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Manuskript: Takten bis zum Kollaps

Der zentrale Anspruch von Politik und Industrie ist "Wachstum" - also immer mehr und immer schneller. Wohin jene Dauerbeschleunigung führen könnte, zeigt diese Sendung am Beispiel von Maschinen und Computern, der Verkehrsinfrastruktur und des Menschen.

Von Maximilian Schönherr | 23.12.2012
    Das ist der Drumstick eines Schlagzeugers. Er gibt einen Rhythmus vor. Und der wird immer schneller.

    Jetzt kommen komplexere Rhythmen hinzu. Und es wird noch schneller.

    Das macht Stress für den, der den Rhythmus schlägt, und für uns, die wir das anhören – müssen. Wir spüren, dass das nicht so weitergehen kann, dass etwas passieren wird, wie bei einem Auto mit manipulierten Bremsen, das die Serpentinen hinuntersaust, oder bei einem Stein, auf den wir schlagen, und der dann zerbricht.

    Takten bis zum Kollaps - komplexe Systeme am Limit

    von Maximilian Schönherr


    Es muss nicht so schlimm kommen.

    Der Schlagzeuger kann ja einfach sagen, mir reicht's, ich hör jetzt auf.

    "Was passiert, wenn ein so komplexes System zu viel Last bekommt? Es wirft die Last ab."

    Kann auch sein, dass der Schlagzeuger ab einer bestimmten Geschwindigkeit alle Anträge von sich weist, die ihn schneller machen wollen. Er spielt dann nur stur seinen Rhythmus weiter, wie er ihm am besten passt.

    Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung und der zunehmenden Komplexität. Der zentrale Anspruch von Politik und Industrie ist "Wachstum". Wachstum heißt: mehr, schneller. Wohin führt diese Beschleunigung? Kann man das ausrechnen? Lässt sich ein System so bauen, dass es immer schneller wird, ohne zusammenzubrechen?

    Diese Sendung nähert sich dem Thema aus drei Richtungen.

    • Aus der Ergonomie: Da geht es um Menschen und Maschinen – die Maschinen, die immer schneller werden; wir Menschen, die wir immer gleich langsam bleiben.

    • Wir sehen uns die Finanzmathematik an und fragen, ob die Übertaktung beim Computer-Trading nicht zwangsläufig zum Kollaps führt?

    • Und wir analysieren die Netze von Bahn und Flugzeug, das immer dichter werdende Internet und die Telefonnetze.

    Einer der erfahrensten deutschen Netzwerktechniker ist Jörg Eberspächer. Er ist inzwischen in Rente, und er hat sich ein Leben lang mit Beschleunigung beschäftigt, und wie man verhindern kann, dass ein System durch dieses Zuviel, Zuschnell zusammenbricht. Beispiel: Telefon.

    "Ja, das berühmte Problem an Silvester. Wenn ein so komplexes System zu viel Last bekommt, wirft es die Last ab, und beim Telefon merkt man das an der Blockade. Das hat man dort eigentlich ganz definiert gemacht, um die Systeme zu entlasten."

    Es ist natürlich so gestuft, dass man die Last automatisch misst. So eine Vermittlungsmaschine, auch heute die Computer, haben ein Lastmaß. Und wenn er dann, sage ich jetzt mal, bei 80 Prozent ist – das hat man sich vorher überlegt –, dann lässt man natürlich die bestehenden Verbindungen unberührt, und neu ankommende, die wirft man ab.

    Ganz ähnlich wie beim Internet: Dort hat man als Vermittlungsrechner die Router, und wenn die zu viel Last bekommen, dann lassen sie keine weiteren Datenpakete mehr in ihre Warteschlangen, also in ihre Pufferspeicher rein. Dann merkt der Kunde natürlich auch, dass etwas abgeworfen wird. Aber das ganze Gesamtsystem bricht deswegen nicht zusammen.

    Das Telefonnetz und das Internet sind sehr verschieden aufgebaut; das Telefonnetz starr hierarchisch, das Internet weitgehend selbst organisiert. Trotzdem haben beide Systeme schon in der Grundanlage diesen Schutz vor Überbeanspruchung, vor Übertaktung eingebaut.

    "Bei Rechnern und Rechnernetzen kann man durchaus ein mathematisch fundiertes Maß nehmen, das nämlich aus der berühmten Warteschlangentheorie folgt, also: Was passiert, wenn immer mehr Verkehr kommt, wie stark wird demnächst die Wartezeit anwachsen?"

    Die Warteschlangen- oder Queuing-Theorie liefert mathematische Werkzeuge für das Abschätzen einer drohenden Überlastung.

    Es gibt Beispiele aus früherer Zeit, als man noch ohne diese Mathematik und Computer arbeitete, etwa den 1970er-Jahren: Damals war das Telefonieren teuer, und die Deutsche Bundespost wollte den geringen Telefonverkehr am Abend fördern. Sie führte den sogenannten Mondscheintarif ein, der ab 22 Uhr griff und bis in den frühen Morgen galt.

    Die Queuing-Theorie war der Marketing-Abteilung der Post nicht bekannt. Die hätte nämlich voraussagen können, was bei einem ab 22 Uhr, null Minuten, einer Sekunde einsetzenden niedrigen Tarif passieren würde: Menschenschlangen vor den Telefonzellen, und Frust bei denen, die's in die Zelle geschafft hatten, denn sie wurden vom System mit einem Besetztzeichen abgewiesen. Das deutsche Telefonnetz war wegen der plötzlich einsetzenden Anfragen völlig überlastet.

    Was es aber damals schon tat, war, um nicht komplett zusammenzubrechen: Es warf seine Last ab. Ein Marketing-Desaster.

    "Völlig richtig, aber ich glaube, da ist man heute schlauer, weil man mathematische Methoden einsetzen kann."

    Die Wissenschaft hat auch von der Natur gelernt, dem Totalausfall technischer Systeme schon in der Entwicklungsphase vorzubeugen. In der Natur verläuft vieles modular; das betrifft sogar unser Gehirn, das Ausfälle in einem Gebiet durch Aktivierung eines anderen Areals ausgleichen kann. In der Netzwerktechnik setzt man heute, wie die Natur, neben der hierarchischen Gliederung auf Module, die ihr Eigenleben haben.

    "Man hat modularisiert und hierarchisch gegliedert. Es gibt die Einrichtungen im Kern des Netzes, das sind die großen Vermittlungsanlagen, die großen Steuerungsanlagen, man muss ja auch den Teilnehmer feststellen und authentifizieren, ob er überhaupt kommunizieren darf. Das sind alles recht zentrale Einrichtungen."

    Und dann gibt es den Teil, der die vielen, vielen Millionen Teilnehmer anschließt, das sind die Zugangsnetze. Dort ist man natürlich noch viel modularer. Da kann es zwar passieren, wenn eine Basisstation – das ist das, wo die Antennen eine Rolle spielen, die auf den Häusern stehen –, wenn die mal Strom verlieren, dann fällt eventuell ein Teil des Netzes aus. Und da war es schon immer das Prinzip, auch schon bei den Festnetztelefonen und im Internet, dass der Ausfall von Komponenten, von Subsystemen, sollte nur Teile des Netzes außer Betrieb setzen.

    Auf der obersten Ebene allerdings muss man aufpassen. Da hat man auch schon einmal unschöne Dinge erlebt, Fehler gemacht und hinterher festgestellt, dass ein System, wenn es runtergefahren ist, weil es irgendwie sich selber abgeschaltet hat, dass es das andere, ein Nachbarsystem, mit heruntergefahren, weil das in seinem Programm gesagt hat: Oh je, der andere ist kaputt, da schalte ich mich jetzt ein bisschen ab, und dann das nächste.

    Dadurch ist fast eine ganze Küstenregion – ich sage jetzt nicht wo, nicht in Deutschland – telefonlos gewesen. Das war aber schlechtes Design des Systems, denn es darf nicht passieren, dass der Ausfall einer Komponente die nächste Komponente wie beim Dominoeffekt auch zum Abschalten bringt.

    Wenn auf uns Menschen zu viel Information in zu kurzer Zeit einprasselt, versuchen wir, die Last abzuwerfen, damit wir nicht durchdrehen. Handelt es sich um zu hart getaktete zu heftige negative Gefühle, um Traumata, werfen wir die Last nicht wirklich ab, wir verdrängen sie. Das ist ein Mechanismus, den die Technik nicht kennt.

    Wohl aber haben sich Experten für Mensch-Maschinen-Schnittstellen wie Klaus Bengler von der Technischen Universität München mit der Psyche in Stresssituationen beschäftigt. In einem Katastrophen- oder Kriegsszenario müssen bestimmte Informationen mit Priorität bedient werden. Der Pilot in einem Flugzeug kann in einer angespannten Lage, wenn zu viele Informationen auf ihn einprasseln, nicht einfach sagen: Schluss jetzt, mir reicht's, ich kann nicht mehr, ich geh schlafen.

    "Das Flugzeug an sich, das Fliegen ist an sich eine dynamische Tätigkeit. Man kann das Flugzeug in der Luft nicht anhalten. Es fällt ansonsten vom Himmel. Das heißt, dass es umso wichtiger ist, dass das Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine in diesem dynamischen Umfeld optimal gestaltet ist."

    Deswegen richtet man dem Piloten einen Arbeitsplatz ein, den er selbst taktet. In der Ergonomie heißt das "User Paced", also der Benutzer gibt den Schritt, den 'pace', an, nicht die Maschine. Klaus Bengler hat an der Entwicklung von Auto- und Flugzeug-Cockpits mitgearbeitet.

    "Ein wichtiger Grundsatz der Gestaltung des Flugzeugcockpits, also des Arbeitsplatzes des Piloten, ist "Dark and Silent". Kommt es zu kritischen Stellen, zu Warnungen, zu Informationen – erst dann dürfen Lämpchen und Taster anfangen zu blinken, also die Aufmerksamkeit des Piloten anziehen."

    Das heißt: Warnung wird ausgegeben, Taste fängt an zu blinken, und es ist nun am Piloten, zu entscheiden, wann die Taste gedrückt, die Warnung quittiert wird, und wie das weitere Vorgehen ist. Ansonsten liegt die Taktung beim Piloten – im Gegensatz zu vielen anderen Systemen.

    Zu den "vielen anderen Systemen", in denen nicht der Mensch die Maschine, sondern die Maschine den Menschen führt, gehört ein Klassiker der Industriegeschichte, nämlich die Akkordarbeit, die regelmäßig dazu führte, dass Arbeiter durchdrehten oder krank wurden. Klaus Bengler denkt aber vor allem an etwas, was wenig erforscht ist: unser Umgang mit den immer komplexeren internetfähigen Mobiltelefonen, den "Smartphones", die immer mehr Informationen auf uns loslassen.

    "Es taktet uns und unterbricht uns bei Tätigkeiten, die wir gerade durchführen: Ich schreibe einen Text oder führe ein Telefonat, und das System meint, mich auf ein Update hinweisen zu müssen, was zu dem Zeitpunkt völlig irrelevant ist."

    Auf solche Unterbrechungen reagieren wir häufig zunächst einmal mit einer Orientierungsreaktion, das heißt also, das Schreiben wird unterbrochen, und sehr häufig mit Fehlern. Es kommt häufig zu Tippfehlern, zu Handlungsfehlern, Wiederaufnahmefehlern.

    Die Orientierungsreaktion, von der Klaus Bengler spricht, sieht man an Autos, deren Fahrer an ihren Telefonen herumspielen. Sie steuern das Fahrzeug anders als normal, auch anders als Betrunkene. Es sind typische Fehler, die entstehen, wenn mehrere Systeme unkoordinierte Befehle an uns ausgeben: Das Handy sagt, hier klicken, um SMS anzusehen; die anderen Verkehrsteilnehmer, der Verlauf der Straße, die Ampeln sagen: stopp!

    "Es kommt schon von der menschlichen Informationsverarbeitung eine Taktung ins Spiel. Das heißt: Wir nehmen Informationen in zeitlicher Reihenfolge auf und verarbeiten sie auch nach einem gegebenen Takt. Also ist auch unsere Informationsverarbeitung einem gewissen Takt unterworfen, der bei unterschiedlicher Betrachtungsweise sich für bestimmte Informationseinheiten um die 100 Millisekunden bewegt. Auch das Blickverhalten folgt einem vorgegebenen Takt im Bereich mehrerer 100 Millisekunden bis 1000 Millisekunden."

    Das heißt, wir nehmen Information in bestimmter Reihenfolge und auch in bestimmten Portionen auf, die wir dann getaktet abarbeiten.

    Nicht parallel?

    Nicht parallel. Wenn man es genauer betrachtet, dann taucht ein sehr interessanter Mechanismus auf: die sogenannte Central Executive, die zentrale Exekutive. Das heißt, wir nehmen zwar Informationen über unsere unterschiedlichen Sinneskanäle, die Haut, die Augen, Geruch, die Ohren parallel auf. Viel Information strömt also parallel auf uns ein, wird auch sensorisch parallel verarbeitet und weitergeleitet.

    Jetzt taucht der interessante Mechanismus auf, eben die Central Executive, an der die unterschiedlichen Informationen getaktet und sequenziell abgearbeitet werden. Es wird dann versucht, Muster zu erkennen und die unterschiedlichen Informationen wieder zusammenzuführen, sodass auch Synästhesien entstehen, das heißt, wir hören Dinge, weil wir Bestimmtes riechen, und wir empfinden das ganze als gleichzeitig.

    Wir sind an der Stelle außerordentlich gut, außerordentlich schnell getaktet, aber bei genauerer Hinsicht werden die unterschiedlichen Kanäle nacheinander abgearbeitet.

    Dieses Modell des Gehirns passt für einen Ingenieur, der Mensch-Maschinen-Schnittstellen entwickelt, gut; für die Hirnforschung ist es zu simpel. Denn im Gehirn passieren tatsächlich viele Dinge parallel, man weiß aber nur wenig Genaues darüber. Für die Ergonomen reicht die Vorstellung einer im 100-Millisekunden-Takt tickenden Black Box.

    100 Millisekunden sind eine zehntel Sekunde, der zehnte Teil einer Sekunde: Wenn wir blinzeln, dauert das etwa 300 Millisekunden. Die Muskulatur des Augenlids braucht drei Zehntel einer Sekunde, um zu schließen und wieder zu öffnen. Das ist eine Dimension, mit der wir umgehen können: Wir nehmen den Lidschlag bei einem anderen kaum wahr, aber wenn wir uns darauf konzentrieren, sehen wir ihn. Während wir den einzelnen Flügelschlag einer Wespe nicht sehen. Der findet zehnmal schneller statt als wir 'auflösen' können.

    Computerprozessoren sind ungleich schneller getaktet als die menschlichen 100 Millisekunden, man spricht ja von PCs mit mehreren Gigahertz Taktfrequenz. Die Maschinen arbeiten zudem, in Maßen, parallel. Sie müssen sich also, wenn sie mit uns in Interaktion treten, langsam machen. Wie langsam ist eine zentrale Frage all derjenigen, die solche Schnittstellen bauen. Bleiben wir beim Beispiel des Smartphones mit seinem berührungsempfindlichen Bildschirm.

    "Wir drücken den Touch-Screen und hören den Klick. Mehr als 100 Millisekunden später empfinden wir das als zwei Ereignisse, als schlechte Qualität, als schlechte Synchronisation. Also hier wollen wir möglichst keine Taktung erleben. Taktet die Information auf dem Smartphone zu schnell, dann erleben wir das als Information-Overload. Also unzusammenhängende Bilder, die sehr schnell aufeinander folgen, empfinden wir dann als verwirrend, als störend, als nicht verarbeitbar."

    Das heißt, wenn wir in dieser Sendung jetzt über komplexe Systeme und den Kollaps sprechen, die Übertaktung – wie geht das System Gehirn und Mensch in dieser Umwelt mit dieser Übertaktung, also dem Informations-Overload um?

    Wir sind als Menschen, auch evolutionär, außerordentlich gute Informationsverarbeiter. Wir sind evolutionär in einer sehr komplexen Umgebung groß geworden. Das heißt, gerade in komplexen Umgebungen versuchen wir, unser Erfahrungswissen einzubringen und Strukturen höherer Ordnung zu schaffen. Damit können wir sehr viel Information in hoher Folge verarbeiten. Problematisch wird das ganze, wenn Menschen sich in unvertrauter Umgebung orientieren müssen.

    Was bedeutet das für das Thema Taktung? Man muss dem Nutzer Zeit geben für die Informationsverarbeitung, vor allem dann, wenn er mit der Situation nicht vertraut ist. Das heißt, der Übergang vom Auge über die Erfahrung bis hin zur Motorik, zur Hand, kostet Zeit, je unbekannter, je weniger vertraut, umso mehr Zeit muss dann für bewusstes Handeln eingeplant werden.

    10. April 2010. Ein kleines Passagierflugzeug. An Bord polnische Politiker, auch der polnische Präsident Lech Kaczynski. Wir sind kurz vor dem Anflug auf Smolensk, der Flughafen liegt im Nebel, und wir hören den Sprechfunkverkehr zwischen Cockpit und Kontrollturm.

    Dem Piloten fehlt das, was für die Schnittstelle Mensch/Maschine so wichtig ist: das User Pacing; dass er den Takt vorgibt. Stattdessen hören wir Stimmen im Cockpit, die nicht ins Cockpit gehören und die sich einmischen. Vermutlich ist auch Kaczynski da, man drängt den Piloten, trotz der widrigen Bedingungen zu landen. Wenige Sekunden später stürzt die Maschine im Nebel in einem Wald bei Smolensk ab.

    "Das ist Gleis 6 und 7. Die Züge haben heute mittlere Verspätung. Die S-Bahnen fahren mehr oder weniger im Takt, der ICE nach Chur hat 40 Minuten Verspätung, und der IC nach Innsbruck muss auf ein anderes Gleis umgeleitet werden."

    Verspätungen sind ein Aus-dem-Takt-Geraten. Der Takt ist menschengemacht, er heißt bei der Bahn: Fahrplan. Ein Insider der Deutschen Bahn AG sagte mir, der Fahrplan sei oft überschätzt, er diene nur als Richtwert. Der Fahrplanchef der Bahn, Rüdiger Weiss, dagegen spricht von 90 Prozent Pünktlichkeit aller Züge, und die Pünktlichkeit misst er natürlich an seinem Fahrplan.

    Die Stundentaktung der ICEs von 60 Minuten, also jede Stunden fährt ein Zug, ist nicht vom Himmel gefallen. Wie wäre es, sie auf 50 Minuten anzuziehen? Das gäbe laut dem Fahrplanchef Riesenprobleme. Keine Software kann ihm das in einer Simulation ausrechnen, dazu ist das System zu komplex. Man hat irgendwann einmal die 60 Minuten eingeführt, weil das so einigermaßen funktioniert, vor allem aber leicht zu merken ist.

    Zwischen den Zügen auf der Trasse, also von A nach B, gibt es Pufferzeiten und Blockabstände; dadurch entsteht eine zeitliche und räumliche Taktung. In diesen Takten müssen Lücken eingebaut werden, damit auch mal ein langsamerer Güterzug an der Trasse partizipieren kann.

    Zwar hat die Bahn Simulationswerkzeuge, die bei der Fahrplanerstellung helfen, aber von der Ein-Stunden-Taktung will man allein schon deswegen nicht abrücken, weil sie so leicht zu merken ist. Würden die Züge alle zwei Stunden fahren, wäre die Bahn vielleicht pünktlicher, man bekäme aber nicht alle Passagiere befördert. Wohin die Passagiere dann abwandern würden, aufs Auto oder Flugzeug, oder ob sie lieber zuhause bleiben, lässt sich nicht simulieren.

    Das komplexe und sehr eng getaktete System Bahn erholt sich selbst nach einem Totalzusammenbruch. Angenommen, wegen Schafen in Tunnels, defekten Lokomotiven, nicht schließenden Türen, ausgefallenen Klimaanlagen geht bundesweit nichts mehr im Personenfernverkehr - dann gibt es den großen Puffer "Nacht". In der Nacht ist die Zugdichte so gering, dass sich das System erholt. Am nächsten Morgen taktet es wahrscheinlich wieder korrekt. Fängt aber vielleicht, wie jetzt hier, kurz nach acht, mit Verspätungen an.

    "Was machen denn die Fluggesellschaften, um diese Planung wenigstens soweit stabil hinzukriegen? Indem sie Reserven einbauen. Die Reserven sind dort zeitliche Puffer. Das ist erst vor einigen Jahren auch in Deutschland bei der Lufthansa so gewesen, da hab ich zumindest festgestellt: Die Flugpläne hatten kürzere Flugzeiten ausgewiesen, sagen wir mal von München nach Berlin, auch wenn ich die Zahl nicht ganz genau weiß, aber nehmen wir an 50 Minuten. Und zwei Jahre später war das vielleicht eine Stunde, fünf Minuten. Nun, die Flugzeuge sind eher schneller geworden und nicht langsamer. Woher kommt das also?

    Das kommt daher, dass jeder festgestellt hat, dass doch in der Regel diese Nennzeiten aus allen möglichen Gründen nie eingehalten wurden. Und da ist es am besten, Puffer einzubauen. Das Gleiche bei der Bahn. Das ist jetzt aber nicht irgendwie so etwas Seltsames, sondern es ist ein Grundprinzip. Wenn ich solche verteilten Systeme habe, die miteinander agieren, jetzt bei den Netzen: Aufenthalt in Speichern, das entspricht dem Aufenthalt eines Zugs]in einem Bahnhof, das ist ja auch so ein Speicher, dass man diese Zeiten als statistische Variable auffassen muss, also mit Schwankungen.

    Und die Bahn macht jetzt natürlich keine Worst Case-Betrachtung. Wenn sie nämlich alle möglichen Verzögerungen entlang einer Strecke von München nach Hamburg und all den anderen in Betracht ziehen würde, dann wäre der Durchsatz durch dieses Netz viel geringer.

    Nein, man muss jetzt den statistischen Charakter dieser Geschichte in Betracht ziehen, und da gibt es in der Tat ausgeklügelte statistische Mittel der Laufzeit- und Verspätungsanalyse und der Optimierung."

    Netzwerkexperte Jörg Eberspächer. Mathematische Modelle für Puffer, um den strengen Takt vor dem Kollaps zu bewahren.

    Für unseren Schlagzeuger bedeutet das: Er darf mal Pause machen.

    Seit vor gut zehn Jahren Computer den Handel bei Banken und Börsen und Brokern übernommen haben, herrscht ein neuer Takt, eine neue Geschwindigkeit. Software kann beim sogenannten Algotrading, also beim Handel mithilfe von Algorithmen, im Millisekundentakt Tausende von Aktien oder Optionen kaufen und abstoßen.

    Bei der Frage, ob unser Wirtschaftssystem zusammenbricht, weil irgendwann die Transaktionen, die internationalen Geldflüsse immer schneller ablaufen, ziehen sich die Professorin für Wirtschaftsinformatik Claudia Klüppelberg an der Technischen Universität München und der Finanzmathematiker und Banker Christian Blum zunächst auf etwas anderes zurück: auf die Komplexität der Geschichte.

    Claudia Klüppelberg:

    "Es gibt Unmengen von Finanzderivaten, von Finanzinstrumenten. Immer wieder neue Produkte kommen auf den Markt. Das ist also ein Fass ohne Boden."

    Christian Blum:

    "Wenn wir mal an das Banking vor vielen Jahren denken, da bestand das Banking im Wesentlichen aus Fristentransformationen, also etwas ganz Banalem. Oder wenn Sie eine einfache Anleihe nehmen: Jemand verleiht Geld, bekommt dafür einen Zins oder eine Aktie, die geht im Kurs hoch oder runter; das war einfach.

    Heute ist es sehr viel komplexer. Die Finanzprodukte drehen teilweise einen Euro mehrmals durch die Struktur durch. Die Cashflows sind von komplizierten äußeren und inneren Triggern und Einflüssen abhängig. Das macht die Produkte in der Bewertung enorm komplex."

    Bricht ein Finanzsystem also zusammen, wenn es immer komplexer wird?

    Christian Blum:

    "Die Komplexität führt nicht notwendigerweise zum Kollaps. Aber die Komplexität führt unter Umständen zu einem potenzierten Aufwand in der Beurteilung und im Management von solchen Produkten. Und wenn Sie viele solche Produkte im Portfolio haben, dann besteht die Gefahr, dass die Bewertbarkeit nicht mehr zu jedem Zeitpunkt gegeben ist. Das war sicher eins der Probleme der Finanzkrise, dass Produkte vor der Finanzkrise angeboten wurden, von denen eigentlich selbst mit hohem Aufwand niemand mehr in der Lage war, alle Szenarien durchzuspielen und zu durchdenken, was sich dort einstellen kann."

    Christian Blum hält den globalen Finanzcrash für möglich, wegen der Komplexität, weil kein Mensch, keine Software die weltweiten digitalen Geldflüsse mehr versteht. Doch kehren wir zur Taktung zurück: Welche Rolle wird bei künftigen Finanzkrisen das Algotrading, der immer schnellere Computerhandel spielen? Der Banker Christian Blum:

    "Wenn es dominiert, dass Leute auf sehr kurzen Zeitdistanzen spekulieren, sprich, die kaufen zu einem Zeitpunkt t zu einem günstigeren Kurswert und t + ein paar Minuten oder Sekunden, wenn der Kurs ein wenig gestiegen ist, drücken sie das wieder ab.

    Das in hohen Volumina verursacht große Schwankungen in den Märkten. Solange das aber in Maßen läuft, wie wir das heute haben, würde ich sagen, die großen Probleme der Finanzindustrie liegen vermutlich nicht in der maschinellen Abwicklung oder der Prozessierung, sondern in Kreditrisiken, die sich in den Makrozusammenhängen widerspiegeln, und was wir speziell gesehen haben, 2008, in der Finanzkrise, in Liquiditätsrisiken, wenn Banken untereinander nicht mehr in der Lage sind, sich zu leihen."

    Die Globalisierung, also die schiere Größe, macht die Finanzwelt so unvorhersehbar komplex und anfällig für Störungen, nicht der Computerhandel im Hochfrequenztakt.

    Wenn der Computer schon nicht der Böse ist, könnte er nicht der Gute sein? Angenommen es gäbe ein globales Finanzmarkt-Analyse-Tool auf irgendwelchen Supercomputern, das die Komplexität der Geldflüsse entwirrt. Was wäre, wenn dieses Programm zu dem Schluss käme: Diese Komplexität ist nicht mehr beherrschbar, wir rasen unweigerlich dem Totalzusammenbruch entgegen. Es sei denn, wir schaffen das System ab, also den Kapitalismus? Da lachen die Finanzmathematiker Claudia Klüppelberg und Christian Blum – und sagen nichts ohne ihren Anwalt:

    "Dazu sage ich nichts.

    "Ich auch nicht, ohne Anwalt."

    Wenn man den Börsenhandel abschafft, hieße das, auf unseren Schlagzeuger übertragen, man würde den Drumstick durch etwas anderes ersetzen, vielleicht durch eine Orgel, die dann gar nicht mehr taktet, sondern – schwingt.

    Wir leben in einer Zeit der Beschleunigung – und der Vernetzung. Alle Wissenschaftler, mit denen ich sprach, nannten die immer größere Komplexität durch diese Vernetzung in einem Atemzug mit dem immer schnelleren Takt.

    Entschleunigung, Slow Food, Meditation, Selbstorganisation werden daran nichts ändern. Und die Mathematik leider auch nicht. Sie rechnet innerhalb der Systeme und sieht den Kollaps nicht. Der Kollaps ist für sie kein Tsunami und kein Börsencrash, sondern eine Singularität – etwas Unwägbares, von dem man besser die Finger lässt.


    Takten bis zum Kollaps - komplexe Systeme am Limit.

    Eine Sendung von Maximilian Schönherr

    Redaktion: Christiane Knoll