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Marokko
Das Gegenkalifat des Königs

König Mohammed VI. kam einer Revolution von unten 2011 mit "Reformen von oben" zuvor. Vorgezogene Parlamentswahlen und eine Verfassungsreform haben Marokko stabilisiert. Auch sonst hat er eine Sonderstellung unter den afrikanischen Herrschern, denn er verurteilte in seiner jüngsten Rede den religiösen Extremismus scharf - und sieht sich dazu auch als religiöser Führer berechtigt.

Von Mark Thörner | 24.09.2016
    Marokkos König Mohammed VI. (28.6.2016).
    Marokkos König Mohammed VI. (dpa / picture alliance / Stringer)
    Es ist das altvertraute Bild. Mohammed VI. auf einem Thron mit hoher, goldverzierter Lehne. Rechts und links hinter ihm auf Rokokostühlchen die beiden Prinzen, der kleine und der große, der Sohn und der jüngere Bruder des Königs. Alles scheint so wie immer bei den Reden, die einmal im Jahr aus dem Palast gesendet werden, zum Gedenken an den marokkanischen Unabhängigkeitskampf.
    Noch ahnt niemand, dass gleich etwas kommt, was weit über diesen Anlass hinaus für Gesprächsstoff sorgen wird.
    "Liebes Volk", so spricht der Souverän protokollgemäß die Nicht-Souveräne an, die ihm, gemäß der Logik der marokkanischen Monarchie, Rechenschaft und Gehorsam schuldig sind. Er doziert über Wirtschaft, Außenpolitik und Entwicklungszusammenarbeit. Bis er auf einmal beginnt, vor laufender Kamera den Islam auszulegen.
    "Erlaubt es die Vernunft, zu glauben, dass der Dschihad durch den Genuss einer bestimmten Zahl himmlischer Jungfrauen belohnt wird? Erlaubt es der gesunde Menschenverstand, anzunehmen, dass, wer immer Musik hört, von den Eingeweiden der Erde verschlungen wird?"
    Je länger er in dieser Weise argumentiert, desto weniger wirkt der König wie ein König. Irgendwann hat es den Anschein, als richte er sein Wort nicht mehr von oben nach unten, von Herrscher zu Untertan, sondern als spreche er die Jugendlichen direkt an: die jungen Marokkaner in den Cafés von Casablanca, aber auch in den Discos von Paris und Nizza. Sozusagen von Stuhl zu Stuhl, ein imaginäres Erfrischungsgetränk in der Hand.
    Monarch ist in Personalunion auch Religionschef
    Erstmal das eigene Gehirn einschalten, die menschliche Vernunft gebrauchen, bevor es an die Interpretation heiliger Schriften geht. Diese Aufforderung hat nicht nur bei religiösen islamischen Autoritäten Seltenheitswert, auch aus dem Mund arabischer Staatschefs ist der Appell an die individuelle Vernunft der Menschen höchst selten
    Dabei ist gerade der König von Marokko nicht nur Staats-, sondern in Personalunion auch Religionschef. Einmal im Jahr nimmt er hoch zu Ross die Zeremonie der Unterwerfung ab, in Erinnerung an den Gefolgschaftsschwur, den die Urgemeinde von Medina dem Propheten Mohammed leistete. Dann verneigen sich die Würdenträger des Landes. Und der Prophetennachfolger lässt durch den Hofmarschall signalisieren, dass er die Unterwerfung annimmt.
    Doch als Kalif fällt der König von Marokko außerhalb des Landes nur wenigen auf. Aus gutem Grund. Bisher wurde die Religion von marokkanischen Monarchen eher zu innenpolitischen Zwecken instrumentalisiert.
    "Was die Arbeit der marokkanischen Modernisten ziemlich erschwert, ist: Unser politisches System hat es nicht geschafft, klare Akzente zu setzen"
    Mahnt Ahmed Assid an, Schriftsteller und in Marokko einer der profiliertesten Anhänger eines weltlich orientierten Systems.
    "Es geht diesem System nur um das Gleichgewicht der Macht, es tariert ständig zwischen Traditionalisten und Modernisten aus. Wenn es die Forderung nach mehr Demokratie gibt, benutzt es die Konservativen, um gegenzusteuern. Und sobald dann die religiöse Gewalt wächst, unterstützt es die Modernisten."
    König sieht Parlament allenfalls als Ratgeber
    Seit gut fünf Jahren regieren in Marokko Islamisten. Sie akzeptieren den König offiziell als religiösen Führer, während der König sie behandelt, wie in Marokko von jeher alle Politiker behandelt werden – als Ratgeber, deren Ideen Seine Majestät entweder folgen kann oder auch nicht. Seine Rede scheint nun einen öffentlichkeitswirksamen Akzent zu setzen.
    Mohammed VI. schlägt dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe. Er untermauert seine Machtbasis, seine Rolle als Religionschef. Gleichzeitig gräbt er den Extremisten das Wasser ab. Und stellt eines klar:
    "Zu den Voraussetzungen des Dschihad gehört, dass er vom Führer der Gläubigen ausgeht. Und nicht von irgendeinem anderen Individuum oder irgendeiner Gruppe."
    Mit anderen Worten: Er ist der Führer der Gläubigen. Er ist der Kalif. Er hat zu sagen, wann Dschihad ist und wann nicht. Und nicht irgendwelche Autodidakten, die irgendwo im Namen des Islams auftreten, egal, ob vor einem Millionenpublikum oder in Hinterhöfen.
    Dieser selbst gewählte Anspruch des Königs Mohammeds VI., Kalif der Aufklärung zu sein, hat aber auch eine realpolitische Ausrichtung. Er macht Front gegen das Terrorkalifat des IS und gegen afrikanische Extremisten wie die von Boko Haram.
    In der letzten Zeit hat sich die marokkanische Außenpolitik vor allem auf die afrikanischen Subsahara-Staaten konzentriert – Länder wie Mali, den Senegal die Elfenbeinküste, den Niger. Wer in einer Stadt wie Marrakesch über den legendären Platz der Gaukler und Märchenerzähler geht, der bekommt nicht nur einen musikalischen Eindruck davon, was für eine Drehscheibe unterschiedlicher Kulturen, Ideen und Lebensweisen Marokko ist.
    Diese Maghreb-Tradition des Islams ist eine, die man insgesamt wiederbeleben sollte, glaubt Ahmed Assid. Nicht zuletzt auch in Hinblick auf die muslimischen Einwanderer, die in Europa leben.
    "Es ist ausgesprochen wichtig, dass die nordafrikanischen Staaten eine Anstrengung unternehmen, die sich auf die muslimischen Gemeinschaften in Europa richtet. Man sollte ihnen den Maghreb-Islam schmackhaft machen. Denn der, dem sie in Europa ausgesetzt sind, hat nichts mit dem marokkanischen, algerischen oder tunesischen Islam zu tun. Das ist purer Wahabismus, der aus Saudi Arabien stammt. Und in Europa dank klingender Münze verbreitet wird."