellen. Ihr Held im Roman stellt die These auf, es sei etwas ganz anderes, in ein Buch zu flüchten als in einen Film. Trifft das auch auf den kreativen Prozess, also auf den Urheber des Romans oder des Films zu?

    Auster: Das sind grundverschiedene Erfahrungen. Das einzige, was sie miteinander verbindet, ist dass man in beiden Fällen versucht, eine Geschichte zu erzählen. Aber auf welche Weise man diese Geschichte erzählt, ist völlig verschieden. Ein Drehbuch zu schreiben ist etwas ganz anderes als einen Roman zu schreiben. Ein Romancier schlüpft in die Haut seiner Figuren, er verwandelt sich ihnen an, man lebt in den Köpfen dieser Menschen, man erfährt, was sie erfahren, und nimmt ihre Welt in drei Dimensionen wahr: man riecht, schmeckt, spürt und erinnert, was die Figuren riechen, schmecken, spüren und erinnern. Das ist also ein eigenes Kosmos. Beim Schreiben eines Drehbuchs aber hat man immer das Viereck des Bildausschnitts im Kopf, alles muss sich in diesem Viereck abspielen. Man muss herausfinden, wie man die Menschen und die Gegenstände in diesem Viereck sich bewegen lassen muss, Personen, Autos, Berge, Gebäude, was immer sonst noch im Bild ist. Die einzige Sprache, die man hat, sind die Dialoge. Wie aber eine Figur in meinem Roman schlüssig darlegt, ist das entscheidende an einem Film selten der Dialog sondern in der Regel die Bilder. Es gibt nichts Künstlicheres als ein Filmset. Wenn man den Film sieht, denkt man: das sieht genau aus wie die Wirklichkeit. Aber unmittelbar jenseits des Sets stehen jede Menge Menschen mit Kabeln, Mikrofonen, Scheinwerfern und Kameras. Und was mich dabei am meisten wundert, ist dass Schauspieler unter solchen Bedingungen tatsächlich arbeiten können. Wie konzentriert man sein muss, um all diese Menschen ringsum zu vergessen und tatsächlich zu spielen! Und wir alle wissen ja, wie viele großartige Schauspielerleistungen im Film es gegeben hat.

    Scheck: Die einzigen, die etwas gegen Eskapismus haben, seien die Gefängniswärter, hat Tolkien einmal gesagt. Gibt es in der Literatur auch Gefängniswärter?

    Auster: Die Geschichte der Literatur ist sehr lang, sie reicht Jahrtausende in die Vergangenheit. Der sogenannte Realismus war eine Bewegung, die es ungefähr einhundert Jahre lang in Europa gab. Das Phantastische, das Metaphorische, das Lyrische gehörte schon immer zur Literatur. Denken Sie nur an die Märchen, die ja das Zentrum der Geschichten bilden, mit denen die westliche Welt aufgewachsen ist: Geschichten voller magischer Verwandlungen, traumartiger Ereignisse! Die Literatur auf das Dokumentieren der Gesellschaft zu beschränken, würde sie unglaublich verarmen lassen. Dann könnte man ja genauso gut nur noch Zeitung lesen. Durch den Einsatz des Phantastischen versucht ein Schriftsteller, das, was uns zu Menschen macht, besser zu verstehen. Es ist keine Flucht vor der Wirklichkeit, man nähert sich ihr nur anders an. Denken Sie nur an Shakespeare, den wir Jahrhunderte nach der Entstehung seiner Stücke immer noch lesen. Glauben Sie im Ernst, dass sich die Menschen zu Shakespeares Zeiten in Blankversen miteinander unterhalten haben und lange Monologe hielten? Das ist natürlich reine Erfindung, aber es geht darum, was uns zu Menschen macht.

    Scheck: Der Sekretär der Schwedischen Akademie, Horace Engdahl, machte unlängst Schlagzeilen mit einer Bemerkung über die amerikanische Literatur, die seiner Meinung nach provinziell geworden sei, weil zu wenig übersetzt werde. Die wahre Heimat der Literatur sei deshalb immer noch Europa. Darf ich Sie also in der wahren Heimat der Literatur begrüßen ...

    Auster: Vielen Dank - welch eine Ehre! Ich möchte wirklich nicht vulgär werden, aber mir fällt da nur eine Redewendung ein, die ich erst gestern aufgeschnappt habe, obwohl sie in den USA offenbar öfters gebraucht wird. Es geht um eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen Arschlöchern und Meinungen. Jeder hat welche ...