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Maren Wurster: "Das Fell"
Physische Wucht

Schweiß, Rotz, Blut und ein unter Juckreiz wachsendes Rückenfell der Heldin: Maren Wurster will in ihrem Debüt beim Leser sinnliche Erfahrungen hervorrufen - was erstaunlich gut gelingt. Ob das Fell als Symbol für Widerstandskraft oder Streichelbedürfnis steht, bleibt offen.

Von Florian Felix Weyh | 24.07.2017
    Buchcover Maren Wurster: Das Fell
    Die Verwandlung der Heldin in Maren Wursters Debut "Das Fell" hat mit Kafka nichts zu tun. (Hanser Berlin / imago/Gottfried Czepluch)
    Manchmal muss der Rezensent sich fest vornehmen, in seinem Text einen bestimmten Namen, eine Referenzgröße zu vermeiden, weil damit die Erwartung des Publikums auf die falsche Fährte gelockt würde. Der Name beginnt mit "K" und endet irgendwie mit "ka" – aber darüber sei nun wirklich der Mantel des Schweigens gedeckt.
    "Das Fell" also, das Fell wächst Vic, Victoria, die in Berlin lebt, einen Bürojob hat und morgens einen Zungenschaber benutzt. Sie verspeist im Lauf des Buches auch Ameisen, unterzieht sich einem Wettrauchen, wer am schnellsten unter Verwendung der eigenen Lunge Tabak in Asche verwandeln kann, und hat überhaupt einen sehr physischen Zugang zum Leben. Während das Wettrauchen eher pubertär wirkt, ist ihr Umgang mit Verhütungsmitteln keineswegs der einer 16-Jährigen. Vic, um die 30, benutzt das Kondom Karls nämlich als Auffangbehälter, um sich nach dem Verkehr die Spermien heimlich zuzuführen. Karl will keine Kinder, er hat schon eine kleine Tochter, und was Vic will, ahnen wir aus solchen Verhaltensweisen. Zuallererst will sie natürlich Karl, ihren Freund, ganz für sich behalten, doch der ist - statt wie vereinbart mit ihr in Urlaub zu fahren - mit Kind und Ex-Frau in deren elterliches Ferienhaus an der Ostsee geflohen. Alle Leitungen sind gekappt, auch die Kanäle der sozialen Medien tot.
    Realistische Darstellung einer symbolischen Erfindung
    Im realen Leben würde man sagen: Da hat jemand Schluss gemacht, ohne es auszusprechen, aber diesen brutalen Gedanken versagt sich Vic. Stattdessen setzt sie sich aufs Fahrrad, um von Berlin aus an die Ostsee zu radeln; die Lage des Ferienhauses kennt sie. Mehrere Tage dauert das und wirft die Frage auf, warum sie angesichts quälender Ungewissheit kein schnelleres Verkehrsmittel benutzt. Weil es so lange dauern muss! Es ist eine dramaturgische Setzung der Autorin, damit Vic ein Fell bekommen kann, auf dem Rücken zwischen den Schulterblättern, und binnen dreier Stunden im Regio zwischen Berlin und Usedom wäre das wenig wahrscheinlich. Eine Hypertrichose, so der medizinische Begriff, vermag Haare auch nicht schneller wachsen zu lassen als Haare nun mal biologisch wachsen.
    Wäre das Ganze nur eine Metapher, könnte das natürlich auch rasch passieren, doch Maren Wurster bemüht sich darum, ihre literarische wie symbolische Erfindung in einen möglichst realistischen Rahmen einzubetten.
    Sinnliche Erfahrungen heraufbeschwören
    Das ist überhaupt Ziel des Buches: eine Beobachtungsprosa voller physischer Wucht abzuliefern. Nicht das Bild zählt, nicht Vics eher banale Erlebnisse auf der Tour, sondern der Geruch, der Geschmack, die haptische Textur der Welt – plus die sich immer stärker in den Vordergrund drängende eigene Körperlichkeit der Heldin. Maren Wurster kommt aus der Filmbranche und will mit ihrem Buchdebüt ganz offensichtlich ein Manko des visuellen Mediums ausgleichen - dessen Vernachlässigung nichtvisueller und unakustischer Sinneseindrücke. Natürlich verströmt ihr Buch keine Ausdünstung, aber wo das Bild genauso mittels Wort heraufbeschworen werden muss wie der Geruch, hat letzterer eine gute Chance, sich beim Leser als sinnliche Erfahrung zu synthetisieren. Das funktioniert erstaunlich gut und lässt über die kaum vorhandene Handlung dieses Erstlings hinwegsehen. Schweiß, Rotz, Urin, Blut und die sich unter Juckreiz verändernde Haut des Rückens behaupten den ästhetischen Vorrang der Literatur vor dem Film.
    Mensch-Tier-Metamorphose - aber keine Nähe zu Kafka
    Am Ende steht Vic vor dem überraschten Karl in der Ostsee-Dämmerung, will ihn eigentlich mit einem Stein verletzen, tut es aber nicht. Die Aggression widerspricht der metaphorischen Botschaft ihrer Verwandlung ein wenig, denn ein schönes Fell soll doch dazu animieren, gestreichelt zu werden, wäre also Ausdruck einer offen gezeigten Liebesbedürftigkeit. Aber vielleicht meint die Autorin auch, dass sich ihre Heldin ein dickes Fell wachsen lassen müsse, um die Abkehr des Geliebten zu ertragen. Psychologisch wie inhaltlich bleibt das offen, und mit dem eingangs verschwiegenen Kafka hat diese Verwandlung gar nichts zu tun, obschon man bei Mensch-Tier-Metamorphosen sofort an Gregor Samsa denkt. Das ist der Fluch der literarischen Tradition, der auf jedem Debütanten lastet. Allerdings lastet auch die Zuweisung der Verlags-PR auf diesem Text, die noch dazu in die Irre geht: Natürlich setzt nicht die Autorin Maren Wurster "mit gespannter Kraft eines Tieres zum Sprung an", sondern deren Heldin Vic beim Showdown. Aber immerhin: Aufmerksamkeit ist damit gewonnen und vielleicht auch eine Bresche zu Leserinnen und Lesern geschlagen, die weniger das Diskrete als körperliche Sekrete in der Literatur bevorzugen.