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Mariss Jansons dirigiert Rachmaninow
Um Leben und Tod

Dirigent Mariss Jansons verbindet in seinen Interpretationen Sorgfalt und glühende Leidenschaft. Davon profitiert auch die neue Rachmaninow-Aufnahme mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Sie fesselt den Hörer mit ihrem Klangsinn und ihrer Ausdruckskraft.

Am Mikrofon: Marcus Stäbler | 14.01.2018
    Mariss Jansons beim Neujahrskonzert 2012 in Wien.
    Der Dirigent Mariss Jansons (picture alliance / dpa / Herbert Neubauer)
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Der Dirigent Mariss Jansons feiert heute seinen 75. Geburtstag. Zu diesem Anlass hat das Label BR-Klassik eine Konzertaufnahme mit Werken von Sergej Rachmaninow veröffentlicht.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Abseits der Bühne wirkt Mariss Jansons eher zurückhaltend und nicht besonders glamourös. Aber auf dem Podium entfaltet er ein Charisma und eine Energie, der man sich kaum entziehen kann. Auch deshalb gilt der lettische Dirigent als Liebling der Spitzenorchester. Als die Berliner Philharmoniker 2015 einen Nachfolger für Simon Rattle suchten, wurde Jansons als Favorit gehandelt. Doch kurz vor der Wahl verlängerte er damals seinen Vertrag als Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks bis 2021. Sicher auch, um den Kampf für einen neuen Konzertsaal in München fortführen zu können. Vor allem aber aus Verbundenheit zum Orchester, das sich unter seiner Leitung dauerhaft in der Weltspitze etabliert hat.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Dieses Top-Niveau und das fruchtbare Miteinander von Orchester und Dirigent sind auch auf der neuen Konzertaufnahme zu spüren. Das erste Stück des Programms ist Sergej Rachmaninows groß angelegte Kantate "Die Glocken", nach dem frei ins Russische übersetzten Gedicht "The Bells" von Edgar Allen Poe. Rachmaninow vertont die Schlittenfahrt zu Beginn des Stücks mit einem Mix aus irisierenden Streichertremoli und dem Glitzern von Glockenspiel, Triangel und Celesta. Diese Farben mischt Jansons mit seinem Orchester zu einem raffinierten Winterklangzauber.
    Musik: Sergej Rachmaninow, "Die Glocken", op. 35
    Der Tenor Oleg Dolgov und der Chor und das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks feiern einen "windesschnellen" Schlitten und das Klingeln der Schellenglöckchen im ersten Satz der Kantate "Die Glocken" von Sergej Rachmaninow, dirigiert von Mariss Jansons. Die rasante Schlittenfahrt markiert den Start einer rund vierzigminütigen musikalischen Reise. Sie führt den Hörer – angelehnt an Edgar Allen Poes Gedicht "The Bells" - in vier Etappen durch verschiedene Lebensphasen des Menschen. Auf die Silberglöckchen der Kindheit folgen die goldenen Hochzeitsglocken und die Alarmglocken der Katastrophen und Konflikte, bevor eine eiserne Glocke schließlich den Tod einläutet.
    Jansons hat Händchen für hervorragende Sänger
    Sergej Rachmaninow erzählt diese metaphorische Geschichte in einer opulenten, spätromantischen Klangsprache und erweitert die Besetzung von Chor und Orchester in drei Sätzen des Stücks um vokale Solopartien. Mariss Jansons hat sie mit hervorragenden russischen Sängern besetzt. Oleg Dolgov vereint einen maskulinen Kern mit tenoralem Schmelz, die Sopranistin Tatiana Pawlowskaja beeindruckt mit ihrer Leuchtkraft und Alexey Markov verströmt baritonale Wärme, wenn er im letzten Satz die Ruhe der Todesgruft besingt, sensibel begleitet von Jansons und dem Orchester und dem Summen des Chores
    Musik: Sergej Rachmaninow, "Die Glocken", op. 35
    Am Ende des Lebens hat der Mensch seinen Frieden gefunden. Sergej Rachmaninow bettet die letzten Worte auf weiche Klänge von Streichern, Flöte und Harfe. Die Kämpfe und die dramatischen Momente des Lebens sind überwunden. Sie hat der Komponist vor allem im dritten Satz seiner Kantate "Die Glocken" beschworen. Mit Chor und Orchester malt er dort das Schreckensszenario einer Feuerkatastrophe, mit nächtlichem Sturmläuten und schreienden Menschen, als Abbild von Elend und existenziellen Ängsten. Wie Sergej Rachmaninow hier grelle Farbeffekte einsetzt und extreme dynamische Kontraste ausreizt, das erinnert an manche "Dies Irae"-Passagen aus Requiem-Vertonungen des 19. Jahrhunderts. Mariss Jansons führt den Chor und das Orchester des Bayerischen Rundfunks durch eine packende und höllenfeurige Interpretation, in der es spürbar um Leben und Tod geht, wahrt dabei aber trotzdem immer die Klangdisziplin und eine gute Balance.
    Musik: Sergej Rachmaninow, "Die Glocken", op. 35
    Der Beginn des Presto-Satzes aus Sergej Rachmaninows "Die Glocken" mit dem Chor und Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Mariss Jansons. Der heute 75-jährige Dirigent durchlebt die Emotionen und die Erregungskurven der Musik mit Leib und Seele. Seine bedingungslose Hingabe hätte ihn schon einmal fast das Leben gekostet, als er während einer Aufführung von Puccinis Oper "La Bohème" im Jahr 1996 einen Herzinfarkt erlitt. Seither dosiert Jansons seine Opernauftritte sparsam, aber nicht sein Temperament.
    Am Dirigentenpult immer unter Volldampf
    Das hat er nach eigener Auskunft genau eine halbe Probe lang probiert und dann gemerkt, er könne einfach nicht vorsichtig sein und fünfzig Prozent geben. Sobald er den Taktstock in die Hand nimmt, durchglüht Jansons ein unwiderstehlicher Ausdruckswille, den er allerdings niemals als Diktator mit eiserner Strenge durchsetzt. Anders als sein Lehrer Jewgenij Mrawinsky ist er kein gefürchteter Zuchtmeister, sondern setzt auf den Dialog und überzeugt seine Musiker in freundlichem Ton. Dafür gehen sie mit ihm durch Dick und Dünn, sei es nun beim Amsterdamer Concertgebouw Orchester, wo er zwölf Jahre lang Chefdirigent war oder eben in München beim BR-Symphonieorchester.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Das zweite Stück in der Konzertaufnahme vom Bayerischen Rundfunk sind die Symphonischen Tänze von Sergej Rachmaninow. Das letzte Werk des damals 67-jährigen Komponisten, entstanden 1940 im amerikanischen Exil, drei Jahre vor seinem Tod und oft durchsetzt von einem Ton des Schicksals. Der Walzer im zweiten Satz klingt alles andere als leichtfüßig. Der tänzerische Schwung kann sich nie ganz unbeschwert entfalten, sondern wird immer wieder von der Last der Melancholie gebremst.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Mariss Jansons kostet die Farbwechsel der Musik mit feinen Nuancen aus und kann sich dabei blind auf das Orchester verlassen. Die Präzision im Zusammenspiel zeugt von einer sorgfältigen Vorbereitung. Nur an ganz wenigen, vereinzelten Stellen deuten sich die Risiken einer Konzertaufnahme an. Jansons ist ein bekennender Perfektionist, er probt bekanntermaßen sehr detailgenau. Aber nie um der Perfektion selbst willen, sondern um aus der souveränen Beherrschung der Partitur seine Freiheit für den Ausdruck zu gewinnen. Für den Moment, wenn das Stück im Konzert erklingt und in der Interpretation lebendig wird. Wie organisch Jansons die Musik aus sich heraus entwickelt, wie er das Tempo manchmal kurz ein bisschen zügelt, um gleich wieder voran zu drängen, und wie er so fesselnde Spannungsbögen formt, ist in der Aufnahme mehrfach zu erleben. Im Walzersatz beginnt die Steigerung zunächst ganz verhalten, in einem gedeckten Pianissimo-Ton.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Fesselndes Orchester der Luxusklasse
    Mit sicherer Hand variiert Mariss Jansons das Tempo und meidet die Kitschfallen, in die manche Kollegen tappen. Dabei folgen ihm die Musiker aufmerksam und bestätigen den hervorragenden Ruf des BR-Symphonieorchesters. Vor allem die Holzbläsersolisten haben reichlich Gelegenheit, das Luxusniveau des Klangkörpers zu demonstrieren. Auch im Mittelteil vom ersten Satz aus den Symphonischen Tänzen. Mit der Verbindung von Oboe, Klarinette und Altsaxofon schafft Rachmaninow dort eine idyllische Naturstimmung als Insel der Ruhe und der Hoffnung nach einem gespenstischen Ritt durch die Dunkelheit.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Im dritten und letzten Satz konfrontiert Sergej Rachmaninow Momente der Nostalgie und der herbstlichen Wehmut mit einem Totentanz. Darin greift er die gregorianische Melodie des "Dies Irae" auf, die er in wechselnder Gestalt als cantus firmus oder auch als Tarantella einführt und kurz vor Schluss in ein unruhiges Marschthema verwandelt. Der Totengesang hat jedoch nicht das letzte Wort. Ganz am Ende zitiert Rachmaninow sein eigenes Halleluja aus einem geistlichen Chorwerk und gibt dem Schluss damit eine religiöse Wendung. Mariss Jansons und sein Orchester musizieren auch hier mit jener fesselnden Dringlichkeit, die die ganze Aufnahme auszeichnet.
    Musik: Sergej Rachmaninow, Symphonische Tänze, op. 45
    Das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Leitung von Mariss Jansons, mit dem letzten der Symphonischen Tänze von Sergej Rachmaninow, zu hören in einer Konzertaufnahme, die zum 75. Geburtstag des Dirigenten beim Label BR-Klassik erschienen ist.
    Sergej Rachmaninow
    Die Glocken
    Symphonische Tänze
    Tatiana Pavlovskaya, Oleg Dolgov, Alexey Markov
    Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
    Leitung: Mariss Jansons
    BR-KLASSIK 900154