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Marcel Fratzschers "Verteilungskampf"
Plädoyer für mehr frühkindliche Bildung

In seinem neuen Buch "Verteilungskampf" beklagt Marcel Fratzscher, DIW-Chef, eine zunehmende Ungleichheit: In keinem anderen Land der Eurozone seien Chancen, Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. Mit dieser These tourt er auch durch die Medien - seine Argumente im Buch überzeugen allerdings nicht immer.

Von Joachim Riecker | 11.04.2016
    Porträtbild des Ökonomen Marcel Fratzscher.
    Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher. (picture alliance / dpa / DIW)
    Titelgeschichte im "Spiegel", Talkshow-Auftritte, Namensartikel in wichtigen Tageszeitungen: Marcel Fratzscher, der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat eine erstaunliche Medienpräsenz. Vor allem aktuell mit seinem jüngsten Buch. Es trägt den plakativen Titel "Verteilungskampf". Fratzschers Kernthese wird ebenfalls schon auf dem Titel präsentiert und lautet, dass Deutschland immer ungleicher wird.
    "Sowohl bei den Löhnen, bei den Einkommen, aber auch bei den Vermögen geht die Schere weiter auseinander und erreicht mittlerweile wirklich Rekordniveau. Und gerade auch in Deutschland. Deutschland ist das Land in der Euro-Zone mit der höchsten Ungleichheit bei den privaten Vermögen, also es trifft vor allem auf Deutschland zu."
    So Marcel Fratzscher in einem Interview des Deutschlandfunks. In seinem Buch untermauert er seine These mit zahlreichen Statistiken. Tatsächlich gibt es zu denken, wenn man etwa auf Seite 52 eine Statistik sieht, in der das deutsche Bruttoinlandsprodukt pro Kopf verglichen wird mit der Entwicklung der Reallöhne seit 1992. Während die BIP-Kurve fast ununterbrochen nach oben geht, die Deutschen pro Kopf also immer mehr erwirtschaften, dümpelt die Entwicklung der Reallöhne träge vor sich hin. Wo ist sie also geblieben, die enorme Produktivitätssteigerung, die von den Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten erarbeitet wurde?
    Fratzscher gibt eine klare Antwort: "Die Reichen werden reicher, die Armen werden ärmer", dieser oft zitierte Ausspruch gelte auch für Deutschland, schreibt er. Wobei er das Problem weniger darin sieht, dass die Reichen immer reicher werden, sondern dass es denen, die ohne Vermögen in der Familie geboren werden, nur selten gelingt, eines aufzubauen:
    "Also, das Problem per se liegt nicht darin, dass die oberen 0,1 Prozent oder 1 Prozent zu viel haben. Sondern das wirkliche Problem liegt darin, dass die unteren 40 Prozent so wenig haben. Das ist das Hauptproblem. Und gerade in Deutschland haben die unteren 40 Prozent praktisch überhaupt kein Vermögen, können also überhaupt keine Vorsorge betreiben, sind enorm abhängig vom Staat, landen sehr leicht in der Armut. Die Armutsquote in Deutschland ist deutlich gestiegen. Also wir brauchen hier ein Umdenken, natürlich sind die Superreichen sehr sichtbar, aber das wirkliche Problem sind die unteren 40 Prozent."
    Holzschnittartige Kunstfiguren als Beispiel
    Fratzscher ist überzeugt, dass zu viele Deutsche schon bei ihrer Geburt kaum die Chance haben, später einen wesentlich höheren Lebensstandard zu erreichen als ihre Eltern. Um das zu illustrieren, schildert er in seinem Buch die Schicksale von Lena und Paul. Obwohl beide gleich intelligent sind, eilt Paul als Sohn von Akademikern im Leben von Erfolg zu Erfolg, während Lena als Arbeiterkind wenig verdient, öfter krank ist und am Ende sogar früher stirbt als Paul. Die Schilderung hat nur leider einen Haken: Beide sind Kunstfiguren, die sich bedenklich in der Nähe von Klischees bewegen. Hier wäre es besser gewesen, Fratzscher hätte sich einmal aus seinem Institut in Berlin Mitte hinausbegeben und reale Personen getroffen. Dann wäre vermutlich schnell klar geworden, dass die Gründe für die unterschiedlichen Lebenswege von Menschen sehr viel komplexer sein können als von ihm doch recht holzschnittartig dargestellt.
    Doch man muss Fratzscher zugutehalten, dass er die richtigen Fragen stellt. Warum steigen Unternehmensgewinne in Deutschland kräftiger als die Löhne und Gehälter? Warum gehen so wenige Arbeiterkinder zur Universität? Warum gelingt es rund 40 Prozent der Deutschen nicht, ein einigermaßen nennenswertes Vermögen aufzubauen? Außen vor lässt Fratzscher in seinen Berechnungen allerdings die Ansprüche an die Rentenversicherung, da es sich dabei um kein Vermögen handele. Das mag methodisch korrekt sein, führt aber trotzdem etwas in die Irre, denn für Millionen Deutsche ist die staatliche Rente ein zentraler Bestandteil ihrer Finanzplanung.
    Nach Überzeugung des DIW-Chefs hat Ungleichheit in einer Gesellschaft vorwiegend negative Effekte:
    "Eine steigende Ungleichheit beschwört einen Verteilungskampf zwischen gesellschaftlichen Gruppen herauf. Auch dieser hemmt das Wirtschaftswachstum. Je höher die Ungleichheit in einer Gesellschaft ist, desto stärker tobt auch der Verteilungskampf."
    Kein Plädoyer für Umverteilung, sondern für Bildung
    Er rechnet sogar vor, dass es durch die unfaire Verteilung von Einkommen und Vermögen in Deutschland in den Jahren von 1990 bis 2010 Wachstumseinbußen in einer Höhe von 160 Milliarden Euro gegeben habe. Die Plausibilität dieser Rechnung ist allerdings kaum zu überprüfen. Nicht immer ist seine Darstellung auch ganz frei von Widersprüchen. So nennt er einerseits die starke Stellung von Familienunternehmen als einen der Hauptgründe für die große Ungleichheit hierzulande, singt dann aber geradezu ein Loblied auf den deutschen Mittelstand.
    Fratzscher redet daher auch keiner Umverteilung das Wort, sondern plädiert für höhere Investitionen vor allem in die frühkindliche Bildung, um auf diese Weise mehr Chancengerechtigkeit zu schaffen und die Ungleichheit in Deutschland zu reduzieren.
    "Es ist elementar, Kitaplätze zur Verfügung zu stellen und Eltern die richtigen Anreize zu geben, diese auch in Anspruch zu nehmen. Von ähnlich hoher Bedeutung ist jedoch, eine gute Qualität der Betreuung und Bildung zu sichern, um die kognitiven und nicht-kognitiven Fähigkeiten der Kinder zu fördern. Ein besseres Bildungssystem hilft individuell, und es hilft der gesamten Gesellschaft und auch der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes."
    Dass für die Bildung in Deutschland mehr getan werden muss, ist allerdings spätestens seit der ersten PISA-Debatte vor fast 15 Jahren ein Allgemeinplatz. Ansonsten empfiehlt Fratzscher den Deutschen, ihr Geld in Zeiten niedriger Zinsen stärker in Aktien anzulegen. Geringverdienern dürfte gerade dieser Ratschlag aber kaum weiterhelfen.
    Der umtriebige DIW-Chef hat in seinem Buch wichtige Themen angesprochen und legitime Fragen gestellt. Doch seine Antworten überzeugen leider nicht immer.
    Buchinfos:
    Marcel Fratzscher: "Verteilungskampf. Warum Deutschland immer ungleicher wird", Hanser Verlag, 263 Seiten, Preis: 19,90 Euro