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Marguerite Duras. Biographie

"Ich schreibe", hatte die Duras bekundet, "um mein Ich ins Buch zu verlagern. Um meine Bedeutung zu verringern. Damit das Buch an meine Stelle trete. Um mich bei der Geburt des Buches zu massakrieren, zu vergeuden, zu ruinieren. Mich verständlich zu machen. (...) In dem Maße, wie ich schreibe, existiere ich weniger." Ein Credo wie aus der Feder Maurice Blanchots, für den das Schreiben ebenfalls zu den Übungen der Selbstverzehrung gehört. Marguerite Duras unterzog sich ihnen in 54 Büchern.

Bernd Mattheus | 08.10.2000
    Ihr Leben, das am 4.April 1914 in Gia Dinh nahe Saigon begann, bietet zweifellos Stoff für mehr als einen Roman. Marguerite Germaine Donnadieu hatte früh verwitwete Eltern. Ihre Mutter, Marie Obscur, war noch verheiratet, als sie nach Cochinchina, dem heutigen Vietnam, ausreiste, um dort als Lehrerin im Kolonialdienst zu arbeiten. Als sich ihr künftiger Vater, Henri Donnadieu, der Direktor der staatlichen Schulbehörde, in Marie verliebte, starb dessen erste Frau, mit der er zwei Söhne hatte. Im Alter von sechs Monaten hat Marguerite ihr erstes Trennungserlebnis, da ihre erkrankte Mutter für 8 Monate nach Frankreich zurückkehren muß. Die Kinder, d.h. Marguerite sowie ihre älteren Brüder Paul und Pierre werden von Dienstboten aufgezogen, weil Marie an der staatlichen Mädchenschule von Saigon unterrichtet. Aus dem Schwemmland von Gia Dinh zieht die Familie 1917 nach Hanoi um, ins "tropische Paris", wo man Henri Donnadieu zum Direktor des Grundschulwesens ernannt hat. Da Marguerites Mutter keine Anstellung findet, erwirbt sie auf Kredit ein Haus, in dem sie eine Privatschule betreibt. Die Tochter wächst folglich im Milieu von Zöglingen aus begüterten Familien Hanois auf, wo sie als 4jährige von einem 11jährigen Vietnamesen verführt wird. "Dieser traumatische Augenblick aus ihrer frühen Kindheit", kommentiert Laure Adler, "wird sie nachhaltig prägen.(...) Für die Frau der Genuß des Gesehenwerdens, für den Mann ein Sichhineinsteigern in eine einsame und alles überflutende Lust. In der sexuellen Beziehung bleibt jeder für sich." Wenn Adler weiter unten, sich auf ein Interview der Duras berufend, dagegen den Bruder Paul als die Person benennt, der Marguerite in die Sexualität einweihte, fällt eine gewisse Unstimmigkeit auf.

    Im nächsten Akt dieser "unsäglichen Kindheit" ziehen die Donnadieu 1920 nach Pnom Penh um, wo sie einen riesigen Wohnsitz mit Park bewohnen. Marguerite wird von ihrer Mutter unterrichtet. Im Frühjahr 1921 kehrt ihr stets kränkelnder Vater in die Heimat zurück. Er zieht sich in sein Haus in Pardaillan bei Duras (Departement Lot-et-Garonne) zum Sterben zurück. Im Alter von 7 Jahren ist Marguerite Halbwaise. Ihre Mutter erachtet es nicht für nötig, zur Bestattung ihres Mannes nach Frankreich zu reisen. Erst im folgenden Jahr, als Marie ihren regulären Urlaub antritt, lernt Marguerite die Heimat ihres Vaters und das Gut Platier in der Gemeinde Duras kennen: in ihren ersten Roman, "Die Schamlosen", werden Eindrücke aus diesem zweijährigen Landaufenthalt einfließen. Ende des Jahres 1924 lebt Marie Donnadieu mit ihren 3 Kindern wieder in einer Außenstation Cochinchinas, in Vin Long, wo man sie als Rektorin der Mädchenschule eingesetzt hat. Marguerites Brüder brechen die Schule ab, beginnen den Tag am späten Nachmittag, um nachts umherzustreunen. Die Aggressivität ihres ältesten Bruders Pierre wird so unerträglich, daß man ihn nach Frankreich zurückschickt. Vier Jahre später versetzt man die Mutter nach Sadec, wo sie als Rektorin der Mädchenschule waltet. Pierre, der spontan in den Schoß der Familie zurückgekehrt ist, enerviert sie zwar, gleichzeitig aber bevorzugt und protegiert sie diese Inkarnation der Boshaftigkeit und des Schmarotzertums, bringt er doch ihr Geld in den Opiumhöhlen durch.

    Ende 1928 erwirbt Marie ein Reisfeld bei Prey Nop in Kambodscha. Gleichzeitig läßt sie auf ihrem Land am Golf von Siam einen Bungalow aus Holz errichten. Marguerite führt dort mit ihrem Bruder Paul ein wildes Leben, die beiden töten Affen und Vögel, Reptilien, Raubkatzen. Zwei Jahre benötigt Marie Donnadieu bis sie begreift, daß man sie betrogen hat: das Land ist unbestellbar, da es jährlich von Überschwemmungen heimgesucht wird. Angesichts der Erkenntnis, daß sie die Ersparnisse von 10 Jahren Arbeit in den Wogen des Stillen Ozeans versenkt hat, verliert sie fast den Verstand. "In meiner Kindheit", wird die Duras schreiben, "hat das Unglück meiner Mutter den Platz des Traums eingenommen." Diesen veritablen Alptraum gestaltet sie 1950 in ihrem Roman "Heiße Küste".

    Die 15jährige Marguerite wird auf das Gymnasium von Saigon geschickt. Sie logiert dort in der Pension einer alten lüsternen Jungfer, die sich regelmäßig vor der Kleinen exhibiert. Obwohl sie französische Eltern hat, verleihen die grünen, schräggeschnittenen Augen dem Antlitz der 1,50 m kleinen, brünetten Person etwas Kreolisches (merkwürdigerweise wird sich diese asiatische Physiognomie der Duras im Alter stärker ausprägen). Im Saigon des Jahres '29 widerfährt der zierlichen Schönheit, was unter dem Titel Der Liebhaber inzwischen in die Weltliteratur eingegangen ist. Das Tagebuch der Schülerin über diese zwei Jahre währende Affäre mit einem älteren reichen Chinesen schließt Zweifel am Wahrheitsgehalt des Buchs aus. Zudem konnte Laure Adler in Sadec den Neffen des Amant ausfindig machen, der ihr das blaue Haus zeigte, sie zu dessen Grab führte. Nicht allein, daß der reale "Léo" ein häßlicher Mann war, nein, die ganze ‚Liebesgeschichte' erschöpft sich darin, daß die verarmte Familie Marguerite regelrecht verkuppelt, um an Bargeld zu kommen. Zum Dank dafür, daß sie sich auf das Spiel einläßt, erntet sie von der Mutter und Pierre Beschimpfungen und Schläge.

    Als Marguerite Ende 1933 in Paris zu studieren beginnt - Rechtswissenschaften, Mathematik, Politik -, kehrt sie Indochina für immer den Rücken. Im Sommer 1938 beginnt die diplomierte Politikwissenschaftlerin als Hilfskraft im Kolonialministerium zu arbeiten. Im Auftrag dieser Behörde schreibt sie L'empire français (1940), ein patriotisches Propagandawerk. Im November '40 kündigt sie ihre Anstellung und bezieht mit ihrem Mann, Robert Antelme, im Viertel Saint-Germain-des-Prés eine gemeinsame Wohnung. Während des Krieges wird die Rue Saint-Benoît Nr. 5 zum Versteck von Résistance-Kämpfern.

    Seit ihrem ersten Roman, "Die Schamlosen", der 1943 bei Plon erscheint, entscheidet sich die Autorin für das Pseudonym Duras: es gewährt genügend Distanz zum Familiennamen, verweist aber gleichzeitig auf die Landschaft des Vaters. Im Jahr '42 wird sie mit zwei Todesfällen konfrontiert: ihr Kind mit Antelme stirbt nach der Geburt; in Saigon ihr Bruder Paul. Während sie im Komitee zur Organisation des Buchwesens arbeitet, lernt sie den Gallimard-Lektor Dionys Mascolo kennen, mit dem sie eine Liaison eingeht. Marguerite führt mit Robert, der ebenfalls seine Nebenbeziehung hat, quasi eine offene Ehe. Antelme befreundet sich mit Mascolo, ohne zu wissen, daß es sich um den Liebhaber seiner Frau handelt. Verrat innerhalb des Widerstandsnetzes führt im Juni '44 zur Verhaftung Antelmes durch die Gestapo. François Mitterand bewahrte Mme. Antelme vor dem gleichen Schicksal. Marguerite ist der PCF beigetreten, leidet unter schweren Depressionen auf Grund der Ungewißheit um Roberts Schicksal. Im Mai '45 holt Mascolo den zum Skelett abgemagerten Antelme aus dem KZ Dachau ab. Die unmittelbare Konfrontation mit den Schrecken des Nazismus läßt die Duras sich mit dissen Opfern identifizieren: ihre Romanfiguren Lol V.Stein und Aurelia Steiner haben ihr reales Vorbild in Kindern, die im Lager zur Welt kamen, während ihre Mütter starben.

    Als im Juni '47 Jean, genannt Outa, ihr Sohn mit Mascolo geboren wird, nennt sich Marguerite, nach der Scheidung von Antelme, wieder Donnadieu. In der Rue Saint-Benoît führt sie ein offenes Haus: Raymond Queneau, Edgar Morin, Maurice Merleau-Ponty, Michel Leiris, Georges Bataille, Clara Malraux, Jorge Semprun, Francis Ponge, Elio Vittorini zählen zu ihren Gästen. In den 50er Jahren werden Maurice Blanchot, Jacques Lacan, Roland Barthes, Louis-René des Forêts u.a. den Freundeskreis erweitern. Die Duras wird als lebendig, fröhlich, gastfreundlich, aber auch als autoritär beschrieben. 1956 bricht sie mit Dionys wegen notorischer Untreue. Exzesse, Sauftouren, Schläge kennzeichnen ihre Passion zu dem Journalisten und Romancier Gérard Jarlot im folgenden Jahr, dem sie das Etikett "Lügenmann" verpassen wird. Mit Moderato cantabile, 1958 bei Minuit publiziert, wird eine stilistische Zäsur offensichtlich, eine Lösung vom Realismus Faulkners und Vittorinis, was dazu führt, daß man sie den Nouveau romanciers zuordnet. Freilich sind die Ähnlichkeiten mit Beckett, Blanchot und Bataille ungleich größer. Den Tod ihrer Mutter nimmt sie scheinbar emotionslos auf, doch seit diesem Datum trinkt sie forciert. 1959 beginnt sie sogar eine Psychoanalyse, bricht diese aber mit der lakonischen Bemerkung ab, daß Schreiben ja ihre Selbst-Therapie sei. "Schreiben bedeutet für mich", notierte sie Jahre später, "mit der Krise die Krise durchzustehen. Da ich schnell schreibe, verläßt mich die Krise also nicht."

    Mit der Verfilmung von "Heiße Küste" stellt sich endlich auch der materielle Erfolg ein, der es ihr gestattet, 1960 ein Landhaus in Neauphle-le-Château (Departement Seine-et-Oise) zu erwerben. 1963 kommt eine weitere Rückzugshöhle im normannischen Seebad Trouville hinzu, wo sie sich im ‚Roches Noires', einem Grandhotel, in dem einst Proust abgestiegen war, ein kleines Appartement kauft. Die 50jährige Duras, bei der man Leberzirrhose diagnostiziert, macht ihre erste Alkoholentziehungskur. In zunehmenden Maße wird ihr der flüssige Stoff zum Lebens-Mittel, Therapeutikum, Ersatz für menschliche Wärme, Erotik. Aber obwohl sie immer wieder rückfällig wird, schreibt sie unentwegt, sei es für das Theater, sei es für Fernsehen und Radio. Der Mai 1968 läßt sie aufleben: flankiert von Mascolo, Blanchot und Morin nimmt sie an den Demonstrationen der Studenten teil - in der Hoffnung auf die Abschaffung des Staates! Gut ein Jahrzehnt lang wird der Film für die Autorin zum Medium ihrer Wahl, persönlich führt sie dagegen das Leben eines vergessenen, vereinsamten ehemaligen Stars, dem der Fernseher und Billigwein Gesellschaft leisten. 1976 nimmt sie eine 5wöchige Entgiftung auf sich, wird rückfällig und trinkt pausenlos. Adler nennt die Duras nun einen "erhabenen weiblichen Clochard". Dieser schreibt imaginäre Liebesbriefe und kämpft, nach einer flüchtigen Phase der Abstinenz, mit Antidepressiva plus Alkohol gegen seine suizidale Stimmung an. 1980, als man sie 3 Monate lang im Krankenhaus von Saint-Germain-en-Laye wieder aufbaut, nimmt sie Kontakt zu einem jungen Verehrer auf, dem 27jährigen Bretonen Yann, der Marguerites künftiger Begleiter, Liebhaber, Filmschauspieler, Chauffeur sein wird. Ihre letzte Passion - mit der Betonung auf dem Qualvollen, denn dieser Liebhaber lebt seinen homosexuellen Neigungen. Marguerite und Yann reden und trinken nun exzessiv zu zweit. Manchmal ist ihr Tremor so groß, daß sie dem Mann ihre Texte diktieren muß. Belustigt registriert sie , die ihre Kleidung nicht mehr wechselt, ihre Clochardisierung. Während sie - "in unbändiger Freude" - 1982 Die Krankheit Tod zu Papier bringt, ißt sie nichts mehr, hat aber dafür ihr tägliches Quantum auf 6-8 Liter schlechten Bordeaux gesteigert. Als sie im Oktober des Jahres das Pariser Hôpital américain nach dreiwöchigem Entzug erschöpft verläßt, werden Halluzinationen zu ihren künftigen Schatten gehören.

    Seit dem internationalen Erfolg des "Liebhabers", ursprünglich als Kommentare zu Familienfotos konzipiert, spricht die Schriftstellerin nur noch in der 3. Person, als "die Duras" von sich. Das schmale, 1984 mit dem Goncourt ausgezeichnete Werk macht sie zur Auflagenmillionärin. Zwar kauft sie in Paris Wohnungen, bezieht jedoch keine davon und beläßt die Rue Saint-Benoît in ihrem ursprünglichen Zustand. Die beachtliche öffentliche Anerkennung verhindert nicht, daß sie in Gesellschaft Yanns wieder ihre täglichen 6-8 Liter Wein hinunterschüttet. "Dieser Absturz war genußvoll", kommentiert sie. Von Oktober 1988 an verbringt sie, auf Leben und Tod erkrankt, 9 Monate im Pariser Hôpital Laennec. Eines Lungenemphysems wegen muß sie für den Rest ihrer Tage eine Sauerstoff-Flasche in Reichweite haben. Ihrem Wunsch gemäß bestattet man sie, 1996, neben ihrem Bruder Pierre.

    Ohne Zweifel stellt Laure Adlers Biographie der Duras bis auf weiteres das Referenzwerk dar. Allerdings gelingt es der akribischen Chronistin nicht, diesen von außen betrachtet paradox anmutenden Lebensweg schlüssig zu deuten. Wenn die Tochter der Mutter ihren Roman Heiße Küste zur Begutachtung aushändigt - und, wie nicht anders zu erwarten, mit Beschimpfungen bedacht wird -, wenn sie die nach Frankreich zurückgekehrte Marie Donnadieu häufig besucht, wird da nicht deutlich, wie sehr die reife Frau noch immer - vergebens - um die Liebe der Mutter bettelt? Zum einen versuchte die Künstlerin auf kreative Weise das narzißtische Defizit auszugleichen, das darin bestand, daß die Mutter Pierre stets Marguerite vorzog. Da sie nicht einmal die Berufswahl der Tochter anerkennen kann, bleibt die narzißtische Strategie, mit Hilfe des Übergangsobjekts Flasche einen Ersatz für das Mutter-Universum der frühen Kindheit zu schaffen, zu simulieren. Der Alkohol verspricht ihr Autonomie, anders gesagt: die Rückkehr in das inzestuöse Mutter-Kind-Universum unter Ausschluß des Anderen.

    Auf einem losen Zettel hatte die Duras festgehalten: "Ich sage nichts. (...) Vom Wesentlichen nichts. Es ist da, unbenannt, unversehrt."