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"Mario Vargas Llosa ist ein überzeugter Demokrat"

Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa wurde mit dem Literaturnobelpreis geehrt. Die Lektorin und Südamerika-Kennerin Michi Strausfeld zählt Llosas Werk nicht zum magischen Realismus. Llosas sei ein realistischer Erzähler, der vor allem Machtstrukturen immer wieder analysiert und mitunter anprangert.

Michi Strausfeld im Gespräch mit Karin Fischer | 07.10.2010
    Fischer: 1971 hat er über das Werk von Gabriel Garcia Marquez promoviert, heute gehört er mit ihm längst zu den größten lateinamerikanischen Schriftstellern. Marquez hat den Literaturnobelpreis schon 1982 bekommen, nun ist es also der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa, der geehrt wurde und der sich mit dem Älteren übrigens unter anderem über die Frage des Umgangs mit Fidel Castro ziemlich überworfen hat.

    Die Begründung der Jury lässt vermuten, dass hier ein politischer Autor gewürdigt wird: Bilder des Widerstands und der Revolte, Kartografie der Machtstrukturen, heißt es in der Begründung.

    Michi Strausfeld ist heute Lektorin bei Fischer und hat viele Jahre lang im Suhrkamp-Verlag das Südamerika-Programm und auch Vargas Llosa betreut. Wie würden Sie den Erzähler gegenüber dem engagierten Autor gewichten, habe ich sie vor der Sendung gefragt?

    Michi Strausfeld: Mario Vargas Llosa hat ein sehr breit gefächertes literarisches Werk. Es gibt eben die Romane über die Stadt Lima, es gibt die Romane über die Anden, es gibt die Romane über den peruanischen Urwald. Das Werk reist in der großen Vielfalt vor allen Dingen eben um Peru und es ist richtig, dass er immer wieder Machtstrukturen analysiert. Von seinem ersten Roman an, "Die Stadt und die Hunde", der 1962 erschien, war es klar, dass Mario Vargas Llosa Macht misstraut und Machtmissbrauch in jeder Form zu entlarven versucht, und das hat er in vielen seinen Büchern getan - ganz besonders prägnant in einem Roman, der nicht in Peru spielt, sondern in der Dominikanischen Republik, "Das Fest des Ziegenbocks", wo er die Diktatur von Trujillo minutiös analysiert und anprangert.

    Fischer: Das Wort vom "magischen Realismus" als Erzählform in Lateinamerika ist schon ein Klischee geworden. Es gibt ein breiteres Spektrum von Handschriften. Ein Epochengemälde ist das, was man Vargas Llosa immer zugeschrieben hat. Was und wie erzählt er?

    Strausfeld: Mario Vargas Llosa gehört absolut nicht in die Rubrik "magischer Realismus". Er ist ein sehr realistischer Erzähler und er ist ein Erzähler, der sich sehr genau dokumentiert. Wenn er über den Urwald schreibt, dann war er dort und hat das selber alles gesehen, hat sich Notizen gemacht, hat sich seine Gedanken gemacht. Das Gleiche gilt für die Anden oder das gilt für Brasilien, als er den Roman schrieb "Der Krieg am Ende der Welt". Also er ist ein realistischer Erzähler, der fest verankert ist in der Wirklichkeit und davon ausgehend seine literarischen Kreationen entwirft. Charakteristisch für sein Schaffen ist vor allen Dingen die große Kraft, unterschiedliche Dinge zusammenzubringen, und zwar durch die Struktur seiner Romane und die dennoch den Leser immer an der Hand weiterführt. Er hat mal gesagt, er würde gerne den totalen Roman schreiben, also das Romanuniversum, was in einem Kopf entsteht, alles wiedergeben. Aber es ist ein Romanuniversum, was ganz real auf konkreten Tatsachen und auf konkreten Fakten beruht.

    Fischer: Sie haben das jetzt schon mehrfach gesagt, dass er einen ganzen Kosmos eigentlich durchschritten hat, von der Geschichte der Amazonas-Indianer über Diktaturen, Erotik und Humor bis hin zu politischen Kolumnen und Essays, seinem Irak-Tagebuch, oder auch Theaterstücken. Gibt es für Sie ein wichtigstes, ein exemplarisches Werk?

    Strausfeld: Das ist natürlich jetzt eine Gretchenfrage, wo man sofort Probleme bekommt. Ich müsste mindestens drei Bücher nennen. Ich war immer eine große Anhängerin des Romans "Das grüne Haus". Ich glaube, "Gespräch in der Kathedrale" ist ein unverzichtbarer Roman, um Peru zu verstehen. "Das Fest des Ziegenbocks" über die Diktatur von Trujillo ist so überwältigend, dass man wirklich danach nur nach Luft zu schnappen versucht. Das ist ein ganz großartiges Buch, und so gibt es viele. Er ist eben so unterschiedlich und jedes Mal führt er uns in eine andere Welt, und diese Welt ist dann stimmig und überzeugend und faszinierend.

    Fischer: Die Entscheidung der Jury, nach Herta Müller in diesem Jahr Mario Vargas Llosa zu ehren, zeigt doch eigentlich eine Linie auf, nämlich auch er ist ein politischer Schriftsteller, er hat deutliche Kritik an der Rassen- und Klassengesellschaft geäußert, aber auch gegen die linken Diktaturen Lateinamerikas angeschrieben. Beides - und auch das Erbe des Kolonialismus - ist in Lateinamerika heute noch im Jahr des Bicentenarios zu spüren. Wie politisch ist für Sie die Entscheidung des Nobelpreiskomitees?

    Strausfeld: Mario Vargas Llosa ist ein überzeugter Demokrat und überall verteidigt er die Demokratie.

    Fischer: Auch ein liberaler Demokrat.

    Strausfeld: Ich glaube, einige Leute sagen, er ist zu liberal, andere haben andere Einwände. Ich glaube, er ist von Grund auf ein Demokrat und er mischt sich eben ein in dem Sinne des engagierten Intellektuellen, wie das damals in den 60er- und 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts üblich war. Er hat eine moralische Grundhaltung, und die merkt man vor allen Dingen in seinen politischen Artikeln. Aber die politischen Artikel ist eine Facette seines Werkes und sie ist ihm sehr, sehr wichtig, und die andere Facette ist eben das literarische Werk, und das ist das, was heute geehrt wird, vor allem, nehme ich an, von den Schweden. Und dass er die Machtstrukturen so auseinanderdividiert, das hängt sicherlich mit persönlichen Erfahrungen auch zusammen, weil er als Kind in der Kadettenanstalt Leoncio Prado in Lima eben zum ersten Mal mit brutaler Macht konfrontiert wurde und seitdem die tiefste Abneigung gegen jede Art von Machtmissbrauch oder Usurpation und so weiter hat. Das erklärt sein großes demokratisches Engagement.

    Fischer: Michi Strausfeld, Expertin und Lektorin für lateinamerikanische Literatur, war das zum Literaturnobelpreis an Mario Vargas Llosa.