Dienstag, 23. April 2024

Archiv

Mario Vargas Llosa
"Der Ruf der Horde"

Wer den vermeintlich einfachen Antworten nicht folgen will, muss und darf seinen Verstand einsetzen. Und der wird inspiriert durch die Gedanken Anderer, z.B. die der liberalen Vordenker. Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa führt aus, wie das bei ihm funktioniert hat.

Von Änne Seidel | 17.06.2019
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa
Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa (imago stock&people)
Eins vorweg: Der Untertitel dieses Buches führt etwas in die Irre. Eine klassische Autobiographie ist Mario Vargas Llosas jüngstes Werk nicht. "Der Ruf der Horde" ist eher seine ganz persönliche Geschichte des Liberalismus, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Objektivität. Der peruanische Literaturnobelpreisträger stellt hier mehrere liberale Denker vor: Es sind seine Helden - die Männer, die seine politischen Überzeugungen geformt und geprägt haben.
In seiner Jugend war Vargas Llosa Anhänger des Marxismus, verteidigte und unterstützte Fidel Castro und die Kubanische Revolution. Bis er erkennen musste, dass der Kommunismus den Kubanern nicht die erhoffte Freiheit gebracht hatte. Er ging also bei den großen Theoretikern des Liberalismus in die Schule und gelangte schließlich zu folgender Erkenntnis:
"Seit ihren Anfängen steht die liberale Lehre für die am weitesten entwickelte Form der demokratischen Kultur, und in den freien Gesellschaften hat sie auch die größten Fortschritte gebracht: bei den Menschenrechten, der Meinungsfreiheit, den Rechten sexueller, religiöser und politischer Minderheiten, dem Umweltschutz und der Bürgerpartizipation im öffentlichen Leben. Sie ist es, mit anderen Worten, die uns wie keine andere geschützt hat vor dem ewigen 'Ruf der Horde'."
... also den Verlockungen des Populismus, der für komplexe Probleme einfache Lösungen anbiete und so die Massen verführe. Der Preis für diese vermeintlichen Lösungen aber sei hoch: Denn bezahlt werde mit nichts geringerem als der eigenen Freiheit.
Die Auseinandersetzung mit Intellektuellen
Seinen Wandel vom Marxisten zum Liberalen beschreibt Vargas Llosa rückblickend als "langjährigen intellektuellen Prozess". Auf diesem Weg begleitet haben ihn eben jene sieben Denker, denen er sich in diesem Buch widmet - darunter Adam Smith, der berühmte Urvater des Liberalismus, aber auch hierzulande weniger bekannte Autoren des 20. Jahrhunderts wie der Spanier José Ortega y Gasset oder die Franzosen Raymond Aron und Jean-François Revel. Vargas Llosa stellt ihre Schriften vor, fasst ihre wichtigsten Thesen zusammen, ergänzt das Ganze um biografische Details und die eine oder andere Anekdote. So schildert er etwa, wie er mit der britischen Premierministerin Margaret Thatcher zu Abend aß oder wie er den russisch-britischen Philosophen Isaiah Berlin auf einem Kongress persönlich traf:
"Die Leute überhäuften ihn mit Komplimenten, und er nahm sie errötend entgegen. Ich hatte eine Reihe von Artikeln über ihn geschrieben, zusammengefasst später als Vorwort für die spanische Ausgabe von 'Der Igel und der Fuchs', und darin war ich so tapsig gewesen, seinen Geburtsort von Lettland nach Litauen zu verlegen. 'Nicht so schlimm', sprang er mir mit seiner Gutmütigkeit bei, 'als ich geboren wurde, war das ja alles Russland'."
Auch wenn nicht zu überlesen ist, dass Vargas Llosa seine sieben Lehrmeister zutiefst verehrt – er betreibt mit diesem Buch keinen Fan-Kult, versucht auch nicht, seinen Ikonen ein unumstößliches Denkmal zu errichten. Hier setzt sich ein Intellektueller kritisch und auf Augenhöhe mit anderen Intellektuellen auseinander - und das endet auch mal im Dissens: So kritisiert Vargas Llosa, dass Friedrich August von Hayek nicht zwischen demokratischem und totalitärem Sozialismus unterschied, sondern beide gleichermaßen verabscheute. Und er teilt auch nicht den Pessimismus eines Jean-François Revel, der Anfang der 80er Jahre den baldigen Untergang der Demokratien prophezeite – obwohl Vargas Llosa die offenen Gesellschaften durch Terrorismus und Populismus durchaus bedroht sieht.
Skepsis in Bezug auf das Eigene erlaubt Toleranz für das Andere
Der peruanische Autor verrät in "Der Ruf der Horde" zwar nur wenig über sich selbst. Aber wer zwischen den Zeilen liest, bekommt trotzdem ein gutes Bild von seinem Selbstverständnis als Intellektuellem. Klar ist: Vargas Llosa liebt die Kontroverse, nichts läge ihm ferner als ein unreflektiertes Abnicken der Thesen anderer. Und das war wohl auch einer der Hauptgründe, warum er schließlich zum Liberalismus fand – denn für einen echten Liberalen, so Vargas Llosa, gebe es eben keine unumstößlichen Wahrheiten:
"Ein Liberaler ist sich bewusst, dass 'wir nicht alle Lösungen kennen' und dass nicht sicher ist, ob unsere Antworten immer die besten und richtigsten sind, nicht einmal, dass sich überhaupt Antworten finden lassen auf all die Fragen, die wir uns zu so vielen unterschiedlichen Dingen stellen. [...] Ein Liberaler ist 'in mancher Hinsicht im Grunde ein Skeptiker', einer, der selbst jene Wahrheiten, die ihm am teuersten sind, als vorläufig ansieht. Eben diese Skepsis in Bezug auf das Eigene erlaubt ihm, sich gegenüber anderen Überzeugungen und Anschauungen tolerant und versöhnlich zu zeigen, sosehr sie auch von den eigenen abweichen."
Der Liberalismus ist für Mario Vargas Llosa also weit mehr als die Forderung nach einem schlanken Staat und einem freien Markt - er ist eine Geisteshaltung, eine Philosophie, die alle Bereiche des Lebens umfasst. Und so ist "Der Ruf der Horde" auch ein Appell an heutige Politiker, zu diesem allumfassenden Ansatz der liberalen Lehre zurückzukehren:
"Es gibt vieles, was heutige Liberale von Ortega y Gasset und seinen Ideen lernen können. Vor allem wiederentdecken, dass der Liberalismus – anders als all jene anzunehmen scheinen, die ihn partout auf ein ökonomisches Rezept reduzieren wollen – zuallererst eine Haltung gegenüber dem Leben und der Gesellschaft ist: gegründet auf Toleranz und Respekt, auf die Liebe zur Kultur und den Willen zum friedlichen Miteinander, auf die entschiedene Verteidigung der Freiheit als höchsten Wert."
Als Schriftsteller und Journalist interessiert Mario Vargas Llosa übrigens nicht nur, was seine Lehrmeister schrieben, sondern auch wie sie es schrieben. Immer wieder analysiert er die Machart der zitierten Schriften; lobt die klare und verständliche Sprache von bereits verstorbenen Autoren wie Raymond Aron oder Jean-François Revel, deren Texte er im öffentlichen Diskurs sehr vermisst. Denn in der heutigen Öffentlichkeit beobachtet Vargas Llosa eine zunehmende Entfremdung zwischen intellektuellen Eliten und dem breiten Publikum – und das sei auch ein Problem der Sprache:
"Heute sind die Intellektuellen Spezialisten, die für Spezialisten schreiben, und zwischen ihrem Wissen, das sich hinter den Mauern einer oft okkulten Rhetorik verschanzt, und dem immer billigeren und fragwürdigeren Produkt, das über die Medien das große Publikum erreicht, scheint der Graben unüberwindlich. Es war wahrlich eine Großtat von Raymond Aron, dass er sein Leben lang eine Brücke über diesen Abgrund schlug, der auf erschreckende Weise nur noch tiefer wird."
"Der Ruf der Horde" ist ein origineller Ritt durch die Thesen des Liberalismus - ein Buch keineswegs nur für FDP-Wähler. Sondern für alle, die Freude haben am intellektuellen Diskurs und bereit sind, eigene Überzeugungen ins Wanken zu bringen. Ein Buch für all jene, die dem "Ruf der Horde" nicht folgen mögen.
Mario Vargas Llosa: "Der Ruf der Horde. Eine intellektuelle Autobiografie",
Suhrkamp Verlag, 315 Seiten, 24 Euro.