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Manuel Karasek: "Mirabels Entscheidung"
Kapriolenreiche Kulturschocks

Den Protagonisten in Manuel Karaseks "Mirabels Entscheidung“ führt eine Schiffsreise in das Venezuela der 1970er und -80er Jahre und damit in seine eigene Jugend. Karasek, Sohn des verstorbenen Literaturkritikers, erzählt von einem Leben zwischen den Kulturen - und einer Jugend in der Fremdheit.

Von Felix-Emeric Tota | 13.07.2017
    Buchcover Manuel Karasek: Mirabels Entscheidung, im Hintergrund Wohnsiedlung in Venezuela
    Wie erzählt sich die Landesgeschichte und wie liest sich das venezolanische Selbstverständnis? Fragen, denen sich der Roman "Mirabels Entscheidung" kreisend nähert. (Verbrecher Verlag / Deutschlandradio / Anne-Katrin Mellmann)
    Eine Inflation von über 700 Prozent, eine daraus hervorgehende Lebensmittelknappheit, eine drohende Diktatur, Massenproteste, Unruhen – kurz vor dem Bürgerkrieg – und ein Parlament, das nur noch auf dem Papier existiert: So sieht die Lage derzeit im fernen Venezuela aus. Die Nachrichten erzählen vom Ausnahmezustand. Und Venezuela steht plötzlich im Fokus des europäischen Blicks. Vom alltäglichen Leben eben dort werden wir dennoch kaum etwas wissen.
    Wie sieht der typische Sonntagabend einer venezolanischen Familie aus? In welchen Farben sind die Häuserfassaden gestrichen? Wie klingt der Straßenlärm an einer Kreuzung in Caracas? Wovon fühlen sich Venezolaner unterhalten? Wie erzählt sich die Landesgeschichte und wie liest sich das venezolanische Selbstverständnis?
    Diesen Fragen nähert sich Manuel Karasek kreisend in seinem Debütroman "Mirabels Entscheidung". Dort erzählt er die Geschichte einer deutsch-venezolanischen Familie, die sich in den 60er bis 80er-Jahren zwischen diesen beiden Ländern und ihren Lebensgefühlen bewegt. Im Hintergrund sind nicht nur deutsch-graue und venezolanisch-bunte Landschaftspanoramen zu sehen, sondern auch die historischen Gegebenheiten des deutschen Wirtschaftswunders auf der einen und des venezolanischen Erdöl-Reichtums auf der anderen Seite.
    Mirabel auf der Suche nach einer glanzvollen Zukunft
    "In der venezolanischen Geschichte hatten die Regierungen aus wechselnden militärischen Cliquen bestanden, ein Erbe der spanischen Kolonialherren, aber auch eine Folge der Befreiungskriege während der napoleonischen Epoche. Simón Bolívar war der Nationalheld und Übervater Venezuelas, für viele war er bedeutender als Jesus. Die Unabhängigkeit zahlreicher lateinamerikanischer Länder hatte Simón Bolívar jedoch mit Waffengewalt erzwungen – und vom düsteren Zauber der Kriege und Gewalttaten kamen diese jungen Länder schließlich nicht mehr los: Sie blieben Diktaturen. Hinzu kam: Das dünn besiedelte Land war seit jeher ein Verbund von Machos mit katholischen Überzeugungen und einem ländlich geprägten Weltbild. In dieser Nation waren Frauen, wenn sie nicht aus begüterten Verhältnissen stammten, entweder Huren oder Ehefrauen." (Zitat aus dem Roman)
    Eine dieser Frauen ist die titelgebende Mirabel Mendoza. Anders als ihre Schwestern bleibt Mirabel unverheiratet. Sie zieht 1958 nach Deutschland, um nach einem stattlichen Ehegatten und einer glanzvollen Zukunft Ausschau zu halten:
    "Im Propellerflugzeug der Lufthansa saß im März 1958 ein hübsches Mädchen, das eine kurze, aber durchaus glanzvolle Karriere als Schönheitskönigin und Fernsehstarlet hinter sich hatte und einen gewaltigen Titel nach Europa schleppte: Sie war in Caracas zur Miss Amazonas gekürt worden. So kam eine Schönheitskönigin in das graue und puristische Nachkriegsdeutschland."
    Dass Mirabel im unterkühlt-verschnupften Deutschland die Worte fehlen, liegt zum einen am handfesten Kulturschock und zum anderen an ihren mangelnden Sprachkenntnissen.
    Während eines Deutschkurses begegnet sie Hanns Torzek. Er wird ihr Deutschlehrer, ihre Affäre, ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder und damit ihr Gegengewicht in dieser interkulturellen Familienkonstellation – die einem realen Vorbild nachempfunden ist, nämlich Manuel Karaseks Eltern: Marvela Ines Mejina-Perez und genau dem Karasek, den man vermutet – den 2015 verstorbenen Literaturkritiker Hellmuth Karasek.
    Der Sohn literarisiert und erarbeitet in gewisser Weise seine eigene Geschichte, seine eigene Position zwischen Europa und Südamerika. Als Javier Torzek wird ihn seine Mutter später, als die Ehe gescheitert ist, nach Venezuela mitnehmen.
    Typische Variante gemischtkultureller Familienkonstellationen
    "Mirabels Entscheidung" zeigt eine typische Variante gemischtkultureller Familienkonstellationen und die daraus resultierenden Zugkräfte. Dies fußt in einem von zwei Kulturräumen geprägten Erzähler und einer Erzählsprache, der das Spielerische der Bilingualität anzumerken ist.
    Bezeichnend für diese Romane und prägnant für "Mirabels Entscheidung" ist das Leitmotiv der gefühlten Fremdheit und eine Erzählposition aus dem "Dazwischen".
    Die Eigenheiten und die Kluft zwischen Deutschland und Venezuela werden meist mittels Beobachtungen und Inneneinsichten Javiers erzählt. Dabei lässt Manuel Karasek sein Alter Ego nur als Randfigur auftauchen, die stets um Mirabel, der eigentlichen Protagonistin kreist:
    "Javier konnte sich bei seiner extravaganten Mutter bedanken. Zwei volle Monate befreite ihn Mirabel, die künstlerische Leiterin seines Lebens, vom Schuldienst. Der Sohn wurde von der dringlichen Pflicht, ein Mitglied der westdeutschen Nachkriegs- und Wohlstandsgesellschaft zu werden, entbunden. Kein Radeln in winterlicher Herrgottsfrühe zum Schulgebäude, keine Mathematik für das vor Müdigkeit knirschende Hirn. Stattdessen spendierte ihm der mütterliche Kumpel eine Abenteuerreise auf einem venezolanischen Frachter. Javier hatte sich in seinem Hamburger Vorort in fünf Schuljahren ein zuverlässig funktionierendes Netzwerk aus sympathischen Freunden geschaffen. Die venezolanische Diva, welche die Aufsichtspflicht über ihn hatte, riss ihn aus seinem gewohnten Umfeld und schenkte ihm einen Trip, der Ähnlichkeit hatte mit einem Tim-und-Struppi-Comic." (Zitat aus dem Roman)
    Der Roman ist deutlich biographisch geprägt. Dennoch müssen Autor und Werk differenziert voneinander betrachtet werden. Natürlich lassen sich zwischen Hellmuth Karasek und Hanns Torzek Parallelen feststellen, und natürlich macht Javier den Anschein, als sei er Manuel Karasek als Kippfigur. Doch das Biographische dient in "Mirabels Entscheidung" nur als Grundgerüst. Es ist literarisiert worden, chiffriert, um die Ecke gedacht und einen Schritt weitergedreht. So taucht auch die Sozialperipherie der Karaseks unter Decknamen auf. Hellmuth Karasek hat beispielsweise für Rudolf Augstein und den "Spiegel" gearbeitet. Sein Alter Ego Hanns Torzek arbeitet für "Rainer Fels" und "Das Magazin".
    Den ehemaligen "Spiegel"-Herausgeber Rudolf Augstein als "Rainer Fels" auftreten zu lassen, kommt wie ein müder Scherz daher, doch die Benennung seiner Zeitschrift in "Das Magazin" ist eine eindeutige Referenz auf Hellmuth Karaseks satirischen Schlüsselroman "Das Magazin" aus dem Jahr 1998, dessen Inspiration die 22 Jahre lange Anstellung Karaseks beim "Spiegel" war.
    In seinem Debüt war es aber nicht Manuel Karaseks Hauptambition, einen Enthüllungsroman oder eine Autobiographie zu schreiben, die seinen Vater als öffentliche Person instrumentalisiert. Vielmehr ist diese Veröffentlichung ein Versuch, das Verständnis einer Zeit zu vermitteln und das Transit-Gefühl zwischen zwei Ländern literarisch zu entwickeln. Die Fremdheit ist in Javiers Leben in Venezuela sowie überhaupt im Roman stimmungsfärbend. Sie zieht sich vom Großen – den Kulturen – bis ins Kleine – der Familienkonstellation – durch. Fremd sind sich nicht nur das südamerikanische Temperament und die preußischen Tugenden, sondern auch Mutter und Vater, Vater und Sohn und alle anderen Beteiligten.
    Zwischen Geschichtsbuch-Ton und großer Figurennähe
    Diese Fremdheiten arbeitet Karasek heraus, indem er oft aus einer sehr distanzierten Erzählerposition heraus beschreibt und häufig ganze Jahre gerafft zusammenfasst, während er zwischen Deutschland und Venezuela hin und her springt. Stilistisch hat dies zur Folge, dass sich gewisse Passagen wie aus einem Geschichtsbuch lesen. Andere Stellen – beispielsweise, wenn die familiären Mechanismen der Mendozas beschrieben werden – erzählt Karasek sehr raumeinnehmend, fein und nah an seinen Figuren.
    Es ist bemerkenswert, dass Manuel Karasek es trotz seines enormen Erzähltempos schafft, einerseits seine Figuren mit Tiefe und Form auszustatten und andererseits Venezuela als Land zu erfassen – im Allgemeinen sowie im Speziellen. Allein schon für das venezolanische Familiengefühl findet Karasek großartige Bilder, wenn er beispielsweise Mirabels Vater nachdenken lässt:
    "Seine vielköpfige Familie erinnerte Jorge Mendoza an die mehrstimmige Musik Johann Sebastian Bachs. Ein stolzer Vergleich. Doch Mendoza sah in der Musik Bachs nicht das Regelwerk einer himmlischen Ordnung, sondern ein fiktionales System, das sich spiegelverkehrt zum Chaos der Welt verhielt: hier die schöne Musik mit ihren komplizierten, aber überschaubaren Regeln, dort die Welt mit der rätselhaften Existenz, in der die Menschen keinen Halt fanden und sich verloren. Eines Abends saß er in seinem Schaukelstuhl, in seinem Kopf drehten sich die üblichen Alltäglichkeiten – wie fand er den Reis? Roch sein langsam vor sich hin faulender Körper wieder leicht nach Scheiße? –, da überfiel ihn der Gedanke, dass er mit den vielen Kindern, die er gezeugt hatte, so etwas wie eine Fuge komponiert hatte." (Zitat aus dem Roman)
    Sprachlich mäandernd zwischen kühler Erzählung und kapriolenreicher, kunstvoller Sprache ist der Roman ein gelungener Gegenschnitt zweier Lebensrealitäten. Mit einem scharfen Blick und Beobachtungssinn folgt der Text den Figuren in eine vergangene Zeit und zwei weitentfernte Gesellschaften, die uns so fremd sind wie die Protagonisten sich untereinander.
    Manuel Karasek: Mirabels Entscheidung, Verbrecher Verlag, Berlin 2017, 248 Seiten, 24,00 Euro