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Manuskript: Allerbeste Freunde

Allein im menschlichen Darm tummeln sich mehr als 1000 unterschiedliche Bakterienarten. Das Gesamtgewicht der Besiedler wird auf 1,5 Kilo geschätzt, pro Gramm sind es bis zu eine Billion Keime. Obwohl die Mikroben im menschlichen Körper damit zahlenmäßig in der Übermacht sind, hat die Medizin die Bedeutung dieses Mikrokosmos lange Zeit unterschätzt. Moderne Sequenziermethoden und Versuche mit keimfreien Tieren zeichnen nun ein immer deutlicheres Bild: Bakterien steuern eine ganze Reihe chemischer Prozesse im Körper, die Fernwirkung ihrer Stoffwechselprodukte erreicht sogar das Gehirn. Gerät die Mikrobengemeinschaft aus dem Gleichgewicht, können uns die winzigen Besiedler sogar ersthaft krank machen.

Von Christine Westerhaus | 21.10.2012
    "Wir sind jetzt in dem Maushaus und das ist der sauberste Bereich, den wir hier haben."

    Wer Felix Sommers Mäuse besuchen möchte, muss sich erst einmal bis auf die Unterwäsche ausziehen. In einem Umkleideraum wird die gesamte Kleidung gegen einen Schlafanzug-ähnlichen Labordress getauscht. Dann geht es unter die Dusche: In einer engen Kabine wird der ganze Körper mit Luft abgebürstet, mit Hochdruck wird sie aus kleinen Düsen gepustet. Fussel, ausgefallene Haare, Hautpartikel verschwinden im Luftwirbel. Selbst das Futter für die Mäuse muss behandelt werden. Die Forscher stecken es in einen Autoklaven und erhitzen es auf etwa 120 Grad Celsius. Auf dem Weg kommt der Besucher an dem Metall-Ungetüm vorbei.

    "Das ist der [Autoklav]. Der ist auch begehbar, damit genug Platz da ist. Weil alles, was wir zu den keimfreien Tieren geben, darf logischerweise keine lebenden Bakterien beinhalten. Alles, was in diese Isolatoren reinkommt, wird entweder autoklaviert oder andersartig bearbeitet, damit da keine Bakterien mehr lebend drin sind. Das macht das ganze auch sehr teuer. Eine Maus kostet schon ein paar 1000 Euro."

    Das Wallenberg Laboratorium in Göteborg. Hier verbringen die "1000-Euro Mäuse" ihr Leben. Keimfrei. Und hinter verschlossenen Türen. Eine ungewöhnliche Art von Leben, denn in der Natur sind Mikroben allgegenwärtig. Felix Sommer:

    "Jedes Wirbeltier, jedes Säugetier hat etwa 1000 unterschiedliche Bakterienspezies im Darm. Und rein von der Zellmenge sind es zehn Mal mehr Zellen, als wir selber in unserem ganzen Körper haben. Das heißt im Prinzip sind wir eigentlich nur 10 Prozent – in Zellen - Mensch."

    Genau das macht die keimfreien Mäuse so interessant. Der Mikrobiologe Fredrik Bäckhed hat die Zucht aufgebaut, um den Einfluss der Bakterien auf den menschlichen Organismus zu ergründen. Dass Mikroben beim Verdauen behilflich sind, ist lange bekannt. In den vergangenen Jahren haben Bäckhed und seine Kollegen nun eine ganze Reihe weiterer interessanter Zusammenhänge aufgedeckt.

    "Wir sehen mehr und mehr, dass die Darmflora einen großen Einfluss auf unsere Gesundheit hat. Wir haben zum Beispiel als erste Forschergruppe zeigen können, dass keimfreie Mäuse nicht fettleibig werden und dass sie weniger Körperfett aufbauen als kolonisierte Tiere. Außerdem ist die Darmflora von adipösen Mäusen verändert. Andere Forscher haben das weiter verfolgt und den Effekt auch bei fettleibigen Menschen gesehen."

    Offenbar steuern die Substanzen, die unsere Untermieter absondern, eine ganze Reihe chemischer Prozesse. Bäckheds Team untersucht derzeit, ob die Darmflora die Knochendichte beeinflusst und ob dort nach einem Herzinfarkt Verschiebungen stattfinden. Auch Leiden wie Arteriosklerose und Diabetes geraten mehr und mehr in den Fokus:

    "Man kann sich sogar vorstellen, dass es mit dem Alter Veränderungen gibt. Es heißt, dass die Darmflora instabiler wird. Es könnte also sein, dass wir bei Menschen, die an Alzheimer oder an anderen altersbedingten Leiden erkranken, Unterschiede in der Zusammensetzung der Darmflora finden."

    Die Bakterien haben nicht nur zusammen genommen mehr Gene – sie wiegen auch deutlich mehr als ein menschliches Organ. Ihr Gewicht wird auf 1,5 Kilogramm geschätzt, bis zu eine Billion Bakterien pro Gramm. Die Bakterienflora sollte deshalb als eigenes Organ angesehen werden, meint Fredrik Bäckhed. - Als Organ, das man vielleicht sogar austauschen könnte:

    "Die Darmflora beeinflusst Hormon produzierende Zellen. Man kann sich daher gut vorstellen, dass sich mit der Darmflora auch die Konzentration des Hormons Insulin ändert. Eine Studie hat nun gezeigt, dass fettleibige Menschen empfindlicher auf Insulin reagieren, wenn man ihnen die Darmflora eines Normalgewichtigen transplantiert. - Bevor wir solche mikrobiellen Behandlungen machen können, müssen wir allerdings noch sehr viel mehr über die Rolle einzelner Bakterien lernen."

    Allein im Darm tummeln sich mehr als 1000 verschiedene Bakterienarten. Dieses unübersichtliche Gewimmel gilt es zu sortieren. Viele Mikroben lassen sich im Labor nicht züchten. Die Forscher können sie nur indirekt nachweisen, indem sie ihr genetisches Profil erstellen. Was diese Bakterien im Körper anstellen, wissen sie damit noch lange nicht.

    Felix Sommer öffnet die Tür zum Isolatorraum mit seiner persönlichen Chipkarte: Ein halliger, schmuckloser Raum. An einer Wand stehen durchsichtige Container, die "Wohnblöcke" der Mäuse. Darin aufgereiht die Appartements: kleine Plastik-Käfige, in denen graue Mäuse umherlaufen. Fünf Tiere pro Einheit. Felix Sommers Kollege Mattias Bergentall bereitet gerade einen Versuch für seine Doktorarbeit vor. Über schlauchartige Ausstülpungen greift er in einen der Plastikbehälter. Sie baumeln wie zwei lange Nasen an der Seite .

    "Das sind diese Plastikbehältnisse, die durchsichtig sind, damit man sieht, was da drin geschieht. In diesem Isolator ist alles steril. Das bedeutet, dass der Isolator auf der einen Seite mit Handschuhen ausgestattet ist, so dass man dann, wie das Mattias jetzt das hier macht, mit diesen dicken Handschuhen innerhalb des Käfigs oder innerhalb dieses Isolators manipulieren kann, was man eben möchte."

    Bergentall entriegelt die Käfigtür, greift nach einer Maus und setzt sie umständlich in eine kreisrunde Schleuse.

    "Man muss auch vorsichtig sein. Wenn sie beißen, ist der Versuch am Ende."

    Über ein Loch im Handschuh würden sofort Keime in den Isolator gelangen. Die Versuche wären vereitelt. Bergentall:

    "Zur Zeit untersuche ich, ob sich die Permeabilität im Dünndarm von keimfreien Mäusen unterscheidet von Mäusen mit Keimen."

    Bergentall will herausfinden, welche Bakterien die Darmwand verändern. Es geht um das Verständnis von Morbus Crohn, einer chronischen Darmentzündung, die Ärzte noch immer nicht heilen können. Bergentall:

    "Und bis jetzt sieht es ganz so aus, dass irgendwas passiert da. Und jetzt versuchen wir rauszufinden, wieso und wie es funktioniert."

    Direkt neben dem Container, aus dem Bergentall gerade seine keimfreie Maus geholt hat, steht ein weiteres Plastikzelt. Auch darin: Graue Mäuse, die aufgeregt hin und her laufen. Im Gegensatz zu ihren Artgenossen im Nachbarzelt sind sie aber nicht mehr völlig keimfrei: Sie wurden mit einem einzigen Bakterienstamm beimpft. Während Bergentall die Schleuse mit einem Akkuschrauber abdichtet, erklärt Felix Sommer den Sinn der Prozedur

    "Im Idealfall - so planen wir natürlich immer die Experimente, dass man ein Bakterium findet, welches einen gewissen Effekt hervorruft. Leider stellt sich dabei dann heraus, dass es meist nie ein einzelnes Bakterium ist, sondern eher das Zusammenspiel von einem ganzen Konsortium von Bakterien. Also eine bestimmte Komposition der Flora, die wir im Darm haben, die dann einen bestimmten Effekt auf den Wirt ausübt wie beispielsweise ein erhöhtes Risiko für Diabetes oder etwaige andere Krankheiten."

    Bergentall: "Und das kann man sich auch leicht vorstellen, weil die Flora besteht ja aus über 1000 unterschiedlichen Bakterienarten und die machen da alles mögliche."

    Immer deutlicher zeichnet sich ab: Die Mikroben wirken längst nicht nur im Darm. Ihre Stoffwechselprodukte beeinflussen Knochen, Lunge, Herz – und sogar das Gehirn.

    Das Karolinska Institut in Stockholm. Hier hat Sven Pettersson den Mut von Mäusen auf die Probe gestellt. In einer Arena schickte er die Nager auf einen schmalen Weg, der etwa einen Meter über dem Boden verlief. Eine Seite der Teststrecke war durch eine Wand geschützt, auf der anderen Seite bestand akute Absturzgefahr. Auf diesem unbekannten Terrain mussten sich die Tiere orientieren. Auch Pettersson züchtet keimfreie Mäuse. Sie traten den Wettstreit an gegen kolonisierte Artgenossen:

    "Wir haben gesehen, dass die keimfrei aufgewachsenen Tiere viel unruhiger waren, als die kolonisierten Tiere. In unseren Verhaltenstests benahmen sie sich auch viel risikofreudiger, sie wagten mehr. Dieses Verhalten änderte sich auch nicht, als wir die keimfrei aufgewachsenen Tiere mit Bakterien in Kontakt brachten."

    In einem Internetvideo, das das Fachmagazin PNAS auf seiner Homepage veröffentlichte, lässt sich das waghalsige Verhalten der Mäuse eindrücklich beobachten: Die keimfrei aufgewachsenen Tiere liefen ohne Zögern bis zum Ende der ungesicherten Rampe, drehten sich dann um und liefen wieder zurück. Ihre verkeimten Artgenossen waren vorsichtiger: Sie schnupperten, wagten sich nur wenige Schritte nach vorn, schauten kurz den Abgrund hinunter und zogen sich schnell wieder auf den geschützten Weg zurück. Pettersson:

    "Eines der wichtigsten Ergebnisse unserer Studie war, dass wir dieses Verhalten nicht umkehren können. Behandeln wir keimfrei gehaltene Tiere als Erwachsene mit Bakterien, benehmen sie sich genauso. Das bedeutet, dass es sehr früh in der Entwicklung eine Phase geben muss, in der Hormone und andere Stoffwechselprodukte der Bakterien die Hirnentwicklung beeinflussen. Vermutlich passiert das schon im Mutterleib."

    Ob das auch für den Menschen gilt, ist noch nicht geklärt. Überhaupt hat diese Studie mehr Fragen aufgeworfen, als sie beantwortet. Zum Beispiel, in welcher Entwicklungsphase der Kontakt zu Bakterien wichtig ist. Oder was die Stoffwechselprodukte der Darmkeime im Gehirn eigentlich anstellen. Immerhin hat Sven Pettersson einige Ideen parat.

    "Den Mechanismus kennen wir nicht, doch wir haben ein paar indirekte Zusammenhänge entdeckt. Zum Beispiel konnten wir nachweisen, dass Bakterien in bestimmten Teilen des Gehirns Wachstumsfaktoren beeinflussen."

    Offenbar sondern Bakterien Substanzen ab, die bis ins Gehirn gelangen und dort in die Kommunikation eingreifen. Pettersson:

    "Warum die Bakterien das machen und warum sie es nur in bestimmten Regionen des Gehirns tun, wissen wir nicht. Wir haben aber gute Belege dafür gefunden, dass Keime die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke beeinflussen. Offenbar senden sie Signale an das Ungeborene, wenn es an der Zeit ist, diese Barriere zu schließen."

    Die Blut-Hirn Schranke ist eine Art Checkpoint am Eingang des Gehirns. Auf diese Weise schützt der Körper eines seiner wichtigsten Organe vor Krankheitserregern und Giften. Sven Petterssons Ergebnisse deuten nun darauf hin, dass Bakterien diesen Checkpoint beeinflussen. Warum und wie sie das tun, ist noch ungewiss. Sven Pettersson:

    "Wir haben etwa 1,5 Kilogramm Bakterien in unserem Körper. Das sind unglaublich viele. Wir wissen nicht, wie sie miteinander kommunizieren, aber wir vermuten ein paar Dinge. Bakterien sind im Prinzip in der Lage, drei Millionen verschiedene Hormone zu produzieren, die dann in die Blutbahn und ins Gehirn gelangen können. Eine andere Möglichkeit ist, dass sie Signale an die enterochromaffinen Zellen im Darm schicken. Diese Zellen produzieren dann Hormone, die wiederum direkt an die Hirnfunktion gekoppelt sind."

    Auch ohne Bakterien im Darm können Mäuse recht gut überleben. Im Labor werden sie sogar oftmals älter als ihre verkeimten Artgenossen. Dieses Phänomen ist genauso wenig verstanden wie viele andere Aspekte der wechselvollen Beziehung zwischen Mensch und Mikrobe. Noch bis vor wenigen Jahren konnten Wissenschaftler die Zusammensetzung der Darmflora nur in Ansätzen untersuchen. Erst der Siegeszug moderner Sequenziermethoden hat den Blick der Forscher geschärft. Inzwischen versuchen Arbeitsgruppen auf der ganzen Welt, der menschlichen Darmflora ihre Geheimnisse zu entlocken. Fredrik Bäckhed:

    "Als ich vor zehn Jahren anfing, waren wir vielen noch sehr suspekt. Wir hatten Probleme, Forschungsgelder zu bekommen, weil niemand unseren Ergebnissen getraut hat. Inzwischen ist es genau anders herum: Jetzt ist die Darmflora eines der heißesten Forschungsgebiete."

    Davon zeugt eine wahre Flut von Publikationen, die in den letzten Jahren erschienen sind, erzählt Fredrik Bäckhed. Und die meisten Experten sind sich in einem Punkt einig: Bakterien sind nicht nur unsere Gäste – sie sind sogar ein Teil von uns. Bäckhed:

    "Die Sichtweise wandelt sich: Wir fangen an, uns nicht mehr das menschliche und das bakterielle Genom getrennt voneinander anzusehen, sondern beide zusammen. Also das Metagenom. Beide Genome haben einen Einfluss, entscheidend ist das Zusammenspiel zwischen ihnen."

    Auch Sven Pettersson betrachtet die Darmflora als Teil des Organismus. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und argumentiert, dass im Grunde wir ein Teil der Bakterien sind. Der Mensch musste sich im Laufe der Evolution an die Bakterien anpassen. Und nicht umgekehrt.

    "Die Bakterien waren schon vor uns Menschen da. Wir sind also ein Teil der Evolution der Keime, und damit wir als selbstständige Art überleben konnten, mussten wir eine Möglichkeit finden, mit den Bakterien zusammen zu leben. Nach ihren Vorgaben. Man kann den Menschen deshalb auch als Haus für Bakterien sehen."

    Herr in diesem Haus sei aber nicht der Mensch, sagt Sven Pettersson. Im Laufe der Evolution hätten sich die Bakterien in unserem Körper ein Milieu geschaffen, in dem sie sich wohl fühlten und vor Hunger geschützt waren. Pettersson:

    "Wenn man es aus dieser Perspektive angeht, kann man sehen: Wir sind nützlich für die Bakterien und haben unsererseits dankbar ihre Dienste in Anspruch genommen."

    Petterssons Team hat tatsächlich konkrete Hinweise dafür gefunden, dass Bakterien die Temperatur regulieren: Offenbar beeinflussen ihre Stoffwechselprodukte das braune Fettgewebe. Die Zellen dieses Gewebes können Nahrung direkt in Wärme umsetzen, ohne dabei Energie zu produzieren. Bei plötzlicher Kälte zapft der Körper diese Reserve an und verhindert dadurch, dass er auskühlt. Als gleichwarme Lebewesen sind Säugetiere darauf angewiesen, dass die Temperatur relativ konstant bleibt. Sinkt sie unter einen bestimmten Wert, wird vor allem das Gehirn geschädigt.

    "Bakterien sichern die Temperatur und die Energieversorgung in ihrem Haus. Damit waren in der Evolution zwei wichtige Voraussetzungen erfüllt, dass wir uns Organe leisten konnten, die so viel Energie verbrauchen wie der Magen-Darm-Trakt oder das Gehirn. Ohne Energiespeicher und konstante Körpertemperatur hätte das nicht funktioniert. Das ist eine Erklärung, warum der Mensch ein so gut entwickeltes Gehirn hat."

    Doch wie würde Leben aussehen, wenn wir uns niemals mit den Keimen eingelassen hätten? Eine müßige Frage, meint Matthias Hornef von der Medizinischen Hochschule in Hannover, der als Professor am Institut für Mikrobiologie und Krankenhaushygiene arbeitet.

    "Ich meine, im Prinzip ist es evolutionär ja vorgegeben. Die Bakterien waren zuerst da, evolutionär sind die ja viel viel älter. Das heißt alle mehrzelligen Organismen und letztendlich auch der Mensch sind entstanden unter der permanenten Anwesenheit von Bakterien. Für den Wirt gab es nie die Option, keimfrei aufzuwachsen, wie diese Mäuse in diesen speziellen Containern. Insofern ist immer eine Auseinandersetzung in der Entwicklung zwischen dem mehrzelligen Wirt und den einzelligen Viren, Bakterien, oder Protozoen, die zum allergrößten Teil nicht pathogen sind, also die im Prinzip den Wirt nicht angreifen. Und einer Minderzahl von Bakterien, die professionelle Pathogene geworden sind."

    Alles in allem profitiert der Organismus von der ungleichen Beziehung. Doch er muss auch lernen, sich von den Bakterien abzugrenzen. Im Darm ist das Darmepithel, die Darmwand dafür verantwortlich. Seine Zellen bilden die Grenze zwischen Mensch und Mikrobe. Diese Barriere gilt es zu verstehen.

    Im Göteborger Labor für medizinische Chemie ist unterdessen eine Stunde vergangen. Mattias Bergentall will sich das Darmepithel der Maus anschauen, die er vorhin aus ihrem keimfreien Gefängnis geholt hat. Noch im Maushaus hat er den Darm aus dem Tier herauspräpariert. Nun schneidet er das längliche, regenwurmartige Gebilde in kleine Rechtecke. Mit zwei Pinzetten spannt er die winzigen Darmstücke auf kleine Nägel in die Mitte eines zweigeteilten Plexiglaskastens.

    "Was ich jetzt mache, das ist, ein Stück Darm in die Ussing chamber montieren. So dass wir eine kleine Öffnung haben, wo das Darmepithel in Kontakt steht mit den Flüssigkeiten. Und das wird dann zusammengesetzt, so dass wir eine Seite mit Epithel und eine Seite - quasi die Außenseite des Darms - in unterschiedlichen Kammern haben. Das wird dann eingesteckt in das Gerät und das Gas wird angeschlossen."

    Über lange Schläuche füllt Bergentall eine farblose Flüssigkeit in die beiden Kammern. In die eine Kammer pipettiert er zusätzlich Zuckermoleküle. Sie sind mit fluoreszierenden Farbstoffen markiert. Durch Diffusion wandern sie durch das Darmepithel, das zwischen die beiden Kammern eingespannt ist. Je mehr Moleküle durchkommen, desto intensiver leuchtet die Flüssigkeit in der gegenüber liegenden Kammer.

    "Ja, und das blubbert dann fast zwei Stunden allein vor sich hin."

    Bergentalls Detektivarbeit in Sachen Morbus Crohn läuft noch. Über Monate hinweg hat er etliche Mäuse mit unterschiedlichen Bakterien geimpft und noch immer nicht verstanden, welche Mikroben die Darmwand porös machen und den Weg frei machen für ihre schädlichen Artgenossen.

    Schon kurz nach der Geburt muss sich das Neugeborene mit einer Flut von Keimen auseinandersetzen. Darunter nützliche und schädliche. Der Körper muss den guten Mikroben Zutritt verschaffen, andererseits krank machenden den Zutritt verwehren. Mathias Hornef konnte zeigen, dass neugeborene Mäuse einen riskanten Weg wählen: Sie heißen Freund und Feind gleichermaßen willkommen.

    "Wenn wir die Zellen vor der Geburt angucken, sehen wir, dass die Zellen in der Lage sind, zum Beispiel das Endotoxin, also den äußeren Zellwandbestandteil aller Gram-negativen Bakterien zu sehen und darauf zu reagieren. Interessanterweise wird diese Eigenschaft verloren, nur wenige Stunden nach Geburt."

    Gerade geboren werden die Mäuse blind für Mikroben jeglicher Art und bleiben es zwei Wochen lang. Zwei Wochen lassen sie Einwanderer unbehelligt. Dann erst kehrt die Fähigkeit des Immunsystems zurück, Bakterien anhand von Oberflächenmerkmale zu erkennen. Hornef:

    "Wir interpretieren das so, dass tatsächlich nach der Geburt der Wirt ein Problem hat. Weil er nicht weiß, welche Bakterien kommen. Und die Taktik, die er da gewählt hat ist im Prinzip, dass er erstmal sein angeborenes Immunsystem zurück fährt."

    Schon unter der Geburt werden wichtige Weichen für die spätere Bakteriengemeinschaft im Körper gestellt. Es scheint einen Mechanismus zu geben, mit dem Mütter ihren Babys eine Gründerpopulation an Bakterien mitgeben. Matthias Hornef:

    "Das beste Beispiel dazu ist der Unterschied zwischen Kindern die per Kaiserschnitt oder per vaginaler Geburt geboren wurden. Im ersten Fall sieht die Darmflora der Neugeborenen mehr aus wie die mütterliche Hautflora, im zweiten Fall sieht die Darmflora mehr aus wie die mütterliche Vaginalflora. Also die initiale Besiedlung geschieht durch die Bakterien, mit denen das Neugeborene exponiert ist."

    In der Vaginalflora tummeln sich vor allem Milchsäurebakterien. Sie produzieren Milchsäure und andere Stoffwechselprodukte, die Krankheitserreger fernhalten. Unter der Geburt hüllen Mütter ihre Babys also in eine Art Säureschutzmantel. Gleichzeitig haben US-amerikanische Forscher nachgewiesen, dass per Kaiserschnitt geborene Kinder häufiger an Asthma erkranken als auf natürlichem Weg geborene. Auch Verdauungsprobleme kommen bei ihnen häufiger vor. Ob dafür tatsächlich Bakterien verantwortlich sind, die per Kaiserschnitt geborenen Babys fehlen, ist noch unklar. Ebenso wenig wissen die Forscher, ob die bei der Geburt übertragenen "Pionier-Keime" den Weg bereiten für die Zusammensetzung der späteren Darmflora. Hornef:

    "Gleichwohl denke ich, dass die Forschung in den letzten Jahren und vor allem auch in den nächsten Jahren uns ein besseres Wissen verschaffen wird über die Konsequenzen. Also was wir eigentlich tun, wenn wir Antibiotika geben zum Beispiel. Aber auch, wenn wir uns so ernähren oder so ernähren, wenn wir per Kaiserschnitt oder vaginal entbunden werden - was die Konsequenzen genau sind und welche Bakterien vielleicht präferentiell kolonisieren oder nicht so gut oder nicht so dicht oder zahlenmäßig vermindert und was das für Konsequenzen einer Empfindlichkeit gegenüber Erkrankungen haben kann."

    Umgekehrt verbirgt sich dahinter auch die Frage, ob nützliche Bakterien bei bestimmten Krankheiten helfen könnten. In Einzelfällen hat das tatsächlich funktioniert. Patienten mit heftigen Durchfallerkrankungen ging es besser, nachdem Ärzte sie mit den Fäkalien eines Gesunden behandelt hatten. Auch gegen Typ-II-Diabetes scheinen Bakterien etwas ausrichten zu können: Als Mediziner aus den Niederlanden einem Diabetiker die Darmflora eines schlanken gesunden Menschen transplantierten, verbesserte sich die Insulinempfindlichkeit seiner Zellen. Noch sieht Fredrik Bäckhed solche Transplantationsexperimente kritisch.

    "Diese Art der Behandlung wird momentan sehr heiß diskutiert. Natürlich hat das einen Effekt, aber gleichzeitig wissen wir nicht genau, was wir tun. Wir übertragen die Darmflora einer anderen Person – zwar mit guten Bakterien, aber gleichzeitig vielleicht auch mit Krankheitserregern. Deswegen denke ich: Natürlich, bei tödlichen Krankheiten könnte man so eine Methode zulassen, aber bei eher kosmetischen Krankheiten wie Fettleibigkeit ist es ethisch nicht vertretbar, so ein Risiko zu übertragen."

    Auch Sven Pettersson ist skeptisch. Er fragt sich vor allem, ob es Betroffene nicht als Zumutung empfinden, mit Bakterien aus dem Kot fremder Menschen zu leben.

    "Kot in sich hinein zu stopfen ist immerhin nicht gerade das, was einem als erstes in den Sinn kommt. Aber wenn sich die Ergebnisse reproduzieren lassen wird diese Behandlungsmethode auf jeden Fall kommen."

    Bakterien als Heilversprechen – auf den ersten Blick klingt das paradox. Jahrzehntelang setzten Ärzte alles daran, Keime loszuwerden. Hygiene galt als sicherster Schutz vor Krankheiten, auch bei harmlosen Infektionen verabreichten Mediziner Antibiotika. Doch der leichtfertige Gebrauch dieser Medikamente könnte langfristig auch die Vielfalt im menschlichen Darm gefährden, weil sie unspezifisch wirken und auch nützliche Keime töten. Sven Pettersson plädiert für einen behutsameren Umgang mit den winzigen Komplizen.

    "Meine Hoffnung ist, dass wir in ein paar Jahren ein besseres Verständnis und vor allem einen größeren Respekt vor dieser fantastischen mikrobiellen Landschaft haben. Und dass wir einsehen, was die Bakterien für uns Lebewesen auf der Erde tun. Wenn wir dahin kommen, haben wir viel erreicht."