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Manuskript: Organe aus dem Baukasten

Wenn ein menschliches Organ versagt, hilft oftmals nur noch eine Transplantation. Doch die Wartelisten für Spenderorgane sind lang, oft dauert es mehrere Jahre, bis Ärzte geeigneten Ersatz finden. Forscher versuchen deshalb, menschliches Gewebe aus körpereigenen Stammzellen zu züchten. Auch künstliches Material kommt in den Labors zum Einsatz. Erste Erfolge gibt es schon: Seit 2011 lebt ein Patient mit einer künstlichen Luftröhre und bei Ratten können Forscher zumindest Teile des Herzmuskels durch gezüchtetes Gewebe ersetzen.

Von Christine Westerhaus | 16.09.2012
    "Sie haben mir gesagt, dass diese Operation noch nie bei einem Menschen gemacht wurde. Oh, mein Gott, dachte ich."

    Andamariam Teklesenbet Beyene bekam Anfang Juni 2011 in der Stockholmer Uni-Klinik eine künstliche Luftröhre eingesetzt. Für den in Island lebenden Mann aus Eritrea war diese ungewöhnliche Operation die einzige Überlebenschance: Er leidet an unheilbarem Luftröhrenkrebs. Der Tumor versperrt den Zugang zur Luftröhre. In einer zwölfstündigen Operation setzen die Ärzte ein künstliches Ersatzorgan ein, das zuvor mit Stammzellen aus dem Körper des Patienten benetzt worden war.


    Im Zelllabor des Stockholmer Karolinska-Instituts sitzt Philipp Jungebluth vor einer Abzugshaube und entfernt die Plastikverpackung von einem Plexiglaskasten. Der junge Mediziner trägt einen hellblauen Laborkittel, seine dunkelbraunen Haare sind unter eine weiße Plastikhaube gesteckt, seine Hände in beigefarbene Einweghandschuhe. Jungebluth betrachtet ein längliches, schlauchartiges Gebilde in seiner linken Hand. Mit konzentriertem Blick versucht er diese Ypsilon-förmige Plastikstruktur in das Gewinde an dem Plexiglaskasten einzupassen. Irgendwas geht nicht zusammen...

    "Das ist so ein bisschen Baukastenprinzip hier. In Zukunft soll es so sein, dass die Luftröhre und der Bioreaktor zusammen hergestellt werden. So dass die Luftröhre perfekt in den Bioreaktor reinpasst. Kannst Du mir mal die Schere da drüben geben?"

    Mit gekonntem Schnitt stutzt Philipp Jungebluth die kurzen Enden der künstlichen Luftröhre. Dann endlich gelingt es ihm, das Kunstorgan in das Gewinde des Bioreaktors einzuspannen. Nun füllt er eine rötliche Flüssigkeit in die untere Hälfte des Kastens. In dieser Lösung schwimmen normalerweise Stammzellen des Organempfängers, heute testen die Forscher die Zellen einer Maus. Diese Zellen sollen die künstliche Luftröhre besiedeln und damit ein bisschen lebendig machen. Denn das Ypsilon-förmige Gebilde aus Plastik soll später im Körper genauso funktionieren, wie sein natürliches Vorbild. Jungebluth:

    "Bei der Luftröhre ist das wichtigste, dass man eine funktionelle Mukosa, eine funktionelle Epithelschicht hat, die imstande ist, diese Flimmerhärchen zu bilden, damit Fremdstoffe transportiert werden können, damit die Luft angefeuchtet werden kann."

    Die Mukosa, also die innere Schleimschicht der Luftröhre, erneuert sich im Körper eines gesunden Menschen kontinuierlich durch Vorläuferzellen. Die Forscher hoffen, dass auch eine künstliche Luftröhre eine solche funktionierende Schleimhaut ausbildet, wenn sie vor der Transplantation mit Stammzellen besiedelt wird. Deshalb behandeln die Wissenschaftler das zukünftige Organ mit Stammzellen aus dem Knochenmark des Patienten. Was mit diesen Vorläuferzellen später im Körper geschieht und ob sie sich tatsächlich in funktionsfähige Zellen verwandeln, ist bisher jedoch nur in Ansätzen erforscht. Jungebluth:

    "Man diskutiert immer, welche Zellen überleben denn wirklich und wie lange von den Zellen die man aufträgt (...). Es ist nicht so, dass man sagen kann: Das neu gebildete Organ im Patienten ist besiedelt durch die Zellen, die man vor der OP aufgetragen hat. Es ist eher so, dass das implantierte Organ vor allem auch durch die lokalen Zellen besiedelt wird und dann ist es eine Besiedlung von Stammzellen, die im Blut zirkulieren und dann an dieses Organ herangetragen werden und dann helfen, das Organ neu zu besiedeln."

    Die Stammzellen aus dem Knochenmark des Empfängers, mit denen die Forscher das Organ vor der Transplantation benetzen, sind noch undifferenziert. Das bedeutet, dass sie sich im Körper noch in unterschiedliche Zelltypen verwandeln können. Zum Beispiel in Knochen-, Muskel- oder Bindegewebszellen. Welche Gestalt eine Stammzelle annimmt und wo sie sich ansiedelt, ist jedoch von einer ganzen Reihe von Wachstumsfaktoren und Signalen im Körper abhängig. Den Weg der Zellen durch den Körper konnten die Forscher mit einer speziellen Kamera verfolgen. Dazu haben sie künstliche Organe mit Stammzellen besiedelt, die sie zuvor mit fluoreszierenden Farbstoffen markiert haben. Im Körper von Mäusen oder Ratten konnten die Forscher dann verfolgen, wohin die Reise der Stammzellen geht. Jungebluth:

    "Man kann dann genau gucken: Wo sind meine Zellen im Gewebe und wie lange überleben sie auf dem transplantierten Gewebe. (Das war zum Beispiel ganz spannend, das wussten wir vorher auch nicht. Also wir haben immer am gleichen Ort die Zellen rein gespritzt und wir konnten sehen, dass die Zellen unterschiedlich lange gebraucht haben, bis sie ihre bestimmte Region gefunden haben, im Herzen oder auch in der Lunge."

    Die molekularen Wegweiser, die Stammzellen durch den Körper dirigieren, sind in den Organen von menschlichen Spendern oftmals noch enthalten. Sie helfen dabei, das Ersatzorgan in den Organismus zu integrieren. Künstliche Materialien enthalten diese Wachstumsfaktoren nicht. Doch sie haben einen wesentlichen Vorteil: Theoretisch lassen sich aus ihnen unbegrenzt viele Ersatzorgane herstellen.

    "Das ist der Hauptvorteil, dass der Patient nicht lange warten muss, weil das Organ, das wir ihm zur Verfügung stellen können, muss nicht auf einer Liste geführt werden. Also der Patient muss nicht auf einer Liste geführt werden und warten, bis er an die Reihe kommt oder bis wir ein passendes Organ gefunden hat. Wir können ihm im Prinzip zwei Wochen nach Bekanntwerden der Indikation, kann man ihm ein passendes Organ zur Verfügung stellen."

    Nach einem geeigneten Spenderorgan müssen die Ärzte dagegen oft jahrelang suchen. Künstliche Organe haben außerdem den Vorteil, dass der Empfänger langfristig ohne Medikamente leben kann.

    "Egal, wie gut Empfänger und Spender zusammenpassen, also man guckt dann nach bestimmten Oberflächenmarkern auf den Zellen – und selbst wenn diese Oberflächenmarker perfekt zusammenpassen, kommt es dennoch zu einer chronischen, also ganz langsamen Abstoßung. Also jeder Patient, egal welches Organ er erhalten hat, muss lebenslänglich Medikamente einnehmen, die diese Immunreaktion, diese langsame chronische Abstoßung verhindern."

    Diese so genannten Immunsuppressiva verhindern zwar, dass der Körper das neue Organ als fremd erkennt und abstößt. Doch sie machen den Empfänger eines Spenderorgans auch anfälliger für Krankheiten, da sie die Reaktionen des Immunsystems unterdrücken. Auch künstliche Organe können vom Körper abgestoßen werden. Deshalb erproben die Forscher ein weiteres Verfahren, mit dem sie zerstörtes Gewebe ersetzen: Sie waschen die Zellen aus Spenderorganen heraus bevor sie es einpflanzen, damit es der Körper des Empfängers nicht als fremd erkennt.

    Im Zelllabor des Karolinska Instituts überprüft Philipp Jungebluth den Druck einer Pumpe, die kontinuierlich eine Flüssigkeit durch lange Schläuche fließen lässt. Diese Schläuche führen zu den Gefäßen eines etwa haselnussgroßen Organs. Es ist ein Rattenherz, das in einem Glaskolben hängt. Das Herz ist milchig weiß, fast transparent. Schon seit mehreren Stunden hat der aus Hannover stammende Forscher eine durchsichtige Lösung durch das Organ hindurch gepumpt.

    "Das sind so relativ einfache Bioreaktoren, wo wir das Organ dezellularisieren, also wo wir alle Zellen raus waschen. Wir testen verschiedene Lösungen. Das sind enzymatische Lösungen, das sind teilweise Seifen. Es gibt zig verschiedene Lösungen, die man benutzen kann. Alle haben unterschiedliche Funktionen. Manche lösen die Zellen aus ihrem Verbund, manche zerstören die Zellmembranen und je nachdem, welches Gewebe man hat, muss man verschiedene Waschvorgänge benutzen und verschiedene Lösungen anwenden."

    Jungebluth versucht die Zellen möglichst restlos aus dem Gewebe zu entfernen, damit das Immunsystems des Empfängers das Organ nicht als fremd erkennt. Er darf dabei nicht die Struktur des Organs beschädigen. Deshalb testen Jungebluth und sein Team am Karolinska Institut unterschiedliche Verfahren für ihre Zellwäsche.

    "Das ist nicht die Schwierigkeit, dass man das Organ von diesen Zellen befreit. Die Schwierigkeit ist, dass man gleichzeitig die anatomische Architektur erhält. Also dass vor allem auch mechanische Eigenschaften erhalten bleiben und dass man einige von diesen Proteinen erhalten kann, die für die neue Gefäßbildung zum Beispiel wichtig sind."

    Diese Proteine sind vor allem Wachstumsfaktoren, die die Stammzellen im Körper dirigieren. Sie sind in der so genannten extrazellulären Matrix enthalten, die die Zellen umgibt. Auch Knorpelgewebe dient den Stammzellen gewissermaßen als Anker, denn sie sind ein Grundgerüst, an das sie sich anheften können. Die Forscher wollen diese Orientierungshilfen bei dem Waschvorgang erhalten, damit das neue Organ nach der Transplantation im Körper möglichst schnell von neuen Zellen bewachsen wird.

    "Deswegen ist der zweite Schritt: Nachdem man die Zellen rausgewaschen hat, analysiert man dann: Was ist von der Mechanik, was ist von der Grundstruktur erhalten. Wenn da zum Beispiel alles zerstört ist, muss man sein Protokoll wieder überdenken, muss andere Schritte einführen, ein bisschen sanftere Methoden einführen, oder ein bisschen schnellere oder langsamer oder kürzer, wie auch immer. Also da muss man ein bisschen ausprobieren, was da das Beste ist."

    Im vergangenen Jahr hat der aus Italien stammende Chirurg Paolo Macchiarini zwei Patienten eine Luftröhre aus einem solchen Material eingepflanzt. Im Juni erhielt der aus Eritrea stammende Andamariam Teklesenbet Beyene das erste Organ dieser Art. Seit mehr als einem Jahr atmet er inzwischen über die neue Luftröhre. Seine Stimme bereitete ihm in den ersten Monaten nach der Operation jedoch Schwierigkeiten: Er hatte mit Heiserkeit zu kämpfen und musste eine Sprechtherapie machen. Momentan geht es ihm gut und er spricht wieder normal.

    "Es gibt keine Anzeichen eines Tumors und ich kann normal atmen. Alles ist also ganz positiv."

    Im Oktober 2011 setzt das gleiche Chirurgenteam auch dem 30jährigen US-Amerikaner Christopher Lyles eine künstliche Luftröhre ein. Das Stockholmer Team hat auch dieses Organ vor der Operation mit körpereigenen Stammzellen besiedelt. Anfang Januar wird er aus dem Karolinska Krankenhaus entlassen und kehrt in seine Heimat zurück. Im Februar kommt es jedoch zu schwerwiegenden Komplikationen: Der Mann verblutet, weil eine Gefäßprothese, die unter der Operation eingesetzt worden war, nicht richtig funktioniert.

    "Der normale Leser, der sich nicht im Detail darin vertieft, der liest nur: Patient wurde transplantiert und ist verstorben, für den gibt es den Eindruck, dass die Methode sehr gefährlich ist, nicht hilfreich und man auf konventionelle Therapieverfahren zurückgreifen sollte. Für die Forscherwelt zeigt sich aber, dass der Rückschritt mit irgendwelchen Begleitumständen kommt und nicht auf das transplantierte Organ zurückzuführen sind. Also in dem Fall war es nicht das Transplantat, sondern die Gefäßprothese, die geblutet hat."

    Ob die künstliche Luftröhre auch dauerhaft vom Körper angenommen und in den Organismus integrieren wird, lässt sich jedoch erst nach etwa zehn Jahren genauer sagen. Fraglich ist auch, ob sich die Stammzellen, mit denen die Forscher das Organ vor der Transplantation besiedeln, wirklich in funktionierende Zellen der Luftröhre verwandeln. Philipp Jungebluth gibt aber zu Bedenken, dass jede neue Operationstechnik Risiken birgt.

    "Man ist natürlich in einer Lernphase und weiß wenig darüber und es sind häufig aber die Begleitumstände, die verbessert werden müssen und an denen auch gearbeitet werden muss. Wenn man bedenkt, wie eine Intensivstation heute geführt wird, wie ein Organtransplantierter behandelt wird, welche Untersuchungen, Medikamente er bekommt, dann hat sich das auch deutlich verändert gegenüber dem Verfahren, was bei der ersten Herztransplantation eingeführt wurde. All das muss man in diesem Bereich natürlich auch erstmal lernen und häufig leider auch mit traurigen Ereignissen lernen. Das bleibt nicht aus."

    Komplikationen können bei Transplantationen auftreten. Das haben die Ärzte dem Patienten Andamariam Teklesenbet Beyene vor der Operation in der Stockholmer Klinik deutlich gesagt. Er wusste auch, dass er der erste Mensch ist, dem eine künstliche Luftröhre eingepflanzt wird.

    "Ich hatte Angst und wollte die Operation zuerst ablehnen."

    Die Ärzte erklärten dem unheilbar kranken Patienten auch, dass es für ihn keine andere Behandlungsmöglichkeit gibt. Er entscheidet sich für die Transplantation.

    "Die Ärzte haben mir die Situation erklärt. Es war für mich OK, ich hatte Hoffnung."

    Inzwischen hat das Stockholmer Ärzteteam in Russland zwei weiteren Patienten eine künstliche Luftröhre eingesetzt. Kritiker bemängeln jedoch, dass das Stockholmer Team den Schritt in die Praxis zu früh gewagt habe. Die Technik sei noch zu unausgereift, noch nicht gut genug erforscht, um sie in der Klinik einzusetzen. Für die beiden ersten Patienten, die 2011 eine künstliche Luftröhre erhalten haben, gab es keine Alternative zu diesem Eingriff. Doch rechtfertigt die ausweglose Situation eines Patienten, dass Ärzte ein wenig erforschtes Verfahren an ihnen ausprobieren? Mediziner könnten in solchen innovativen, aber riskanten Operationstechniken an Todkranken eine Möglichkeit sehen, sich zu profilieren, warnen Skeptiker. Professor Axel Haverich, der an der Medizinischen Hochschule in Hannover die Klinik für Herz-, Thorax-, Transplantations- und Gefäßchirurgie leitet, kennt dieses Problem. Er lehnt es daher ab, Operationen mit Ersatzgewebe allzu früh an Patienten zu erproben.

    "Wir kennen beispielsweise auch bei Herzklappen, wie sehr schnell in die Klinik gegangen wurde. Diese Konzepte wurden uns vorgestellt und ich habe sie abgelehnt, weil die experimentellen Daten für mich nicht ausreichend waren, um tatsächlich diese klinisch anzufassen. Der Konkurrenzdruck ist insgesamt groß. Auf der anderen Seite ist diese regenerative Therapie-Community immer noch ziemlich einheitlich und zwar international. Man kennt die anderen Gruppen und man versucht natürlich solche Entwicklungen zu betreiben, die nicht jetzt gerade in Mailand oder London sowieso gemacht werden und momentan ist es aber noch so, das ist eher wie eine Familie, wo der Austausch vor der Konkurrenz steht."

    In seinem Labor experimentiert Philipp Jungebluth inzwischen mit körpereigenen Wachstumsfaktoren, die er auch in synthetische Organe mit einbauen möchte. Die Forscher am Stockholmer Karolinska Institut arbeiten eng mit Materialwissenschaftlern zusammen, um langfristig ganz auf Spenderorgane verzichten zu können. Gemeinsam tüfteln sie an neuen Organ-Grundgerüsten, denen sie im Labor durch Zusätze Leben einhauchen wollen.

    "Als neuester Baustein in diesem Konzept ist eine Zugabe von Medikamenten, von Faktoren, also bioaktiven Substanzen, die entweder die Zellen differenzieren oder aktivieren oder irgendwas unterstützen. Das ist jetzt so das, was jetzt als letzter Baustein dazugekommen ist, was aber eigentlich am interessanten ist oder immer interessanter wird für die klinische Anwendung","

    sagt Jungebluth und deutet auf mehrere längliche, weiße, etwa fingerlange Schläuche in seinem Labor. Die äußere Hülle dieser Gebilde wirkt fragil - wie eine Art Pappmaché, das über eine Metallspirale gespannt ist. Fühlt sich an wie weiches Plastik.

    ""Das sind diese Grundgerüste der Luftröhre. Eigentlich ist es das gleiche Material wie diese PET Flaschen, aber ganz dünn gesponnen, in Nano-Größe. Das wird dann zigfach rumgesponnen, aber es stimmt, es sieht aus wie Papier. Wenn es nass wird, dann verändert sich das Material, es hat dann flexible Eigenschaften."

    Die Medizinischen Hochschule in Hannover. Hier tüfteln Forscher an Verfahren, um zerstörtes menschliches Gewebe zu ersetzen. Vor 16 Jahren hat Axel Haverich hier die Leibniz Forschungslaboratorien für Biotechnologie und künstliche Organe gegründet - heute bekannt unter dem Namen "Lebao". An diesem Institut hat er gemeinsam mit seinem Team ein Verfahren entwickelt, mit dem defekte Herzklappen bei Kindern und Jugendlichen ersetzt werden. Dazu benutzte Haverich Gewebe von menschlichen Spenderherzen. Aus dem Gewebe der Herzklappe entfernten der Forscher zuvor alle Zellen. Diese Zellwäsche verhindert, dass sich das Immunsystem des Empfängers gegen die fremden Zellen richtet und das Gewebe abstößt. Eine derart behandelte Herzklappe hat Axel Haverich vor zehn Jahren erstmals einem Kind eingesetzt.

    "Wir hatten dezellularisierte Herzklappen in Patienten gebracht und haben festgestellt, dass sie mit Patienten mitwachsen. Keine dieser Herzklappen, Tissue engineered, die wir eingebaut haben, musste bisher ausgetauscht werden."

    Jedoch ist medizinisch noch nicht abschließend geklärt, ob die Herzklappen tatsächlich mitwachsen oder ob sie sich während der Entwicklung des Kindes ausweiten. Dessen ungeachtet gehen die Forscher am Lebao daran, auch andere Teile des Herzens durch neues in ihrem Labor gewachsenes Gewebe zu ersetzen. Die Arbeitsgruppe von Professor Ulrich Martin will Teile des Herzmuskels aus Stammzellen neu züchten.

    "Wir fokussieren, was die Zellen anbelangt, insbesondere auf die induzierten pluripotenten Stammzellen, die es erst seit einigen Jahre gibt und die von den Eigenschaften sehr vergleichbar den embryonalen Stammzellen sind. Und diese Zellen sind im Prinzip in der Lage, alle Zellen in unserem Körper zu bilden, man kann sie im Prinzip unbegrenzt vermehren und wir können zum Beispiel für unsere Anwendung aus diesen Zellen sehr gut Herzmuskelzellen herstellen und diese Zellen können wir dann wieder für die Herstellung dreidimensionaler Gewebe verwenden."

    Die Forscher bringen die induzierten pluripotenten Stammzellen dazu, sich in Herzmuskelgewebe zu verwandeln. Diese auch IPS genannten Zellen sind ethisch unbedenklich, weil sie im Gegensatz zu den embryonalen Stammzellen nicht aus Embryonen hergestellt werden. Sie lassen sich beispielsweise auch aus Hautzellen gewinnen.
    Im Labor des Lebao beobachtet Ulrich Martins Mitarbeiterin Dr. Ina Gruh ein kleines Häufchen von winzigen Zellen unter dem Mikroskop. Das Gebilde pulsiert in regelmäßigen Abständen.

    "Die Stammzellen werden in kleinen Aggregaten gezüchtet, die sich in der Zellkulturschale bilden und spontan zu Herzmuskelzellen differenzieren und unter dem Mikroskop kann man sehr schön sehen, dass diese Aggregate spontan kontrahieren. So kleine Bewegungen, die eben daher kommen, dass die Zellen sich auch tatsächlich synchron verhalten, wie sie es auch im Herzmuskel tun müssen. Sie schlagen gleichzeitig und bringen dadurch eben größere Kraft auf, als wenn sie nur einzeln kontrahieren würden."

    In der Kulturschale erhalten die Zellen die Energie für ihre Bewegungen aus dem Nährmedium, in dem sie schwimmen. Damit ein ganzes Herz entstehen kann, müssen sich die Zellen aber dreidimensional anordnen und über Blutgefäße versorgt werden. Doch dazu fehlen den pulsierenden Gebilden noch ein paar wichtige Komponenten. Gruh:

    "Was Sie nachher im Gewebe haben, sind nicht nur Zellen, sondern auch die übrigen Gerüstsubstanzen. Das sind so Stützproteine wie Kollagen, Elasten – kennen Sie aus der Haut, was auch die Gewebefestigkeit macht - und das müssen wir im Labor künstlich hinzufügen und da müssen wir sehen, dass wir definierte Bestandteile haben, keine tierischen Produkte zum Beispiel, und daran arbeiten wir hier auch."

    Die Wissenschaftlerin zieht und zupft an den gezüchteten Zellgebilden auf ihrer Apparatur, um zu testen, ob diese die gleiche Leistung bringen wie ein menschlicher Herzmuskel. Dazu hat Ina Gruh einzelne Gewebestückchen auf eine Art Streckbank gespannt, einem Gerät, das die Kraft des Gewebes misst. Denn ein Herzmuskel muss viel Kraft aufbringen, um das Blut durch den ganzen Körper pumpen zu können.

    "Es wird dann hier über diese zwei kleinen Klemmen gehalten und was wir machen können: Auf der einen Seite sitzt ein Motor, damit können wir ganz definiert das Gewebe dehnen, also stretchen. Quasi trainieren. Und auf der anderen Seite haben wir hier einen sehr sensitiven Kraftsensor, der misst im Mikronewton-Bereich und kann dann direkt die Kräfte, die auf das Gewebe ausgeübt werden, messen."

    Die kleinen Herzmuskel-Flicken testen die Forscher momentan in Ratten. Sie ersetzen damit Gewebe, das nach einem künstlich ausgelösten Herzinfarkt zerstört wurde. Es ist eine Art Pflaster fürs Herz. Bis diese in der Klinik eingesetzt werden, vergehen noch Jahre, schätzt Ulrich Martin, Leiter des Lebao.

    "Wir sind soweit, dass wir mit kleinen Herzmuskelstücken [arbeiten], die von der Kraftentwicklung fast vergleichbar sind mit natürlichen Herzmuskeln. Allerdings sind die Gewebestücke sehr klein, wir bewegen uns hier unter einem Bereich von unter einem Zentimeter. Wir können im Moment noch gar nicht die großen Zellmengen zur Verfügung stellen, die wir für einen Patienten bräuchten und wir müssen auch eine geeigneten Strategien entwickeln, um bei diesem Verfahren einen geeigneten Gefäßbaum herzustellen über den direkt nach der Transplantation eine Versorgung mit Blut und Sauerstoff stattfindet."

    Den Forschern steht also noch ein gutes Stück Arbeit bevor, bis sie ein ganzes Herz züchten können. Dabei stehen die Zellingenieure auch noch vor ganz grundsätzlichen Problemen, erklärt Herzchirurg Axel Haverich.

    "Es gibt zwei ganz wesentliche Dinge, die konzeptual noch fehlen. Das eine ist die Zellquelle: Wir wissen nicht, woher wir die Zellen nehmen können. Und das andere ist die Art und Weise, wie wir das dreidimensionale Konstrukt herstellen sollen."

    Ulrich Martin ist dennoch optimistisch, dass zumindest Teile des Herzens schon in naher Zukunft in der Klinik eingesetzt werden können.

    "Wir gehen schon davon aus, dass wir es in den nächsten zehn Jahren zumindest es hinkriegen, nach einem Infarkt das abgestorbene Gewebe durch einen kontrahierenden so genannten Patch, also ein Stück Herzmuskel, zu ersetzen. Inwieweit man ein ganzes Herz tatsächlich mal ersetzen kann, muss man sehen. Aber vielleicht ist es auch nur ein Herzunterstützungssystem, was neben dem Herzen implantiert wird, bestehend aus einem Stück Herzmuskel mit einer Klappe darin. Auch das würde schon helfen. Also so was wäre eher realisierbar – man muss einfach abwarten, was die Zukunft bringt. "

    Axel Haverich sieht diese Zukunft schon konkret vor Augen.

    "In zehn Jahren werden wir das Herz ersetzen können, das steht für mich völlig außer Frage. Die Lunge mag schwieriger sein, aber, je nachdem wie wir das Herz wieder herstellen, kann es gut sein, dass das, was wir ableiten können, so schnell umsetzbar ist für andere Organe, dass die Lunge vielleicht gar nicht so viel weiter dahinter ist, vor allem weil der klinische Druck sehr viel größer ist. Weil eben die Lunge im terminalen Organversagen keine Alternativen hat, außer der Transplantation. Die Transplantationsmöglichkeiten sind begrenzt, so dass da der Druck in der Wissenschaft vielleicht größer ist, als beim Herzen. So dass ich glaube, dass auch die Lunge sehr schnell ins Gespräch kommen wird."

    Um die im Labor gezüchteten Konstrukte in eine dreidimensionale Form zu bringen und die Zellen dabei in der richtigen Struktur anzuordnen, setzt Haverichs Forscherkollege Ulrich Martin auf interdisziplinäre Arbeitsgruppen.

    "Wir haben zum Beispiel eine enge Kooperation mit Chemikern am Leibniz-Zentrum oder mit Physikern am Laserzentrum in Hannover. Beide arbeiten dabei auch eng zusammen, wenn es darum geht Substanzen, die über Lasertechnologien druckbar sind in eine dreidimensionale [Struktur] zu entwickeln und diese Substanzen müssen dann natürlich auch wieder biologisch kompatibel sein."

    Den Forschern am Laserzentrum ist es bereits gelungen, Hautzellen mit einem Druckverfahren dreidimensional anzuordnen. Anstelle der Tonerpartikel reiht der Laser dieses Organdruckers Zellen in einem bestimmten Muster aneinander. Ähnlich wie die Forscher am Karolinska Institut nutzen die Hannoveraner Wissenschaftler ebenfalls die Zellwäsche, um Organe herzustellen. Sie spülen die Zellen aus einem Spenderorgan heraus, um es anschließend mit gezüchteten Zellen neu besiedeln zu lassen. Welches der beiden Verfahren den größten Erfolg verspricht, ist derzeit jedoch unklar, betont Axel Haverich:

    "Beide haben im Moment in der Forschung noch ihre Daseinsberechtigung. Es kann auch sein, dass wir für die unterschiedlichen Gewebe beide Verfahren brauchen oder bei den unterschiedlichen Geweben das eine oder das andere Verfahren brauchen. Eines haben wir nur in den vergangenen fünf Jahren gelernt: Dass wir ohne die endogene Regeneration - dass der Körper selbst mit hilft, das Transplantat nachher funktionsfähig zu machen über eine Zellbesiedlung und über eine Funktionalisierung der Zellen untereinander - nicht auskommen. Ohne diese endogene Regeneration wird es das Tissue Engineering nicht erfolgreich in der Klinik geben. Das ist unsere Position heute."

    Diese Reparaturmechanismen unterstützen die Forscher, indem sie den Körper des Patienten über körpereigene Stammzellen und daraus gezüchtete Gewebe unterstützen. Die Schlüsselkomponente für so gut wie jedes menschliche Organ, das irgendwann einmal durch regenerative Verfahren ersetzt werden kann. Axel Haverich hat dabei kaum ethischen Bedenken.

    "Dürfen wir denn alles ersetzen, was wir ersetzen können? Ich sage: Ja, bis auf das Gehirn. Was sollte uns daran hindern? Wenn wir künstliche Nieren entwickeln können, und die Patienten drei Mal die Woche fünf Stunden an der Dialyse sind, warum sollen wir nicht etwas entwickeln, was wir implantieren, wo ist der Unterschied? Also, so dass ich hier an dieser Stelle diese ethischen Bedenken nicht habe. Damals, als wir noch das therapeutische Klonieren, wo wir Eizellen gebraucht hätten, da wäre da eine ethische Grenzschicht aufgetaucht. Aber die ist jetzt mit den IPS-Zellen aus meiner Sicht auch nicht zu sehen, so dass ich die regenerative Medizin eigentlich ethisch für sehr leicht annehmbar halte."

    Auch die Patienten werden ein im Labor gezüchtete Organ nicht ablehnen, meint Axel Haverich. Die Aussicht auf ein schmerzfreies Leben werden moralische Zweifel seiner Meinung nach ausräumen.

    "Wenn die Angst, nicht weiter zu leben oder die Lebensqualität einzuschränken, so zunimmt, dann stimmen alle dem Eingriff der Transplantation zu und ganz ähnlich wird es sein bei den Verfahren die wir jetzt entwickeln. Wir überblicken ja 1200 Herztransplantierte und spätestens am vierten Tag reden die Leute von ihrem Herzen in aller, aller Regel. Also das ist extrem selten, dass da gedacht wird, dass da man eine andere Persönlichkeit angenommen hat oder dass das eine Rolle spielt."

    Axel Haverich hat hierzu eine Anekdote mit ernstem Hintergrund parat. Manche Angehörige möchten nämlich nicht, dass bestimmte Organe eines Verstorbenen in einem anderen Menschen weiterleben.

    "Ich bin einmal auf dem Weg nach Holland gewesen für eine Organentnahme Herz und da bekamen wir in der Luft die Absage mit der Begründung: Weil die Angehörigen gesagt haben: Der Verstorbene hatte ein so kaltes Herz, ein Herz aus Stein, sie möchten deshalb nicht, dass es jemand anderem transplantiert wird."

    Doch selbst wenn sich in Zukunft immer mehr Menschen dazu entschließen, ihre Organe nach ihrem Tod der Medizin zur Verfügung zu stellen: Für eine klassische Transplantation werden niemals genügend Spenderorgane zur Verfügung stehen, meint Axel Haverich. Daran wird sich seiner Meinung nach auch nichts ändern, wenn neue Transplantationsgesetze in Kraft treten.

    "Egal, welche Lösung man hat - wir werden bei der demographischen Entwicklung der Bevölkerung in keinem Fall mit der Transplantation von Organen Verstorbener den Bedarf an Gewebe und Organersatz decken können. Das heißt, wir sind sozusagen angehalten, über biotechnologische Verfahren Alternativen zu suchen."