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Mariupol vor Minsk-Abkommen
"Heute wurde wieder geschossen"

Auch wenige Stunden vor Inkrafttreten der Vereinbarungen von Minsk seien in Mariupol Schüsse gefallen, berichtet die Übersetzerin Elena Konstantinova im DLF. Sie lebt in der ostukrainischen Hafenstadt. Und erlebt dort eine zweigeteilte Bevölkerung, die doch eines gemeinsam hat.

Elena Konstantinova im Gespräch mit Thielko Grieß | 14.02.2015
    Menschen stehen vor einem brennenden Gebäude in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol.
    Menschen stehen vor einem brennenden Gebäude in der ostukrainischen Hafenstadt Mariupol (Aufnahme vom 24. Januar 2015). (AFP / Stringer)
    Seit den Raketenangriffen auf Maripol am 24. Januar lebten die Menschen in Angst und Unruhe, dennoch blieben sie aber. Denn das Leben, so Elena Konstantinova, gehe weiter – wenngleich mit Unannehmlichkeiten: So gebe es Probleme beim Einkaufen, und wer die Stadt doch einmal verlassen wolle, müsse dies mit dem Auto tun. Eine direkte Eisenbahnverbindung sei inzwischen nicht mehr vorhanden, der Flugverkehr schon länger erlahmt.
    Damit der Osten ein Teil der Ukraine bleibt, müsse sich vor allem die Wirtschaft des Landes erfolgreich entwickeln, glaubt Elena Konstantinova. Noch setzten viele Menschen ihre Hoffnungen auf Russland und "Zar Putin", den Anteil dieser "Anhänger der alten Sowjetunion" schätzt sie auf 50 Prozent in Mariupol.
    Was die Dolmetscherin von dem Minsker Abkommen, das um Mitternacht (23 Uhr MEZ) in Kraft tritt, erwartet? "Natürlich hoffen wir alle, vielleicht ist es die letzte Chance auf Frieden." Aber man könne nicht sicher sein, dass die Vereinbarungen auch eingehalten werden.

    Das Interview in voller Länge:
    Thielko Grieß: In der Ukraine ist von einer Waffenruhe noch keine Rede. Laut den Vereinbarungen von Minsk muss das allerdings auch noch nicht so sein. Die Waffenruhe soll erst ab morgen, ab Sonntag gelten. Wir sind jetzt verbunden am Telefon mit Elena Konstantinova, sie ist Dolmetscherin, Übersetzerin, Dozentin gewesen an der Universität in Donetzk und jetzt zugeschaltet telefonisch aus Mariupol, der Hafenstadt am Asowschen Meer, das ist ein Teil des Schwarzen Meeres. Einen schönen guten Morgen nach Mariupol, Frau Konstantinova!
    Elena Konstantinova: Guten Morgen nach Deutschland!
    Grieß: Wir haben gestern Nachmittag miteinander telefoniert und dieses Gespräch vereinbart. Da haben Sie gesagt, man könne in Mariupol quasi ständig Gewehrschüsse, Gefechte hören. Ist das auch heute Morgen noch so?
    Konstantinova: Ja, heute Morgen und gestern Abend hat man wieder geschossen, und heute Morgen um fünf Uhr hörte ich ganz klar, dass geschossen wurde.
    Grieß: Wie läuft bei Ihnen in der Stadt das Leben ab. Inwieweit sind Sie in Mariupol beeinträchtigt dadurch, dass die Grenzlinien zwischen Separatisten und der ukrainischen Armee ja nicht sehr weit weg sind von Ihnen?
    Konstantinova: Das Leben läuft weiter, und nach dieser großen Tragödie am 24. Januar, die wir hier erlebt haben, als 30 Menschen gestorben waren, war die Stadt trotzdem nicht in Panik. Alle haben Angst, natürlich, alle sind unruhig, aber trotzdem bleiben alle in der Stadt, und das alltägliche Leben läuft weiter. Es gibt bestimmte Unbequemlichkeiten, Möglichkeiten, dass nicht alle Geschäfte funktionieren, Kleidungsgeschäfte in erster Linie, aber sonst kann man ruhig leben. Die Kinder gehen in die Schule, das Leben funktioniert weiter.
    Grieß: Wenn Sie sich informieren wollen über die Lage der Dinge, vielleicht auch über den Frontverlauf, woher nehmen Sie die Informationen, welchen Quellen vertrauen Sie?
    Vertrauen nur in Informationen aus erster Hand
    Konstantinova: Ich traue zurzeit fast keinen Quellen, ich traue nur den direkten Meldungen vom Militär, von den Freiwilligen-Bataillonen, wie sie genannt werden nun. Und auch den Volunteers, die dann ständig die Checkpoints besuchen und verschiedene Lebensmittel zu den Checkpoints bringen. Das sind die Menschen - ich vertraue nur den Informationen aus erster Hand, würde ich sagen.
    Grieß: Wir haben es gerade schon gesagt: Im Osten ist die Grenze zu Russland nicht allzu weit, und im Westen zur von Russland annektierten Krim auch nicht allzu weit, und Mariupol liegt in etwa dazwischen. Wie weit können Sie sich eigentlich bewegen aus der Stadt heraus?
    Konstantinova: Nachdem die Eisenbahnbrücke gesprengt wurde, gibt es keine direkte Eisenbahnverbindung zurzeit nach Mariupol. Wir fahren dann in die nächste Stadt, die liegt 40 Kilometer von Mariupol, und fahren mit den Zügen von da aus. Aber der Autoverkehr funktioniert nach wie vor. Die Flugzeuge haben wir natürlich schon seit Langem vergessen.
    Grieß: Die Flugzeuge haben Sie vergessen – die gibt es nicht mehr? Oder es gibt keinen Flugverkehr, meinen Sie.
    Konstantinova: Ja, seit Mai keinen mehr.
    Grieß: Das ist schon ein dreiviertel Jahr. Welche Hoffnung, Frau Konstantinova, setzen Sie in die Vereinbarungen, von denen die ganze Welt inzwischen spricht, den Vereinbarungen von Minsk, zweite Version?
    Konstantinova: Natürlich hoffen wir alle, und wir verstehen, dass es vielleicht die letzte Chance für den Frieden ist, aber ich kann nicht sagen, dass ich hundertprozentig sicher bin, dass diese Vereinbarungen eingehalten und umgesetzt werden. Zurzeit ist es kompliziert mir vorzustellen, dass in Donetzk die Wahlen nach den ukrainischen Gesetzen durchgeführt werden können. Und außerdem, während des ersten Waffenstillstands wurde trotzdem sehr viel geschossen, und die Separatisten haben noch mehr Waffen aus Russland bekommen.
    Der Donbass ist ein Teil der Ukraine
    Grieß: Haben Sie Vertrauen in die Führung Ihres eigenen Landes, der Ukraine, in den Präsidenten Poroschenko, in den Ministerpräsidenten Jazenjuk?
    Konstantinova: Schwer einzuschätzen. Natürlich kritisieren wir diese einerseits, nicht alles gefällt uns. In erster Linie sind die Reformen nicht so schnell gelaufen. Aber andererseits verstehen wir, wie kompliziert es für diese Menschen ist, die Situation im Land zu regeln, in erster Linie für den Präsidenten Poroschenko. Fünfzig zu fünfzig, so ist mein Verhältnis.
    Grieß: Fünfzig zu fünfzig. Wenn Sie mit Ihren Freunden, Ihren Verwandten sprechen - setzt sich da so langsam ein Gefühl durch, dass der Osten des Landes, der Donbass, der sogenannte, diese Gegend, die so hart umkämpft ist, dass der womöglich für die Ukraine künftig verloren sein könnte?
    Konstantinova: Ich habe selbst 20 Jahre lang in Donetzk gelebt, ich habe da studiert und an der Universität gearbeitet. Und ich kehre nach Donetzk nicht mehr zurück, weil ich ein kleines Kind habe, und es muss im Frieden und in der Ukraine aufwachsen. Ich glaube, dass die Rückkehr - ich bin fest überzeugt, dass es ein Teil von der Ukraine ist und dass es auch so später bleibt, aber dafür brauchen wir Zeit und dafür brauchen wir eine sehr erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung hier im Rest der Ukraine.
    Grieß: Und die wird schwierig natürlich zu erreichen sein. In Ihrer Stadt, in Mariupol leben ethnische Ukrainer gemeinsam mit ethnischen Russen zusammen. Das sind die größten Gruppen. Dann gibt es noch einige kleinere. Diese Gewalt, die um Sie herum sich abspielt in den vergangenen Monaten, reißt die eigentlich das Zusammenleben auseinander?
    Das ist eine Mentalitätsfrage
    Konstantinova: Nein. Eigentlich hatten wir im Donbass nie irgendwelche Probleme oder Ausbrüche oder Auseinandersetzung wegen verschiedener Nationalität. Wir hatten nie irgendwelchen Völkerstreit. Und jetzt teilt sich das alles nicht in die Nationalitäten, nicht, dass es die Ukrainer sind und dass es Russen sind. Es sind eher die Anhänger von der alten Sowjetunion, die jetzt Russland unterstützen. Und viele ethnische Russen unterstützen die Ukraine und meinen, dass sie Ukrainer sind.
    Grieß: Anhänger der alten Sowjetunion sagen Sie. Also das ist sozusagen eine Mentalitätshaltung. Ist die verbreitet, oder ist das eine kleine Minderheit bei Ihnen in Mariupol?
    Konstantinova: Das ist ziemlich weit verbreitet, und die Bevölkerung teilt sich auf hier fünfzig zu fünfzig. Einige nehmen die Ukraine nicht wahr, sie meinen, dass Russland ein starker Staat ist und der Zar Putin für sie alle Probleme löst. Das ist die alte sowjetische Einstellung, die alte sowjetische Mentalität, dass der Staat immer weiß, was der einfache Mensch zu tun hat. Und die zweite Hälfte übernimmt die Verantwortung für das Leben. Das ist wirklich nicht die ethnische, das sind nicht die ethnischen Auseinandersetzungen, sondern wirklich diese Mentalitätsfragen.
    Grieß: Danke schön, Elena Konstantinova. Dolmetscherin, Übersetzerin, lebt in Mariupol unter anderem. Heute Morgen telefonisch zugeschaltet. Die Telefonleitung war nicht die allerbeste, aber wir sind sehr, sehr froh, dass wir Sie erreicht haben und mit Ihnen sprechen konnten, Frau Konstantinova. Danke schön noch einmal, und wir wünschen alles Gute und ein gutes Wochenende. Möge der Waffenstillstand auch Sie erreichen, ab morgen!
    Konstantinova: Danke!
    Grieß: Alles Gute!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.