Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Manuskript: Am Puls der Arktis

Die Arktis gilt als wichtiges Frühwarnsystem für den Klimawandel: In den vergangenen 50 Jahren sind die Temperaturen dort doppelt so stark gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt.Mit dem größten deutschen Forschungsschiff Polarstern können Wissenschaftler in Regionen vordringen, die sonst kaum zugänglich sind. In der Framstraße, zwischen Spitzbergen und Grönland, fühlen sie der Arktis den Puls: messen Temperatur und Kohlendioxidsättigung, dokumentieren den Zustand des Zooplanktons und halten Ausschau nach Walen.

Eine Reportage von Stefanie Schramm | 30.09.2012
    Die Framstraße, der Seeweg zwischen Spitzbergen und Grönland, weit jenseits des Polarkreises. Jetzt, im Sommer, geht hier die Sonne überhaupt nicht mehr unter. Und Land ist keines in Sicht, nur Wasser und Eis. Die Polarstern, Deutschlands größtes Forschungsschiff, bricht sich ihren Weg durch das Packeis. Ihre Mission: Messgeräte austauschen, die tief auf dem Meeresgrund verankert sind.

    "In der Polarregion zu forschen, ist ziemlich schwierig. Das Problem ist natürlich das Eis. Messgeräte an der Oberfläche würde das Treibeis einfach mitnehmen. Wir können deshalb keine Boje hier haben, die Daten nach Hause schickt. Also müssen wir jedes Jahr herkommen und unsere Instrumente austauschen."


    Die Meeresforscherin Agnieszka Beszczynska vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven leitet die Expedition. Einen Monat lang sind die Wissenschaftler auf dem Eisbrecher unterwegs. In der Tiefe des Meeres suchen sie nach Antworten auf ihre Fragen. Beszczynska:

    "Wieviel Wasser strömt in die Arktis, wieviel hinaus? Und wie warm ist das Wasser?"

    Und, vor allem: Wie wirkt sich der Klimawandel aus? Um das genau zu beobachten, haben die Forscher eine ganze Kette von Messgeräten im Meer versenkt, einmal quer über die Framstraße. Hier, auf 78°50' Nord, fühlen sie der Arktis den Puls.

    "Der Ozean hat eine wesentliche Rolle im Klimasystem einfach durch die Tatsache, dass er sehr viel Wärme speichern kann."

    Uwe Mikolajewicz sitzt in seinem Büro im Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg. Wie die Meere unser Klima beeinflussen, das ist sein Thema:

    "Als einfaches Beispiel sieht man es daran, dass das Klima am Meer deutlich weniger Variabilität zeigt als im Inneren. Wenn Sie den Jahresgang vergleichen von Gebieten wie Deutschland und Moskau, die fast auf derselben Breite liegen, aber doch wesentlich kältere Winter in Moskau haben."

    Der Ozean bedeckt zwei Drittel der Erdoberfläche: eine gigantische Wassermasse, ein ganzer Kosmos aus Strömungen, Wirbeln, Mäandern. Und ein entscheidender Mitspieler im Klimageschehen. Mikolajewicz:

    "Der Ozean hat eine durchschnittliche Tiefe von 4000 Metern, die natürlich viel mehr Wärme speichern kann und demzufolge dem gesamten Klimasystem eine gewisse Trägheit verleiht. Das heißt, das System kriegt ein Gedächtnis."

    Der Puls der Weltmeere geht langsam. Und er hallt lange nach. Kleine Veränderungen summieren sich und können noch in Jahrzehnten Folgen haben – nicht nur für die Ozeane, sondern für das Weltklima insgesamt. Lange haben Klimaforscher die Bedeutung der Meere für das Klima unterschätzt. Mikolajewicz:

    "Zum einen weil die Klimaforschung damals hauptsächlich von Meteorologen betrieben worden ist, die den Ozean vielleicht nicht so wichtig genommen haben. Zum anderen ist es wesentlich komplizierter durch den Ozean, weil der Ozean ein langes Memory hat, langes Gedächtnis. Die ganzen Simulationen verkomplizieren sich deutlich, wenn man da einen dynamischen Ozean drin hat."

    Interessant sind für die Klimaforscher vor allem die Polargebiete, sie reagieren besonders schnell auf Veränderungen. In der Arktis sind die Temperaturen in den vergangenen 50 Jahren doppelt so stark gestiegen wie im weltweiten Durchschnitt: Sie ist deshalb ein wichtiges Frühwarnsystem für den Klimawandel. In diesem Jahr steht die Region unter besonderer Beobachtung: Auf der Weltklimakonferenz in Doha muss endlich eine Nachfolgeregelung für das Kyoto-Protokoll gefunden werden, es läuft Ende des Jahres aus. Um so wichtiger ist es, die Folgen des Klimawandels in der empfindlichen Polarregion genau zu beobachten.

    "Dann CTD zur Oberfläche, bitte."
    "CTD ist an der Oberfläche."
    "Gut, dann gehen wir jetzt auf Tiefe. Fieren mit 0,5, bitte."
    "Wir gehen auf Tiefe. Fieren mit 0,5."

    4:15 Uhr in der Früh, Levke Caesar hat gerade ihren Dienst angetreten. Die Studentin arbeitet als Hilfskraft auf der Polarstern. Ihre Aufgabe: Sie überwacht die Messungen mit dem CTD-Gerät. Diese Sonde wird an einem Seil in die Tiefe des Meeres heruntergelassen, sie misst Temperatur und Salzgehalt – wertvolle Informationen über die aktuelle Situation in der Framstraße. Caesar schaut auf ihren Monitor, dort erscheinen die Messwerte als farbige Linien.

    "Gut, dann hieven wir auf 2480 Meter."
    "Stopp."

    Die Sonde wird wieder heraufgeholt.

    "Hieven auf 2000 Meter."
    "Auf 1700 Meter, auf 1500, auf 1200, auf 1000 …"

    Auf dem Weg nach oben lässt Levke Caesar die Sonde immer wieder anhalten, um Wasserproben zu nehmen. Rund um die Messgeräte sind Flaschen montiert, die die Studentin per Mausklick schließen kann. So sammeln sie jeweils Wasser aus einer ganz bestimmten Tiefe ein.

    "Auf 11."
    "Auf 5 Meter."
    "Und CTD an Deck."

    An Deck werden die Proben schon erwartet. Vier Biologen und zwei Chemiker stürzen sich auf die Sonde, um Wasser für ihre Experimente abzuzapfen.

    "Wir messen Spurengase im Wasser, wie zum Beispiel das Schwefelhexafluorid, SF6, oder das Dichlorodifluoromethan, oder kurz F12."

    Tim Stöven ist Chemiker am Geomar in Kiel. In seinem Labor auf der Polarstern hat er eine komplizierte Apparatur aus Drähten, Schläuchen und Schaltern aufgebaut. Das Herz ist ein grauer Kasten, der Gas-Chromatograph. Das Gerät trennt die einzelnen Gase, die im Meerwasser stecken. Stöven füllt die erste Probe ein. Am Computer kann er die Analyse direkt verfolgen, erst einmal ist nur die Basislinie zu sehen.

    "So, jetzt bei ein fünf kommt … genau … jetzt kommt der SF6er, das ist das erste Molekül, was wir detektieren wollen."

    Die Linie auf dem Monitor schlägt kurz aus, dann kehrt sie zur Basis zurück.

    "So, jetzt kommt der 12er, das ist der größte Peak im Chromatogramm."

    Ganze 354 Proben jagt Stöven auf dieser Expedition durch seine Apparatur. Seine Ergebnisse sollen dazu beitragen, eine heiß diskutierte Frage zu klären.

    "Im ersten Schritt fangen wir an, die Konzentration zu bestimmen: Wie ist die gesamte Struktur der Tracer aufgebaut? Im zweiten Schritt fang ich dann an, das Alter zu modellieren. Über das mittlere Alter kann man indirekt bestimmen, wie viel vom Menschen geschaffenen CO2 im Wasser gespeichert wurde."


    Wie viel Kohlendioxid können die Ozeane aufnehmen? Davon wird abhängen, wie drastisch sich das Klima auf der Erde ändert. Heute schlucken die Meere ein Viertel des vom Menschen in die Luft geblasenen CO2. Doch mit dem Tempo, mit dem wir den Ausstoß des Treibhausgases erhöhen, können sie nicht mithalten. Wann werden sie kapitulieren? Das ist einer der tipping points – der heiklen Punkte, an denen das Klimasystem schlagartig kippen könnte.

    Fahrtleiterin Agnieszka Beszczynska kommt gerade von der ersten Einsatzbesprechung im Kinosaal der Polarstern. Sie hockt sich auf das Sofa in ihrem Büro. Die quirlige Forscherin kann kaum still sitzen, ihre Kollegen ziehen sie gern mit ihrer Ungeduld auf.

    "Die wichtigste Veränderung, die wir beobachtet haben, ist, dass das Wasser aus dem Atlantik, das in die Arktis strömt, viel wärmer geworden ist – ein Grad über 15 Jahre. Das erscheint erst mal vielleicht nicht so viel, aber wenn man überlegt, wie viel Wärme das Wasser transportiert, ist das eine riesige Menge."

    Und diese Wärmemenge könnte auch Einfluss auf die Eisbedeckung haben: In diesem Sommer ist das Eis in der Arktis so stark geschmolzen wie noch nie. Womöglich wird der bisherige Negativrekord gar um satte 20 Prozent unterschritten. Doch ganz so klar, wie es auf den ersten Blick scheint, ist der Zusammenhang nicht:

    "Das warme Wasser, das hier hereinströmt, ist von der Oberfläche getrennt. Es liegt unter einer Schicht, die wir kalte Halokline nennen. Und deshalb kann die Wärme aus dem Atlantikwasser nicht an die Oberfläche gelangen und nicht direkt zum Schmelzen des Meereises beitragen. Aber möglicherweise gibt es einige Stellen, wo das warme Wasser von einem speziellen Mechanismus nach oben transportiert wird."

    Das Klimasystem ist komplex, und es ist verflochten. Der Wandel in der Arktis wirkt sich auch auf unsere Breiten aus: Weniger Meereis im hohen Norden erhöht die Wahrscheinlichkeit für kalte Winter in Mitteleuropa – weil sich die Luftdruckgebiete verändern und arktische Luft nach Süden schleusen. Ein paradoxes Phänomen: frostige Kälte als Folge der Erderwärmung. Beszczynska warnt deshalb vor klimatologischen Kurzschlüssen:

    "Das ärgert mich wirklich, wenn Leute sich nur die Fakten oder Beobachtungen herauspicken, die in ihre Theorie passen – einfach aus politischen Gründen – und wenn sie nicht tiefer in das Thema einsteigen und das ganze Bild sehen wollen."

    Das ganze Bild – oder zumindest ein möglichst genaues – will Beszczynska mit Hilfe der Messkette in der Framstraße zeichnen: Während die CTD-Sonde nur im Sommer ein paar Schnappschüsse machen kann, sammeln 16 fest verankerte Geräte das ganze Jahr über Daten. Seit 15 Jahren vermessen sie die Strömungen in der Framstraße, auf einer Breite von 300 Kilometern. Mit gut fundierten Erkenntnissen könnten Forscher auch Einfluss auf die Klimapolitik nehmen, meint Beszczynska:

    "Wir können die Politik nicht direkt beeinflussen. Aber wir können versuchen, unsere Ergebnisse klar und schnell zugänglich zu machen, und sie überzeugend zu machen. Wir wissen, was wir sehen. Und natürlich machen wir uns Sorgen über mögliche Folgen."

    "Jetzt fahren wir aber erstmal auf’n Punkt."
    "So, jetzt ist es da drüben. Da drüben müssen wir hin."
    "Ja, ich zieh schon rum."

    Auf der Brücke der Polarstern. Seit zwei Wochen sind die Wissenschaftler jetzt unterwegs, schon neun Verankerungen haben sie ausgetauscht, jedes Mal ohne Probleme. Aber je weiter sie nach Westen, Richtung Grönland, vordringen, desto dichter wird das Packeis – und desto schwieriger ist es, die Instrumente zu bergen. Jetzt warten die Forscher darauf, dass Kapitän Stefan Schwarze das Schiff an die nächste Position steuert: 78°50' Nord, 0°49' West.

    "Wir fahren noch ein kleines Stück."
    "Steuerbord 10."
    "Steuerbord 10."
    "Mittschiffs. Ruder auf mittschiffs."
    "Ruder auf mittschiffs."

    Die Polarstern ist auf Position, hier müssen die Messgeräte sein. Sie sind in verschiedenen Tiefen an einem Seil befestigt, das mit einem Gewicht auf dem Meeresboden verankert ist, 2600 Meter tief. Die Forscher schicken ein Signal in die Tiefe, ein Haken springt auf, das Seil treibt mit den Geräten an die Oberfläche. Plötzlich tauchen in dem Gewirr aus Wasser und Eis leuchtend orangefarbene Kugeln auf – die Auftriebskörper. Kapitän Schwarze steuert den Eisbrecher heran. Kein einfaches Manöver.

    "Wo kommt die denn jetzt her?"
    "Das kleine Scheißding hier vorne, das hat sich da reingemogelt."

    Im letzten Moment hat sich eine Eisscholle zwischen Schiff und Auftriebskörper geschoben. Jetzt heißt es warten und hoffen. Eine halbe Stunde später erst ist die Scholle weitergetrieben, Glück gehabt. Der Bootsmann schleudert einen Wurfhaken auf das Knäuel aus Seil und Auftriebskörpern. Treffer.

    "So, angebissen hat er schon."

    Die Winde wickelt das Seil Meter um Meter auf, der Kran hievt die ersten Geräte an Deck. Doch der Rest steckt unter dem Eis fest. Ein Trick muss her: Matthias Monsees lässt ein Gewicht am Seil herunter, damit die Instrumente nach unten treiben und sich lösen. Doch die Verankerung bleibt verkeilt. Zeit für Trick Nummer 2.

    "Weil unser Versuch, mit dem Gewicht das Verankerungsseil zu bergen, nicht funktioniert, drehen wir das Schiff jetzt längs zur Verankerungsleine und stechen mit dem Bug ins Eis und versuchen so, den Auftriebskörper freizukriegen. Dafür haben wir den Eisbrecher mit."

    Aber das Manöver ist heikel.

    "Der Supergau wäre jetzt natürlich, wenn diese schwarze Leine dann auch noch in die Schraube kommt."

    Dann kann das Seil reißen, die teuren Geräte wären verloren – und vor allem die kostbaren Daten.

    Insgesamt 100 Menschen leben in diesen vier Wochen auf der Polarstern, etwa die Hälfte gehört zur Besatzung: neben Kapitän, Offizieren, Ingenieuren und Matrosen natürlich auch ein Koch und Stewardessen. Und auch ein Arzt ist dabei, für den Notfall. Auf dieser Fahrt hat er nicht viel zu tun: ein paar neue Zahnfüllungen, das war es. Die meisten der 45 Wissenschaftler dagegen sind in Schichten rund um die Uhr im Einsatz, besonders die Biologen. Sie suchen Antworten auf eine drängende Frage: Wie wirkt sich die Erwärmung des Wassers auf das Leben in der Framstraße aus? Agnieszka Beszczynska:

    "Alles hängt zusammen, die physikalische Umwelt hat einen enormen Einfluss auf das Leben hier. Es kommen mehr Arten hierher, die im warmen Atlantikwasser leben und nicht so typisch für die Polarregion sind."

    Meist müssen die Biologen nachts arbeiten, wenn keine Messgeräte geborgen oder neu ausgelegt werden. Dann haben sie das Arbeitsdeck für sich. Gerade nimmt Barbara Niehoff ein wassertriefendes Netz entgegen.

    "Im Moment sieht man noch nicht so viel, weil die Tiere, die wir untersuchen wollen, sind sehr klein. Es sind kleine so genannte Zooplankta, die ihr ganzes Leben in der Wassersäule driften."

    In ihrem klimatisierten Laborcontainer im Laderaum betrachtet Niehoff ihren Fang durch das Mikroskop.

    "So, hier haben wir auch wieder Ruderfußkrebse oder Copepoden. Und zwar sind das Krebse, die aus den unterschiedlichen Tiefen gefangen wurden."

    Die winzigen Tiere überwintern in der Tiefe des Meeres. Im Frühjahr wachen sie wieder auf und kommen an die Oberfläche. Niehoff will wissen, was sie dazu bringt.

    "Wenn man davon ausgeht, dass das auch externe Faktoren sein können, das heißt also Temperatur oder Licht oder Futter, dann werden sich die natürlich durch den Klimawandel auch verändern. Wenn das Eis weg geht durch die Erwärmung, dann wird mehr Licht ins Wasser dringen, dann wird die Algenblüte zu einer anderen Zeit stattfinden. Das heißt, dass auch die Futterversorgung der Tiere dann zu anderen Zeiten stattfinden könnte."

    Niehoff misst die Aktivität verschiedener Enzyme, die für den Stoffwechsel der Ruderfußkrebse zuständig sind. Das kann sie aber erst zu Hause tun, in ihrem Labor am Alfred-Wegener-Institut. Besonders interessieren auch die Biologin die heiklen Punkte, an denen das System kippen könnte.

    "Viele Arten sind sehr flexibel bis zu einem bestimmten Punkt. Wenn der überschritten wird, bekommen sie Probleme. Aber genau abzuschätzen, wann das der Fall ist, ist sehr schwer."

    Experimente helfen dabei: Im Labor können die Forscher die Bedingungen gezielt manipulieren und die Reaktion der Tiere beobachten. Im Kühlcontainer auf der Polarstern hat Niehoff Wasserbecken aufgebaut, darin schwimmen Hunderte kleiner Krebse. Ein Schlauch führt ins Wasser, kleine Bläschen steigen auf: Kohlendioxid.

    "Dieses Experiment beschäftigt sich mit der Versauerung der Ozeane. Wir möchten wissen, wie sich die häufigsten Krebse, die häufigsten Tiere hier darauf einstellen können. Wir gucken uns im Moment an, ob die Menge an Algen, die die Tiere aufnehmen können, damit zusammenhängt, wie die CO2-Konzentration ist."

    Lebewesen binden Kohlenstoff und setzen ihn frei – ein Faktor, den die Klimamodelle bisher noch zu wenig berücksichtigen können, weil man einfach nicht genug über ihn weiß.

    Unterdessen herrscht im Hubschrauber-Hangar der Polarstern Hochbetrieb, einer der beiden Helikopter wurde schon an Deck geschoben. Drei Forscher machen sich für den Flug bereit, mit Mühe quetschen sie sich in ihre orangefarbenen Überlebensanzüge. Jeremy Demey und seine Kollegen vom belgischen Labor für polare Ökologie beobachten Wale und Eisbären. Heute wollen sie sich mit dem Helikopter einen Überblick verschaffen, vor allem nach Narwalen wollen sie Ausschau halten.

    "Narwale sind etwas ganz Besonderes. Wir wissen nicht viel über ihre Verbreitung in der Framstraße, wir müssen also auf gut Glück fliegen. Vom Schiff aus können wir sie nicht beobachten, weil sie sehr scheu sind."

    Demey freut sich auf den Flug.

    "Das ist die Traum-Spezies für jeden Walforscher; der Narwal ist ein mythisches Tier, er lebt hoch im Norden, und es ist der einzige Wal überhaupt, der einen Stoßzahn hat."

    Die drei klettern in den Hubschrauber.

    "Polarstern, Heli 1."
    "Hier Polarstern."
    "So, kann losgehen."
    "Wind auf 8 Uhr mit 20 Knoten."

    Seit 25 Jahren schickt das Labor für polare Ökologie Tierbeobachter in die Arktis. Demey:

    "Eine Sache, die wir festgestellt haben, ist, dass wir seit 2005 mehr Wale hier zählen. Gleichzeitig ist das Eis zurückgegangen. Also vielleicht, ich sage: vielleicht ist das die Erklärung, warum wir in den vergangenen sieben Jahren mehr Wale gesehen haben."

    Der Rückgang des Eises eröffnet einigen Tieren neue Lebensräume. Andere verlieren womöglich ihr Revier: Eisbären auf schmelzenden Schollen sind zum Symbol für den Klimawandel geworden. Experten befürchten, dass sich die Bestände in den nächsten 50 Jahren um zwei Drittel reduzieren werden. In der Framstraße jedoch konnten die Forscher keinen Rückgang der pelzigen Raubtiere feststellen. Demey:

    "Wir haben 27 Eisbären gezählt, sehr aufregend, sehr nah am Schiff. Wir haben Muttertiere mit Jungen gesehen, auch mit älteren Jungtieren, und wir haben Männchen gesehen. Jedes Jahr beobachten wir etwa dieselbe Anzahl an Bären hier."

    In den einzelnen Gebieten entwickeln sich die Populationen sehr unterschiedlich, und sie sind schwierig zu erfassen. Deshalb sind Langzeitbeobachtungen wie diese so wichtig. Und es gibt Hoffnung: Fachleute vermuten, dass Eisbären sich neuen Klimabedingungen erstaunlich gut anpassen können – sie haben auch schon wesentlich wärmere Zeiten in der Erdgeschichte überstanden.

    Der Hubschrauber nimmt wieder Kurs auf die Polarstern.

    "Ja, ist verstanden, der Wind im Moment aus 10 mit 18."
    "Aus 10 mit 20 noch."
    "Schaukelt ja ganz schön."

    Eine Böe hat den Helikopter gepackt, doch er setzt sicher auf dem Heli-Deck auf. Die drei Forscher steigen aus. Jeremy Demey strahlt.

    "Wir sind zur Küste von Grönland geflogen, um dort Narwale zu suchen, aber das Wetter war sehr schlecht. Also sind wir umgekehrt, und plötzlich tauchte zu unserer Überraschung eine Gruppe von elf Narwalen auf! Das ist wirklich ein Traum, wirklich unglaublich!"

    Und es passt zu dem Befund aus den vergangenen Jahren, dass die Forscher in der Framstraße immer mehr Wale beobachten. Insgesamt haben sie in diesem Jahr 224 Tiere gesichtet, mehr als jemals zuvor.


    Zurück beim Bergungsmanöver. Heute geht alles schief. Tatsächlich gerät das Seil mit den wertvollen Messinstrumenten unter den Eisbrecher. Die Matrosen versuchen, es wieder hervorzuzerren, vom Arbeitsdeck am Heck über die ganze Längsseite des Schiffs bis zum Bug. Matthias Monsees:

    "Es ist nicht so einfach, das Seil nach vorne zu kriegen, weil ja überall die Aufbauten zwischen sind. Und das haben wir mit Wurfhaken und anderen Wurfleinen geschafft, das Seil überhaupt nach vorne zu kriegen."

    Bootsmann und Erster Offizier klettern bis zur äußersten Bugspitze. Dort montieren sie eine Rolle, die das Seil umlenkt. Jetzt kann es Stück für Stück am Schiff vorbeigezogen werden.

    "Das ist das erste Mal, dass ich das so mache."

    Seit 15 Jahren fährt Matthias Monsees in die Framstraße, um Verankerungen zu bergen.

    "Alle anderen Verankerungen auf dieser Reise gingen bis jetzt ganz komfortabel aus dem Wasser. Diese zickt jetzt wirklich ein bisschen, was aber nicht so ungewöhnlich ist, weil wir ja 80 Prozent Eisbedeckung haben….Jetzt ist das Seil tight."

    Das Seil ist gerettet, aber die Geräte hängen immer noch unter dem Eis fest. Der allerletzte Versuch: Drei Eisenbahnräder, eine Tonne schwer, werden am Seil heruntergelassen. Sie sollen die Verankerung nach unten ziehen und so aus den Schollen befreien. Doch sie könnten sie auch endgültig versenken. Monsees:

    "Da sind soviel scharfe Kanten dran, dass wir uns selbst das Seil durchschneiden können, wenn wir Pech haben."


    In wenigen Tagen wird die Polarstern wieder in Spitzbergen ankommen. Die Daten aus den verankerten Messgeräten vollständig auszuwerten, wird noch Monate dauern. Aber auf andere Ergebnisse muss Agnieszka Beszczynska nicht so lange warten. Noch während der Fahrt analysiert sie auf ihrem Laptop die Messergebnisse der Sonde, 125 Mal haben die Forscher sie in die Tiefen des Meeres herabgelassen. Beszczynska:

    "Was uns sehr überrascht hat: Wir haben sehr kaltes Atlantikwasser in der Framstraße gemessen. Vor der Expedition hatten wir erwartet, dass das Wasser ziemlich warm sein würde. Das sind aber erst mal nur die Daten von diesem Sommer, nicht vom ganzen Jahr. In den 15 Jahren, die wir hier messen, war dieser Sommer der zweitkälteste."

    Fast ein Grad kälter war das Wasser als im Durchschnitt der vergangenen Jahre. Damit hat die Meeresforscherin nicht gerechnet. Jetzt macht sie sich auf die Suche nach dem Grund für die plötzliche Abkühlung.

    "Das ist wirklich sehr schwierig zu sagen, aber normalerweise hängen die Temperaturschwankungen, die wir in der Framstraße beobachten, mit den Bedingungen stromaufwärts, also im Nordatlantik, zusammen. Der nächste Schritt wird jetzt sein, dass wir uns Messungen aus dem Nordatlantik ansehen und unsere Daten damit vergleichen."

    Beszczynska hofft jedoch, dass schon die Daten aus den verankerten Instrumenten helfen, das Rätsel zu lösen.

    "Natürlich werden wir uns auch unsere Verankerungsdaten sehr sorgfältig anschauen, weil sie zeigen, wie sich die Temperatur und andere Parameter über das ganze Jahr verändert haben, bis zur Bergung der Geräte jetzt."

    Spannend wird es dann in den kommenden Jahren: Schwächt sich der warme Trend womöglich ab?

    "Es ist sehr, sehr schwierig, solche kleinen Wackler in einer Zeitreihe mit langfristigen Veränderungen in Beziehung zu setzen. Wir kennen die Antwort jetzt noch nicht. Vielleicht können wir mehr sagen, wenn wir noch einmal fünf oder zehn Jahre beobachtet haben."

    Meeres- und Klimaforschung ist Langzeitforschung. Und sie hält immer wieder Überraschungen bereit: Auch die diesjährige Rekordschmelze in der Arktis hatten Experten längst nicht so drastisch erwartet – ein ziemlicher Schock. Der Nordpol wird in den Sommermonaten wohl deutlich früher eisfrei sein, als gedacht: Der Weltklimarat IPCC nahm in seinem letzten Bericht noch an, dass es bis zum Ende des Jahrhunderts dauern würde. Jetzt befürchten manche Fachleute, dass es schon in zehn Jahren so weit ist. Das zeigt, wie wackelig die Klimamodelle noch sind – und wie wichtig deshalb sorgfältige und langfristige Messungen wie die mit der Polarstern. Wer den Puls der Strömungen verstehen will, braucht Geduld. Eigentlich nicht gerade Agnieszka Beszczynskas größte Stärke.

    "Geschafft."

    Es hat geklappt: Mit dem tonnenschweren Gewicht aus Eisenbahnrädern konnten die Matrosen die Messgeräte aus dem Eis befreien. Die letzten Instrumente werden an Deck gehievt, Matthias Monsees ist erleichtert.

    "Das war sehr spannend. Das stand auf Messers Schneide, wir hätten genauso gut die Hälfte der Verankerung verlieren können. Letztendlich hat diese ganze Aktion viereinhalb Stunden gedauert. Das ist lange, aber doch immer noch gut, weil wir jetzt alle Geräte und alle Daten haben."

    Die Polarstern setzt sich wieder in Bewegung, die Forscher müssen noch eine weitere Verankerung aus dem Eis bergen. Dann werden sie neue auslegen, um in zwei Jahren zurückzukehren und sie wieder an Bord zu hieven.
    Die "Polarstern" auf ihrer 26. Arktisfahrt 2011 am Nordpol
    Die "Polarstern" auf ihrer 26. Arktisfahrt 2011 am Nordpol (AWI/Mario Hoppmann)
    An Bord der "Polarstern" wird eine CTD-Messsonde klar gemacht.
    CTD-Messsonde (Stefanie Schramm)
    Ein Messgerät wird nach zwei Jahren wieder aus den Tiefen der Framstraße an Bord der "Polarstern" geholt.
    Ein Messgerät wird nach zwei Jahren wieder aus den Tiefen der Framstraße an Bord der "Polarstern" geholt. (Stefanie Schramm)
    Bei 80 Prozent Eisbedeckung ist in der Framstraße das Einholen von Messgeräten schwierig.
    Einholen von Messgeräten (Stefanie Schramm)
    Geschafft: Die Auftriebskörper eines Messgeräts können an Bord der "Polarstern" gehievt werden.
    Geschafft! (Stefanie Schramm)
    Die Deckmannschaft holt in der Framstraße die Schwimmmkörper eines Messgeräts an Bord der "Polarstern".
    Schwimmmkörper an Bord (Stefanie Schramm)