Freitag, 19. April 2024

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Marcel Pott
"Der Kalte Krieg hat vieles erleichtert"

In den 1980er-Jahren arbeitete Marcel Pott als Nahost-Korrespondent für die ARD. Aus Beirut und Amman berichtete er über Kriege, Kultur und Alltag der Menschen. Bis heute ist der Nahost-Kenner als Publizist und Autor tätig. Und wirbt dafür, die Region differenziert zu betrachten.

Marcel Pott im Gespräch mit Birgit Wentzien | 24.11.2016
    Portraitfoto des ehemaligen ARD-Nahostkorrespondenten Marcel Pott.
    Der langjährige ARD-Nahost-Korrespondent Marcel Pott, aufgenommen im Juli 2003 in Mainz. (picture alliance / dpa / Erwin Elsner)
    Zusammenhänge erklären, Menschen und Alltag beschreiben, das Vielfältige der Kulturen aufzeigen. Mit diesem Credo beleuchtet Marcel Pott seit Jahrzehnten den Nahen Osten und möchte zum Verständnis dieser konfliktreichen Region beitragen, die für den Journalisten immer wieder Arbeits- und Lebensmittelpunkt war. Ab 1983 leitete Pott das ARD-Hörfunkstudio in Beirut und Amman und arbeitete dort als Korrespondent. Eine Stelle, die er neun Jahre lang innehatte. Von hier berichtete Pott über Kriege und Krisen, aber auch über Religion, Alltag und Kultur in den Ländern des Nahen Ostens. Anfang der 1990er Jahre wurde Pott leitender Redakteur im ARD-Hauptstadtstudio in Bonn, bis er 1997 für zwei Jahre in die jordanische Hauptstadt Amman zurückkehrte.
    Obwohl mittlerweile im Ruhestand, ist der studierte Jurist noch immer regelmäßig im Nahen Osten unterwegs, tritt als Experte auf und arbeitet als Autor und Publizist. Er hat mehrere Bücher verfasst, in denen er den Nahost-Konflikt analysiert und die Konfliktlinien in der arabischen Welt beschreibt. Der 1946 geborene Pott plädiert dabei auch immer wieder für eine differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Islam, um das schwierige und spannungsreiche Verhältnis zwischen Orient und Okzident besser verstehen zu lernen.
    Ich musste lernen, was eine Nachricht ist, was ein Bericht ist, was ein Kommentar, wie man mit dem Mikrofon umgeht, all diese Dinge kannte ich nicht.
    Der Weg zum politischen Journalisten
    Birgit Wentzien: Ahlan wa sahlan, lieber Marcel Pott!
    Pott: Ahlan bik!
    Wentzien: Was habe ich jetzt gerade gesagt?
    Pott: Herzlich willkommen!
    Wentzien: Hallo, schön, dass du da bist? Oder hat das eine andere Konnotation?
    Pott: Das ist grundsätzlich ein Willkommensgruß.
    Wentzien: Und Sie haben mir geantwortet: Geh nach Hause? Nee, oder?
    Pott: Nein, danke schön, ebenso!
    Wentzien: Wann wurde – schön, dass Sie bei uns sind! – aus dem …
    Pott: Ich bin gerne hier, danke!
    Wentzien: … Anwalt ein des Arabischen mächtiger Journalist?
    Pott: Also, mein Arabisch ist eher Küchenarabisch. Also, meine Arbeitssprachen waren immer Französisch und Englisch, weil, die Zeit, um wirklich Arabisch lernen zu können für meine Tätigkeit, die habe ich nie gehabt.
    Wentzien: Aber Sie sind ein gelernter Jurist.
    Pott: Ja.
    "Schnüffelphase" beim WDR
    Wentzien: Und Sie haben – wir sind jetzt mitten in den 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts – als Rechtsreferendar für ein Praktikum bei den Vereinten Nationen in New York gearbeitet. Dann kommen Sie zurück nach Europa und arbeiten in Köln in Paris als Anwalt. Und irgendwo muss damals auf der Strecke was passiert sein, weil dann nämlich aus dem Anwalt der Journalist wurde.
    Pott: Genauer gesagt, ist das noch in Paris passiert. Weil, ich habe damals einen Anruf bekommen von einem WDR-Abteilungsleiter, Michael Franzke, das war der Chef der aktuellen Abteilung. Und der suchte einen Volljuristen fürs Programm und hatte einen Zeitvertrag von sechs Monaten, den er mir anbieten konnte. Und das habe ich mir eine ganze Woche überlegt, weil ich gleichzeitig ein Angebot hatte von einer großen Firma, die international in Deutschland und in Frankreich arbeitete und im Rechtsabteilungsbereich jemanden suchte, der von beiden Seiten her sozusagen das betrachten konnte, und habe mich dann für den WDR und für diese sechs Monate Schnüffelphase entschieden. Und vor allen Dingen deswegen, weil ich eigentlich schon immer geliebäugelt hatte mit dem politischen Journalismus.
    Wentzien: Der war aber nicht zuerst. Also, zuerst war WDR quasi Knäckebrot, Sie saßen im Gerichtssaal als Berichterstatter, Sie beobachteten dort den Herstatt-Prozess und andere Verfahren. Das war es ja für Sie dann nicht, politischer Journalismus, sagen Sie. Nur, das kann ja nicht gleich passieren. Also, heutzutage geht man in eine Journalistenschule und/oder studiert und macht ein Volontariat, dann macht man Kärrnerarbeit und kümmert sich um alles, was handwerklich wichtig ist, und irgendwann dann am Ende des Horizonts geht es mal ins Ausland. Sie haben das in einer rasanteren Geschwindigkeit hingekriegt. Wie haben Sie das gemacht?
    Pott: Das war ein Zufall. Also, erst einmal musste ich natürlich auch all diese kleinen Technicalities lernen. Ich musste lernen, was eine Nachricht ist, wie man sie macht, wie man sie verbreitet, was ein Bericht ist, was ein Kommentar, wie man mit dem Mikrofon umgeht. All diese Dinge kannte ich nicht und habe dann praktisch mir selbst ein Privatvolontariat verordnet mit der Unterstützung von Michael Franzke, der das sehr gut fand.
    Und der Sprung ins Ausland, der ergab sich dadurch, dass mein Vorgänger als Korrespondent, als ARD-Korrespondent für den Nahen Osten mit Sitz in Beirut, Gerd Schneider, eigentlich so schnell wie möglich wegwollte. Er war dort schon tätig und ich war sein Deskmann als Redakteur beim WDR. Und eines Tages hat er mich eingeladen und dann bin ich nach Beirut geflogen und habe mir das alles angeguckt. Und da hat er schon angedeutet, dass er so schnell wie möglich den Posten eigentlich aufgeben wollte aus familiären Gründen.
    A general view on Sama Beirut tower (L) at the Sodeco region of Beirut, Lebanon, 23 March 2016. Once completed in 2016, Sama Beirut will be the tallest tower in Lebanon with a height of 186 metres. EPA/WAEL HAMZEH
    Libanons Hauptstadt Beirut. (picture alliance/dpa/Wael Hamzeh)
    "Die Mischung von Abendland und Morgenland, das ist attraktiv"
    Wentzien: Der Zufall hat Sie vom Anwalt zum Journalisten werden lassen und der Zufall hat dafür gesorgt, dass aus dem innenpolitischen Journalisten hier in Köln dann der Nahost-Pott wurde.
    Pott: So kann man das sagen. Also, ich bin nach Beirut geflogen Anfang 1982, habe die Stadt kennengelernt und dachte: Na ja, in Beirut zu leben ist sicher kein Zuckerschlecken. Weil, damals war ganz Beirut noch von den Syrern umzingelt und zum Teil waren sie in der Stadt, sie saßen auch mit ihren Special Forces direkt vor dem ARD-Büro in Westbeirut. Und dennoch habe ich nach drei, vier Tagen gedacht: Interessant, ist eine interessante Stadt mit so viel unterschiedlichen Kultureinflüssen, die Mischung von Abendland und Morgenland, das ist attraktiv.
    Habe allerdings nie daran gedacht, dass ich dort landen könnte, allenfalls vielleicht mal eine Urlaubsvertretung zu machen. Dann kam der Krieg, die Invasion Israels in den Libanon und im Juni desselben Jahres war dann die Frage meines Chefredakteurs Dieter Thoma: Wollen Sie nach Beirut und Gerd Schneider vertreten, der braucht mal eine Pause? Denn der Krieg dauerte noch an und Westbeirut wurde von Israel, der israelischen Armee belagert.
    Der Kommandant der Drusen in Westbeirut, der hat mich eines Tages angerufen und hat gesagt: Du stehst auf der Liste, die haben sogar dein Foto.
    Die Arbeit als Reporter im Libanon
    Wentzien: Sie waren damals Korrespondent und Sie wurden Kriegsberichterstatter. Und es gibt einen ganz kleinen Moment, der uns beide damals akustisch zusammengeführt hat. Ich war Redakteurin auf der anderen Seite und habe einen Bericht von Ihnen bearbeitet. Und ich erinnere mich sehr daran, denn Sie sagten zum Schluss: Frau Wentzien, rufen Sie meine Frau an, vor meiner Tür stehen drusische Milizen, und sagen Sie ihr bitte, mir geht es gut.
    Pott: Ja, das war eine dramatische Zeit. Das war, glaube ich, 1987, wenn ich mich recht entsinne. Das war auf dem Höhepunkt der sogenannten Geiselkrise, radikale, extremistische, schiitisch orientierte Kräfte hatten viele westliche Geiseln genommen, meistens Franzosen, Engländer und Amerikaner und keine Deutschen. Und das hatte was zu tun mit dem viel weiter weg tobenden Krieg zwischen Iran und Irak. Und diese Kräfte, die dort aktiv wurden in Beirut, die meistens aus den südlichen Vororten stammten, wurden gelenkt und geleitet von den Fachleuten, den revolutionären, schiitischen Fachleuten aus dem Iran.
    Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990
    Saddam Hussein (r.), irakischer Diktator in einer Kampfpose vor dem Golf-Krieg 1990 (imago/ZUMA/Keystone)
    Und hier sollten westliche Geiseln als Tauschgeld missbraucht werden. Denn klar war, Frankreich unterstützte Saddam Hussein, den damaligen Herrscher des Irak, mit der Belieferung von Exocet-Raketen und Mirage-Kampfbombern, die Amerikaner halfen Saddam Hussein mit ihrer Satellitenaufklärung und der revolutionäre Iran war im Prinzip international isoliert und versuchte, sich zu befreien durch solche Aktionen, um auf dieser Ebene politische Geschäfte zu machen, um den Krieg nicht am Ende doch noch zu verlieren. Das ist der Hintergrund.
    Und bei mir war es so, das hatte allerdings eher private Gründe, dass die drusischen Milizen, die vor meiner Tür und auf meinem Schreibtisch buchstäblich saßen, die kamen dahin, weil der Kommandant der Drusen ein Freund von mir war und verhindern wollte, dass ich auch einkassiert werden würde. Und das Ganze hat dann tatsächlich da zu meinem Schutz geführt. Aber das Arbeiten, das alltägliche Arbeiten doch sehr erschwert.
    Wentzien: Wären Sie hier, wären die nicht da gewesen?
    Pott: Also, ich war ja in Westbeirut sozusagen der letzte Deutsche, die anderen waren alle schon evakuiert worden. Und ich stand per Funk mit dem Botschafter, mit dem deutschen Botschafter Tono Eitel in Verbindung, "drei-ein-vier" und "eins-und-drei", das waren die Kommandos, und "alles in Ordnung" und so weiter. Der Botschafter hat immer versucht, mich von Westbeirut wegzulocken und in den Osten zu gehen. Das habe ich so lange wie irgend möglich hinausgezögert, weil, einerseits fühlte ich mich subjektiv sicher, andererseits eben durch die Drusen, weil, ich lebte im Büro, im Drusenviertel in Westbeirut. Und andererseits hatte ich nur in Westbeirut die Technik, um arbeiten zu können, und auch die Kontakte, um arbeiten zu können. Im Osten wäre ich ganz abgeschnitten gewesen.
    "Das war wie in einem Thriller"
    Wentzien: Sie wären nicht hier, wären die Drusen nicht da gewesen?
    Pott: Also, jedenfalls bestand die Gefahr. Denn ich wusste allerdings erst gar nicht, dass ich gefährdet war. Das hat der drusische Geheimdienst herausgefunden. Und Akram Chehayeb der Kommandant der Drusen in Westbeirut, der hat mich eines Tages angerufen und hat gesagt: Du stehst auf der Liste, die haben sogar dein Foto. Und das Foto haben sie bekommen, weil ich einen Visumsantrag gestellt hatte bei der iranischen Botschaft in Beirut für einen Arbeitsbesuch in Teheran. Und das Foto, was Hisbollah-Leute dann in Händen hielten, konnten sie nur von der Botschaft bekommen haben.
    Und jetzt erklärte sich mir auch der Hinweis, dass ich doch meine Visa für Teheran nicht mehr in Bonn beantragen solle, sondern in Beirut. Und das Ganze Spiel, um das abzukürzen, hat aber dann nicht mehr sehr lange gedauert, weil einfach die Arbeitsmöglichkeiten immer weniger gegeben waren und die Drusen ihre Milizionäre für ihre eigenen Kämpfe innerhalb von Westbeirut gegen die schiitische Miliz der Hamal gebraucht haben. Und dann bin ich in einer riesigen, ja, Militäroperation, kann man sagen, evakuiert worden und bin auf die andere Seite geschafft worden. Die Drusen haben das alles gemacht, organisiert und haben das ganze Viertel abgesperrt. Und das war wie in einem Thriller. Und eh ich mich versah, war ich auf der anderen Seite der geteilten Stadt Beirut.
    Wentzien: Marcel Pott, Sie sagen, der Nahe Osten ist beides: Spannungsregion und spannende Region; diese Region ist uns Medien nah und bleibt uns doch verschlossen. Die Komplexität der Gegenwart erklärt sich uns nicht; wo die Wurzeln der Konflikte liegen, was ihre Fortdauer bewirkt, scheint uns immer noch unklar. Und Sie sagen zugleich: Als unabhängiger Journalist, damals und jetzt, nehme ich keine falschen Rücksichten; ich will als Autor nicht überreden, vielmehr geprägt von gewachsener uns stets aktueller Kenntnis informieren und das Denken und Handeln der Menschen erläutern. Das klingt nach einem journalistischen Grundgesetz und ich will Sie fragen, ob Sie das immer konnten? Waren Sie dazu immer in der Lage, waren Sie immer in der Lage, keine falschen Rücksichten nehmen zu müssen?
    Pott: Also, so weit würde ich nicht gehen, dass ich immer in der Lage war, alles das zu sagen, was ich hätte sagen sollen. Etwa im Blick auf die Präsenz der syrischen Besatzungsarmee im Libanon. Denn es hat vor meiner Zeit immer wieder Fälle gegeben, wo Journalisten von dem syrischen Militärgeheimdienst gefangen genommen worden sind und in einzelnen Fällen auch das nicht überlebt haben.
    Dennoch habe ich eigentlich mich in der Berichterstattung und auch in der Kommentierung doch sehr frei gefühlt und kein Blatt vor den Mund genommen. Und auch im Blick auf den israelisch-arabischen Konflikt sehr deutlich Position bezogen habe im Sinne der Unteilbarkeit des Völkerrechts und auch der Menschenrechte. Das war so meine Orientierungslinie.
    Wentzien: Werden die Medien heutzutage, die Sie ja als Rezipient wahrnehmen, der Komplexität dieser Inhalte gerecht? Sie haben es ein bisschen angedeutet. Das ist ja nicht weniger komplex geworden seither.
    Pott: Nein, es ist noch sehr viel komplexer, sehr viel unübersichtlicher, sehr viel gefährlicher geworden. Die Medien haben sich auch verändert, die Menschen, die für uns aus den Regionen berichten, sind zahlreicher geworden, die Programme haben sich geändert. Es kommt wirklich auf das Medium an, ob man sich gut informiert fühlt oder nicht.
    Der Kalte Krieg ist Gott sei Dank vorbei. Dennoch hat er uns vieles erleichtert.
    Alte und neue Machtgefüge im Nahen Osten
    Wentzien: Realpolitik ist ja ein Wort, das Sie auch Zeit Ihres Lebens begleitet hat und das auch in diesen Tagen in aller Munde ist. Das sind Staaten und das sind deren Interessen. Wenn wir das Stichwort Komplexität gerade genannt haben und auf diese Region, die ja Ihre zweite Heimat auch geworden ist, schauen und die Gegenwart im Nahen Osten, wissen wir denn inzwischen mehr, wo die Wurzeln dieser Konflikte liegen? Und wissen wir etwas darüber, wie möglicherweise Lösungen, Friedenslösungen dort zu erreichen wären?
    Pott: Also, ich glaube, dass niemand aus dem Publikum wirklich sich orientieren kann mit dem, was er oder sie hört oder liest aus der Region, ohne zu wissen, welche historischen Hintergründe hier eine Rolle spielen. Das gilt für den Palästina-Israel-Konflikt ebenso wie die Konflikte zwischen Mehrheitsbevölkerungsgruppen und ethnischen und konfessionellen oder religiösen Minderheiten. Das können wir jetzt sehr gut studieren in der syrischen Krise.
    Der syrische Krieg oder irakische Krieg, so muss man es nennen, sind dadurch geprägt, dass hier verschiedene Konfliktebenen begangen werden, auf der lokalen Ebene, auf der nationalen Ebene, auf der regionalen Ebene und auf der internationalen Ebene. Und diese verschiedenen Ebenen muss man beschreiben und sie muss man auch ineinander oder miteinander in Verbindung setzen, sonst versteht man überhaupt nicht, wer warum wie handelt.
    "Die Fronten waren klar"
    Wentzien: Also sind die Teilnehmer mehr geworden? Und, oder hat sich die Wirkmächtigkeit der einzelnen Konflikte noch mal intensiviert? Ich möchte verstehen, was die Zeit damals und die Betrachtung seither verändert hat. Denn mein Eindruck ist: Wir wissen immer eigentlich noch nicht mehr und die Komplexität ist in einer immensen Menge gewachsen.
    Pott: Ja, also, ich glaube, man muss ganz klar darauf verweisen, dass damals der Kalte Krieg noch herrschte. Die Fronten waren klar, es gab die sogenannte Ablehnungsfront, die sich selbst qualifizierte als progressiv … die progressiven, die fortschrittlichen Ablehnungsfrontstaaten, die in der Regel von der Sowjetunion unterstützt wurden, und es gab die konservativen Ölmonarchien und eher nach Westen ausgerichtete Staaten in Nordafrika, die Maghreb-Staaten, die von den Europäern und vor allen Dingen den Amerikanern unterstützt wurden.
    Diese Frontlinie gibt es heute natürlich nicht mehr, wenngleich durch die Rolle Russlands in Syrien man Reminiszenzen erlebt. Und der arabisch-persische Konflikt, der heute sich durch den scheinbaren Gegensatz und die Rivalität zwischen Sunniten und schiitischen Muslimen hochschaukelt, der hat damals im Bewusstsein der Berichterstatter und auch der Welt eigentlich eine untergeordnete Rolle gespielt trotz dieses Iran-Irak-Krieges, der immerhin acht Jahre gedauert hat von 1980 bis 1988.
    Wentzien: Also, Sie würden sagen, der Kalte Krieg damals war so etwas wie ein ordnender Rahmen und jetzt ist quasi dieser Rahmen weg und alle Konflikte sind richtig bar zu betrachten?
    Pott: Ja, das Ganze wird auch dadurch viel schwerer einzuschätzen und perspektivisch zu werten, dass die Vereinigten Staaten von Amerika als Ordnungsmacht nicht mehr die Rolle spielen, die sie damals gespielt haben. Gegen den Willen Amerikas konnte zum Beispiel Saudi-Arabien nicht agieren damals, hätte dieses auch niemals gewagt, weil zu schwach. Das ist heute ganz anders, Saudi-Arabien betreibt eine eigenständige Außenpolitik und sieht sich durch die Politik von dem noch amtierenden Präsidenten Obama nicht in seinen Schutzbedürfnissen abgesichert. Und das Ergebnis ist das Abenteuer des Jemen-Krieges durch Saudi-Arabien, eines Konfliktherdes, der im Prinzip in unserem Bewusstsein und auch bei uns in der Berichterstattung so gut wie keine Rolle spielt, der aber ein ganzes Land verwüstet und ganze Generationen vernichtet.
    Wentzien: Auf Amerika und den ordnenden Rahmen kommen wir gleich, nur die Bitte um eine kurze Antwort an dieser Stelle: Herr Pott, es ist aber jetzt nicht so, dass Sie sagen: Für die Betrachtung und Problemlösung dieser Konflikte sehnten Sie sich den Kalten Krieg wieder her?
    Pott: Also, der Kalte Krieg ist Gott sei Dank vorbei, dennoch hat er uns vieles erleichtert. Es gab eine Stabilität sozusagen der Abschreckung und das alleine hat für eine Ordnung gesorgt. Und man kannte seine Pappenheimer, jene gehörten hierhin und die anderen dorthin. Und diese Übersichtlichkeit ist verschwunden.
    Sie hören das Zeitzeugengespräch im Deutschlandfunk, heute mit dem Publizisten und ehemaligen Nahostkorrespondenten Marcel Pott.
    Israel ist in der Region ein Fremdkörper. So betrachten die Nachbarstaaten diesen Staat.
    Der lange Weg zum Frieden zwischen Israel und Palästina
    Wentzien: 2003 haben Sie in Weimar eine Rede gehalten und dort noch mal ausgedrückt, was Sie für diese Region an Kernthesen und Entwicklungen erwarten. Sie sagten damals, die politische Temperatur im Nahen und Mittleren Osten wird in Palästina gemessen und an dieser Region kann man merken und fühlen und erspüren, wie es dort weitergeht und was passiert. Wenn wir Amerika andeuten und Europa mitdenken, was herrscht dort in Palästina im Moment für eine Temperatur und welche Rolle könnte der Doktor aus Europa spielen, gäbe es ihn denn?
    Pott: Der Kernkonflikt des Nahen Ostens, also, der Konflikt um und in Palästina zwischen dem Staat Israel und den palästinensischen Gruppierungen – es gibt ja unterschiedliche Gruppierungen – spielt gegenwärtig überhaupt keine Rolle in der veröffentlichten Meinung. Es ist an den Rand geschoben worden durch diese Konflikte in der Levante und im Zweistromland. Und das hängt natürlich auf der anderen Seite auch damit zusammen, dass der sogenannte Friedensprozess, der 1983 in Gang gesetzt worden ist durch die Oslo-Verträge zwischen Israel und der PLO, dass der im Sande verlaufen ist. Und dass auf israelischer Seite der Friedenswille, um es vorsichtig zu formulieren, der wirklich notwendig wäre, um einen territorialen Kompromiss, der tragfähig und lebensfähig wäre, zu erreichen, der ist sehr stark reduziert.
    Und auf palästinensischer Seite gibt es eine Spaltung zwischen der Hamas, der schiitischen Massenorganisation in Gaza, diese Organisation beherrscht den Gazastreifen und ist ein Rivale der sogenannten säkular orientierten nationalen Kräfte oder nationalistischen Kräfte der PLO. Und hier gibt es eine ganz unterschiedliche Ausrichtung:
    Die einen wollen einen territorialen Kompromissfrieden, das sind die Säkularen, wenn man das so sagen darf pauschal, und Hamas, die einen islamistischen Staat anstreben, sie wollen keinen historischen Ausgleich mit Israel, sie wollen die Rückeroberung der arabischen Gebiete, Palästinas, wozu Kernisrael auch gezählt wird. Sie sind allenfalls bereit, einen langfristig wirkenden Waffenstillstand zu schließen. Und das sind so die Positionen, die im Prinzip einen Fortgang des Friedensprozesses verhindern.
    "Obama ist an der Sturheit von Ministerpräsident Netanjahu gescheitert"
    Wentzien: Und wenn Sie sagen "an den Rand geschoben", heißt das ja nicht, dass dieser zentrale Konflikt in dieser Region in irgendeiner Art und Weise von jemandem bearbeitet wird oder mit Perspektiven versehen wird, sondern Sie beschreiben eine, ja, Ignoranz gegenüber diesem Konflikt, der aber genauso groß noch da ist, wie er immer schon war.
    Pott: Es ist tragisch im Grunde, denn diese Administration, die jetzt ihrem Ende entgegengeht in Washington unter Barack Obama, hat ja auch wie die vorhergehenden lange Jahre versucht, den Konflikt zu lösen, den Friedensprozess voranzutreiben. Und Obama ist letztlich auch an der Sturheit von Ministerpräsident Netanjahu gescheitert. Das ist ein Hauptgrund, aber auch auf palästinensischer Seite gab es wenig Bewegung. Und deswegen schwelt der Konflikt weiter fort und bleibt sehr gefährlich.
    Benjamin Netanyahu und Barack Obama, hier gemeinsam 2010.
    Benjamin Netanyahu und Barack Obama, hier gemeinsam 2010. (picture alliance/dpa/Moshe Milner Government Press Of)
    Wentzien: Gibt es irgendeine Aussicht auf Engagement für diese Region? Denn Amerika fällt im Moment aus, Europa ist im Moment noch nicht zu sehen. Wie lautet Ihre Aussicht für diesen zentralen Ort auf der Welt? Wird da jemals etwas passieren, das in eine Richtung von Verständigung geht?
    Pott: Je gefährlicher die Region für Israel in seiner Existenz ist und wird, desto weniger bereit ist die jeweilige israelische Regierung, eine Friedensregelung zu unterschreiben, die natürlich auch mit gewissen Sicherheitsrisiken verbunden sein wird. Eine Lösung kann nur dann erreicht werden, wenn Israel seinen Willen bekommt und ein Staat Palästina, der entschieden werden wird am Reißbrett, eine entmilitarisierte Zone ist und der Nachbarstaat Jordanien so stabil ist, dass hier nicht von Jordanien aus zusätzlich noch eine Bedrohung für Israels Existenz heraufziehen kann.
    Die Araber haben die Staatsgründung Israels seit 1948 als Landraub immer abgelehnt, die westlich beeinflusste Politik in dieser Region ist aus arabischer Sicht immer ungerecht gewesen. Das Ergebnis der Judenverfolgung in Europa, nicht nur der Holocaust, sondern generell der europäische Antisemitismus, der letztlich ja auch zum Zionismus geführt hat, hat bei den Arabern einen radikalen Antizionismus heraufbeschworen. Die israelische Politik und die Sicherheit des Staates Israel standen immer im Vordergrund westlicher Nahostpolitik und die arabischen Interessen kamen immer an zweiter Stelle.
    Es ist niemals versucht worden, Israel klar zu sagen: Ihr müsst einen Kompromiss schließen. Aus deutscher Seite erinnere ich ein Wort des ehemaligen Außenministers Klaus Kinkel, der mir mehrfach gesagt hat, dass wir als Deutsche nicht das Recht hätten, Israel an das Völkerrecht und an die Menschenrechte zu erinnern. Und ich bin da ganz anderer Meinung.
    Wentzien: Ja, Sie sagen, beides muss betrachtet werden. Aber es darf keine Schere im Kopf geben, sondern man muss dann auch Kritik laut und deutlich äußern können, wenn sie von einer Staatsräson und einem, sagen wir mal, Duktus von Beachtung auch notwendig ist. Marcel Pott, der Staatsbürger. Marcel Pott, werfen Sie der aktuellen Bundesregierung, den letzten Bundesregierungen unter der Überschrift dieser Staatsräson vor, dass sie zu dieser Kritik nicht fähig ist? Oder will sie diese Kritik gegenüber Israel nicht äußern?
    Pott: Die Position der Bundesregierung hat sich ja geändert, auch die Position der Bundeskanzlerin. Lange Zeit hat sie es verabsäumt, Herrn Netanjahu und andere Regierungschefs in Israel an ihre völkerrechtlichen Pflichten zu erinnern, aber die Siedlungspolitik in den besetzten arabischen Gebieten, die vor allen Dingen Netanjahu, aber auch seine Vorgänger massiv vorangetrieben haben, hat letztlich dazu geführt, dass alle Beteiligten in eine Sackgasse geraten sind.
    Die sogenannte Zweistaatenlösung ist nur möglich, wenn es auch ein zusammenhängendes Staatsgebiet für die Palästinenser geben kann in ihrem eigenen Staat. Und es sind inzwischen so viele Siedlungen entstanden in der West Bank, im Westjordanland, dass man den Zweifel haben muss, dass überhaupt die Zweistaatenlösung noch realisierbar ist, die bisher natürlich auch nicht gewünscht war. Und die Siedlungspolitik geschehen zu lassen, das ist die eigentliche Verantwortung, die man den Amerikanern, aber auch den Europäern und auch den deutschen Bundesregierungen zuweisen muss, vor allen Dingen vor dem Hintergrund, dass die Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel auf allen Gebieten sehr eng und intensiv ist.
    "Der Staat Israel ist ein Experiment"
    Wentzien: Lassen Sie uns an der Stelle einen kleinen Punkt machen am Kapitel Israel und Palästina und es abschließen bitte mit Ihrer Antwort auf die Frage: Wird Israel auch in zehn, 20 Jahren noch eine Sonderrolle haben?
    Pott: Israel ist in der Region ein Fremdkörper, so betrachten die Nachbarstaaten diesen Staat. Ob es gelingt, mit Israel einen Modus Vivendi zu finden, wird davon abhängen, erstens ob Israel das will, aber vor allen Dingen auch davon, ob die arabischen Staaten, die dann noch existieren werden, bereit sind, Israel in seiner Mitte zu akzeptieren. Und diese Akzeptanz ist bisher nicht zu erkennen. Denn vor allen Dingen muss man ja eins sehen: Die Kräfte, die jetzt am Werk sind in der Region unter dem Schlagwort des politischen Islams, die sind israel- und judenfeindlich. Und das ist natürlich die allerletzte Voraussetzung, um hier zu einem Ausgleich und einem Grundverständnis zu kommen.
    Wentzien: Also, den Fremdkörper wird es auch in 20 Jahren noch geben?
    Pott: Es gibt Stimmen, die sehr pessimistisch sind, die sagen: Der Staat Israel ist ein Experiment, was nur gelingen kann, wenn es einen friedlichen Ausgleich gibt, wenn es gelingt zu sagen, hier, das ist unser Land und dort ist Palästina und das wird von der gesamten arabischen Welt respektiert. Solange das nicht gegeben ist, bleibt Israel ein Feindesland. Und wenn man sich die demografische Entwicklung anschaut in der Region, dann wird Israel eigentlich immer kleiner werden. Und die Gefahr, dass es eines Tages demografisch gar nicht mehr sich selbst regieren kann, es sei denn, es wird zu einem brutalen Apartheidsstaat, weil die arabische Bevölkerung in Israel und auch in den besetzten Gebieten so stark gewachsen ist, dass die jüdische Bevölkerung in die Minderheit gerät, die ist natürlich da. Und ein binationaler, israelisch-arabischer Staat würde natürlich immer eine ganz andere Form annehmen, als das, was wir heute unter Israel kennen und verstehen.
    Wenn wir sehen, dass Einflüsse aus anderen Ländern hierüberschwappen und wie sich die grundsätzliche Bereitschaft, bei der Wahrheit zu bleiben, verflüchtigt, dann wird mir angst und bange.
    Der Aufstieg des Populismus in einer komplexen Welt
    Wentzien: Frank-Walter Steinmeier, der Außenminister der Bundesregierung, ist jetzt unsere Brücke, Herr Pott, bitte, mit seinem Wort, dem Motto seines Buches. "Flugschreiber" heißt es, und dieses Wort lautet: Es sind zu viele mit dem Streichholz unterwegs, anstatt den Feuerlöscher zu benutzen. – Wenn Sie als journalistischer Beobachter, journalistischer Außenpolitiker und mit Ihrer Expertise und Erfahrung auf die deutsche Innenpolitik schauen und auf die amerikanischen aktuellen Entwicklungen beispielsweise, sind in der Summe zu viele in Deutschland und auf der Welt mit den Streichhölzern unterwegs und zu wenige mit dem Feuerlöscher?
    Pott: Ich glaube, dass wir in einer Phase uns befinden, in der die tatsachenorientierte Bewertung von gesellschaftlichen und politischen Vorgängen häufig in den Hintergrund geschoben werden. Gefühle, spontane Unmutsäußerungen, die Ich-Betroffenheit steht im Vordergrund in einer ich-bezogenen Gesellschaft, wo der Einzelne häufig nicht mehr erkennt, dass er eigentlich nur frei atmen kann, wenn die Gemeinschaft, aus der er heraus lebt, auch funktioniert, und dass jeder Einzelne dazu beitragen muss, dass das übergeordnete Ganze funktioniert.
    Und ich glaube, dass dieser egozentrische Standpunkt, der immer mehr Einzug gehalten hat in unserer Gesellschaft, in Verbindung natürlich auch mit neoliberalen Wirtschaftsideen, dass der von großem Übel ist und dass Aufklärung nottut. Und dass auf der anderen Seite die Komplexität des modernen Lebens, der Druck, der auf die Menschen wirkt, zu funktionieren, diese Entfremdung gleichzeitig auch zwischen einem großen Teil der Gesellschaft und der sogenannten Elite miterklärt. Und diejenigen bei uns, in unserer Gesellschaft, die sich zu kurz gekommen fühlen, die muss man bei der Hand nehmen und sie muss man ernst nehmen und mit ihnen muss man reden und ihnen auch zeigen, dass man ihre Probleme ernst nimmt. Und ich glaube, dass das zu wenig geschehen ist und dass das jetzt geschehen muss, um zu verhindern, dass der Populismus bei uns den Sieg davonträgt.
    "Wir müssen klar sehen, dass jeder Einzelne Verantwortung trägt"
    Wentzien: Würden Sie sagen, das wäre eine sozialtherapeutische Aufgabe für Politiker oder für Journalisten, die Sie gerade beschrieben haben, das Ernst-Nehmen, das An-die-Hand-Nehmen?
    Pott: Ich glaube, das gilt für alle gesellschaftlich relevanten Kräfte. Es fängt in den Elternhäusern an und geht über die Schule und die Medien oder jene Einrichtungen, die für die Informationsübermittlung zuständig sind – und ob wir jetzt Medienleute sind, Journalisten, Politiker, Ärzte, Lehrer oder Installateure –, wir müssen klar sehen, dass jeder Einzelne Verantwortung trägt und sein Scherflein dazu beitragen muss. Ich will jetzt hier keine Predigt von mir geben, aber die Grundverantwortung, das Grundethos, dass eine Gesellschaft nur funktionieren kann im Zusammenwirken und in der Befriedigung aller relevanter und auch berechtigter Interessen, das scheint mir unerlässlich zu sein.
    Und wenn wir uns anschauen, wie bestimmte politische Bewegungen sich in Deutschland verhalten, wenn wir sehen, dass Einflüsse aus anderen Ländern hierüberschwappen wie zum Beispiel der Le-Penismus aus Frankreich und wie sich die grundsätzliche Bereitschaft, bei der Wahrheit zu bleiben, verflüchtigt, dann wird mir angst und bange.
    Marine Le Pen, Kandidatin des Front National für die Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2017, spricht zur Presse.
    Marine Le Pen, Kandidatin des Front National für die Präsidentschaftswahl in Frankreich 2017 (AFP/Alain Jocard)
    Wentzien: Sind Sie optimistisch, sind Sie voller Zweifel?
    Pott: Ich sehe in der Wahl von Donald Trump in Amerika ein Warnzeichen für uns selbst, für Deutschland und für Europa, zu verhindern, dass man mit populistischen Sentenzen die Macht erlangen kann, ohne gesagt zu haben, wo man hinwill und wozu man diese Macht, die man dann demokratisch sozusagen errungen hat, gebrauchen will. Und deswegen müssen wir verhindern, dass eine solche Wahl bei uns möglich wird.
    Wentzien: Sie haben eine Welt beschrieben und gelebt im großen Bezugsrahmen des Kalten Krieges. Sie haben jetzt eine Welt beschrieben in der Gegenwart, die noch mal komplexer wurden in Abwesenheit dieses großen Ordnungsrahmens. Ist es jetzt möglicherweise ein Zeitpunkt einer erneuten Zeitenwende hin zu einer noch mal gesteigerten neuen Unübersichtlichkeit?
    Pott: Die Situation im Nahen und Mittleren Osten ist gefährlich, weil, es gibt wenig Kräfte, die insgesamt Ordnung schaffen können und eine Stabilität herbeiführen können, die letztlich dann zur Ruhe führt und die Europäer und die Welt dazu befähigt, mit der Region Pläne zu machen. Das Hauptproblem besteht darin, dass es keine anerkannte Staatsform gibt. Es gibt keine Regierungs- und Staatsform, die von allen akzeptiert werden würde.
    Ich will Ihnen ein Beispiel sagen: Die Gruppierungen, die religiös ausgerichtet sind, die in Aleppo kämpfen gegen die Russen und gegen die syrische Armee und gegen Hisbollah, der schiitischen Massenorganisation, die vom Iran finanziert und unterstützt wird. Das sind Menschen, deren Staatsvorstellungen wir nicht kennen, aber die im Zweifel einen islamistischen oder sogar dschihadistisch orientierten islamischen Staat einrichten wollen. Ist der islamische Staat, so wie die Dschihadisten ihn heute verstehen, das Modell der Zukunft? Bleibt uns dann nur noch die von Houellebecq prognostizierte Unterwerfung? Das ist keine Zukunftsperspektive, die wir akzeptieren können.
    Wentzien: Ist eigentlich – wenn ich jetzt mal einen kleinen, von hier aus, Summenstrich ziehen möchte – aus dem Journalisten und Korrespondenten und Kriegsberichterstatter und Experten jetzt wieder der Anwalt Marcel Pott geworden, ein Anwalt, der für Verständlichkeit und für Verstehen plädiert, um wirklich diese Region, Ihre zweite Heimat, den Nahen Osten zu verstehen?
    Pott: So könnte man das formulieren. Mein Credo ist vor allen Dingen, die Region angesichts ihrer Komplexität differenziert zu betrachten und dieses Schwarz-Weiß-Denken beiseitezulassen. Denn das verführt dazu, auch einfache, holzschnittartige Lösungen anzustreben, die alles noch viel schlimmer machen. Ich denke, dass wir die Bedürfnisse der Völker und Gruppierungen, die aktiv sind in der Region, ernst zu nehmen haben. Aber ein Staats- und Gesellschaftsmodell westlicher Prägung können wir ihnen nicht oktroyieren. Sie sind auf der Suche nach einem eigenen Modell. Und dieses Modell wird nur dann lebensfähig und dauerhaft sein können, wenn es die islamische Tradition mit der Moderne versöhnt. Und das ist bisher nirgendwo gelungen.
    Wentzien: Vielen Dank an Marcel Pott. Und ich probiers noch mal: Shukran!
    Pott: Tikram aynik!
    Wentzien: Vielen Dank!
    Pott: Bitte sehr, ich habe zu danken!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.