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Marius Petipas "Paquita"
Alles andere als langweilig

Der französisch-russische Tänzer und Choreograf Marius Petipa gilt als einer der Väter des klassischen Balletts, wie es im 19. Jahrhundert entstand. Die Geschichte von der schönen Zigeunerin ist ein romantischer Abendfüller. Nicht zeitgemäß? Von wegen: Die Aufführung in München lässt Wiebke Hüster in den höchsten Tönen schwärmen.

Von Wiebke Hüster | 14.12.2014
    Während literaturwissenschaftlich übereinstimmend angenommen wird, dass Shakespeares Dramen tatsächlich von ihm selbst geschrieben wurden und anderslautende Spekulationen romantische Spinnereien sind, ist das Rembrandt Research Project auch nach bereits vier veröffentlichten Katalogen dabei, Werk für Werk zu klären, wer in Rembrandts Werkstatt jeweils den Pinsel führte.
    Glücklich angekommen im Chaos solch komplizierter Ermittlungen, allerdings ohne sich dabei auf technologische Verfahren stützen zu können, ist seit wenigen Jahren erst die Ballettwelt. Kein Wunder, dass es so lange dauerte, bis Choreographen begannen, sich wirklich für die Rekonstruktion der Werke ihrer Vorgänger aus anderen Jahrhunderten zu interessieren. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts inszeniert sich der Tanz als Tanz um das Goldene Kalb der choreografischen Uraufführung. Alles muss seitdem neu sein, und wer immer einen "Schwanensee" brauchte, schrieb seinen eigenen Choreografen-Namen darunter und die juristisch folgenlose Formulierung "nach Marius Petipa und Lew Iwanow". Das geht natürlich auch weiterhin so durch, aber seit gestern liegt die künstlerische Latte für alle doch erheblich höher bei solchen Versuchen.
    Die atemberaubend schöne Rekonstruktion von Marius Petipas "Paquita" durch Alexei Ratmansky in München räumte gleich mit sämtlichen Vorurteilen gegen solche Unternehmungen auf. Als da wären: Das Ballett des 19. Jahrhunderts besteht zu großen Teilen aus Pantomime – und das ist eine Sprache, die wir heute nicht mehr verstehen und/oder lächerlich finden.
    Falsch! Zu Beginn des zweiten Aktes von "Paquita" spielt sich vor den Augen des entgeisterten Publikums eine Räuberpistole ab wie in den packendsten Historiendramen Hollywoods, mit abgenommenen Degen, lauernden Verbrechern, Weinflaschen, Schlafmitteln, heimlich vertauschten Gläsern, Geheimverstecken hinter verborgenen Wandtüren. Man versteht jedes unausgesprochene Wort.
    Zweites Vorurteil: Selbst wenn es funktioniert, handelt es sich um einen rückwärtsgewandten Angriff anti-avantgardistischer Ballett-Konservativer. Zunächst: Ja, es funktioniert. Die Geschichte um das von spanischen Zigeunern aufgezogene Waisenkind Paquita, das sich als verlorene Nichte des französischen Generals herausstellt und qua Liebesheirat aus der Zeltstadt im Tal der Stiere bei Saragossa in den adligen Palast ihres Onkels heimgeführt wird, hat Hollywood-Qualität, Penelope Cruz wäre eine phantastische Paquita.
    Viel wichtiger als die spannende Erzählung ist aber, mit welcher Verve diese Rekonstruktion das letzte Vorurteil gegen das 1881 uraufgeführte Original Petipas von der Bühne fegt. Nein, Petipa ist ganz und gar nicht langweilig klassizistisch, oder im Korsett seiner eigenen Bedeutung als Ballettmeister am Zarenhof eingeschnürt. Schon die Varianz an Tänzen sorgt für Staunen: Neben der Pantomime gibt es die den Folklore-Traditionen entlehnten Volkstänze, hier natürlich spanisch, dann die höfischen Gesellschaftstänze, die das letzte Bild im Festsaal des Generalspalasts beleben und schließlich die rein klassischen Variationen. Und auch da, im Akademischen: Welcher Reichtum an lange nicht oder noch nie gesehen Schritten, Sprüngen und Armbewegungen, welcher Charme, welche Spielfreude.
    Jérôme Kaplans luxuriöse Ausstattung macht den Zauber dieses großartig gelungenen Unternehmens perfekt. Bescheiden verbeugt sich Ratmansky inmitten der strahlenden Tänzer des Bayerischen Staatsballetts. Er hat bewiesen, woran er glaubt: Dass, was die Klassiker betrifft, es niemand besser wusste als Petipa.