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Mann im Schatten

Für die einen war er als erster Stadtkommandant im Nachkriegs-Berlin verantwortlich für Plünderungen und Vergewaltigungen der marodierenden sowjetischen Soldaten. Andere sehen in ihm den Wiederaufbauer der Stadt, der sich für die Belange der Berliner einsetzte: Nikolai Bersarin. An seiner Person scheiden sich die Geister, damals wie heute.

Von Godehard Weyerer | 16.06.2005
    Bedingungslose Kapitulation.

    Berlin, fünf Wochen später: Die Straßen sind notdürftig vom Schutt befreit. Nikolai Bersarin, der Berliner Stadtkommandant, biegt auf seinem Motorrad in die Friedrichsfelder Straße ein, als an diesem 16. Juni 1945 ein sowjetischer Militär-LKW seinen Weg kreuzt.

    " Da gab es Gerüchte, er sei Opfer eines NKWD-Anschlages geworden, weil er doch zu beliebt war und zu sehr für die Deutschen ein Stadtkommandant gewesen ist. Auszuschließen ist so etwas auch nicht. "

    Einen Beleg, wonach der sowjetische Geheimdienst NKWD hinter dem Motorradunfall stand, fand Peter Jahn nicht. Jahn ist Direktor des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst:

    " Interessant ist die Existenz eines solchen Gerüchtes, das auch sehr verbreitet in der DDR war; denn es zeigt, dass man ihn als eine Ausnahmeerscheinung ansah, als einen, der nicht so in die Reihe reinpasste. "

    " Das war, was offensichtlich auch bei bürgerlichen Deutschen, die was ganz anderes erwartet hatten, wie auch bei seinen Landsleuten als etwas Bemerkenswertes angesehen wurde. "

    Nikolai Bersarin: ein Glücksfall für die Stadt oder ein Taktierer, der den Berlinern Honig ums Maul schmierte, weil Stalin ganz Deutschland unter sowjetische Kontrolle bringen wollte? 1975 ernannte man ihn in Ost-Berlin, der Hauptstadt der DDR, zum Ehrenbürger; 1992, nach der Wende, wurde ihm die Auszeichnung aberkannt. Irana Rusta war Mitglied der SPD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, Uwe Lehmann-Brauns gehört der CDU-Fraktion an.

    Irana Rusta:

    " Die Studien über Bersarin sind nicht detailliert genug, um eindeutig zu sagen, wer dieser Mann war. Eindeutig ist, dass sein Wirken weit über die Vorgaben des Stalinismus entfernt hatte, eigentlich die Dimension des Bürgerlich-Humanistischen hatte, mit sehr viel Toleranz dem besiegten Volk gegenüber gezeichnet war. "

    Lehmann-Brauns:

    " Da ist es wohl so, dass Bersarin sechs Wochen lang als Stadtkommandant sich völkerrechtlich korrekt verhalten hat, ohne es verhindern zu können, dass massiv vergewaltigt wurde und die ganzen schrecklichen Taten, die vorgekommen sind. "

    Nikolai Bersarin wurde 1904 in St. Petersburg geboren; er hatte vier Geschwister; der Vater, ein Arbeiter, zog sich im Juli 1917 bei bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen streikenden Arbeitern und Soldaten schwere Verletzungen zu; er starb. Bersarin, gerade 14 Jahre alt, musste zum Lebensunterhalt der Familie beitragen und trat – ohne Schulabschluss – in die Rote Armee ein. Eine lupenreine, proletarische Laufbahn. 27 Jahre später, 1945, befehligte er, mittlerweile zum Generaloberst aufgestiegen, die fünfte Stoßarmee; die sowjetischen Truppen, so Museumsdirektor Jahn, waren angehalten, zwischen Nazis und Deutschen zu unterscheiden:

    " Wir wissen, dass es strikte Befehle gab, dass es etliche Fälle gab von der Erschießung vor Ort über Militärtribunale. Wir wissen auch, dass es verdammt wenig half und dass die Truppe ein Gefühl hatte, wir haben ein Recht darauf nach dem, was die bei uns angerichtet haben. "

    Mitte Mai 1945 hatte die sowjetische Armeeführung die Disziplin in der Truppe weitgehend wieder hergestellt, betont Peter Jahn. Das Deutsch-Russische Museum, das er leitet, ist in denselben Räumen untergekommen, die Bersarin 1945 beschlagnahmte und die später als Sitz der sowjetischen Militäradministration dienten. Im Februar 2003 ist Nikolai Bersarin, der erste Stadtkommandant im zerstörten Nachkriegsberlin, zurückgekehrt auf die Ehrenbürgerliste; der Senat folgte damit einer Empfehlung des Berliner Abgeordnetenhauses.