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Marokko
Des Königs neuer Glaube

Mohammad VI. versucht, einen toleranten Islam zu verordnen. Er fördert den interreligiösen Dialog, Konversion wird nicht mehr mit dem Tode bestraft. Für diesen Kurs wird er im Ausland und von Vertretern anderer Religionen gelobt, die eigene Bevölkerung ist skeptisch.

Von Corinna Mühlstedt | 06.09.2017
    Mitglieder muslimischer Verbände in Marokko demonstrieren auf einer Kundgebung gegen religiösen Extremismus und Terrorismus. Ein Mann hält ein Foto von König Mohammed VI in den Händen.
    Mitglieder muslimischer Verbände in Marokko demonstrieren auf einer Kundgebung gegen religiösen Extremismus und Terrorismus. Ein Mann hält ein Foto von König Mohammed VI in den Händen. (imago / Pacific Press Agency)
    "König Mohammed VI. möchte hier in Marokko die Existenz von uns Christen unterstützen. Das gehört zum Geist der Toleranz, den er pflegt. Marokko will sich an die Spitze einer Bewegung stellen, die einen liberalen, toleranten Islam fördert und die Mystik, den Sufismus mit einbezieht. Zugleich grenzt man sich deutlich ab gegen radikale Strömungen wie die der Wahabiten." (Bernhard Coyault)
    "Die Öffnung für die Moderne, die Toleranz… all das sind komplexe Fragen, für die wir Muslime in Marokko Zeit brauchen. Wir setzen vor allem auf Bildung und Erziehung. Zukünftige Generationen werden sich leichter tun, Andersdenkende zu respektieren und ihre Freiheit zu achten. All das lässt sich nicht erzwingen, es braucht Zeit und muss wachsen. Wir sprechen über langfristige Strategien." (Aisha Haddou)
    "Der König hat in einer Rede der marokkanischen Jugend klar gesagt, dass alle drei Religionen, Judentum, Christentum und Islam, zu Marokko gehören. Als katholischer Mönch werde ich derzeit immer öfter von Muslimen zu Gesprächen eingeladen. Das ist positiv. Anfang 2016 fand in Marrakesch sogar ein internationales Symposium zu den Rechten religiöser Minderheiten statt." (Pater Jean-Pierre)
    Marrakesch. In der alten Königsstadt im Süden Marokkos, tummeln sich zwischen mittelalterlichen Lehmbauten und historischen Moscheen auf dem berühmten "Gaukler-Platz" Jemaa El Fna Schlangenbeschwörer, Händler und Bettler. Nur wenige Schritte weiter sieht man luxuriöse 5-Sterne-Hotels. Seit sich im 20. Jahrhundert Mitglieder der internationalen High Society in Marrakech niederließen, ist die Stadt ein Tourismusmagnet.
    Nährboden für Fundamentalismus
    Der äußere Kontrast spiegelt die sozialen Spannungen im Hintergrund. Sie sind ein Nährboden für den islamischen Fundamentalismus. 2011 kam es zu einem Anschlag auf ein Touristen-Café am Jemaa El Fna. Seither blieb es in Marrakech ruhig.
    Der zentrale Marktplatz Jemaa el Fna in Marrakesch, Marokko.
    Der zentrale Marktplatz Jemaa el Fna in Marrakesch, Marokko. (imago / imagebroker)
    In seinem Bemühen, der Propaganda des Extremismus den Boden zu entziehen, setze der marokkanische König nicht nur auf Sicherheitsmaßnahmen, sondern auch auf Dialog und Aufklärung, betont der apostolische Nuntius von Marokko, Vito Rallo:
    "Mohammed VI fordert die Angehörigen aller Religionen immer wieder nachdrücklich auf, eine gemeinsame Front gegen den Fanatismus der Jihadisten zu bilden. Er ermutigt die Marokkaner, einen toleranten Islam zu verteidigen, der ihrer eigenen Tradition gerecht wird. Der König hat die Attentate einen 'nicht zu verzeihenden Wahnsinn' genannt. "Wer den Koran benutze, um Gewalt und Aggression zu rechtfertigen", sei 'kein Moslem!'"
    Mehr als 90 Prozent der rund 35 Millionen Einwohner Marokkos bekennen sich zur sunnitischen Richtung des Islam. Die Angehörigen jüdischer Gemeinden und christlicher Kirchen bilden Minderheiten, die knapp ein Prozent der Bevölkerung umfassen.
    2016 lud König Mohammed Hunderte von führenden muslimischen Gelehrten aus 120 Ländern nach Marrakech ein, um die Situation religiöser Minderheiten in islamisch geprägten Staaten zu diskutieren und zu unterstützen.
    In einer Erklärung, die am Ende alle Teilnehmer verabschiedeten, heißt es:
    "Wer die Religion missbraucht, um in muslimischen Ländern gegen Minderheiten Gewalt anzuwenden, steht im Widerspruch zum Islam! … Angesichts der schweren Krisen, unter denen die Menschheit heute leidet, unterstreichen wir die dringende Notwendigkeit der Kooperation. … Wir rufen daher die Vertreter der verschiedenen Religionen und Konfessionen auf, gemeinsam allen Formen des Fanatismus entgegenzutreten."
    Deklaration der Hoffnung
    50 nicht-muslimische Beobachter aus verschiedenen Weltreligionen waren ebenfalls nach Marrakech eingeladen, so auch mehrere Kirchen-Vertreter. Die Reaktionen waren fast ausnahmslos positiv. Die Erklärung sei ein wichtiger Schritt, betont der Islamwissenschaftler und Jesuit Felix Körner:
    "Die Erklärung von Marrakesch hat eine große Überzeugungskraft. Sie bringt gute Argumente. Deshalb kann man damit rechnen, dass hier eine echte Wirkung erzielt wird. Dazu kommt noch, dass viele aus verschiedenen Ländern und Gruppierungen unterschrieben haben, das gibt dem auch noch mal Gewicht. Sie ist ein Dokument, das Hoffnungsträger ist, weil sie etwas Tolles sagt, aber sie muss auch noch weiter bekannt gemacht werden."
    Marokko ist ein Vielvölkerstaat: Die Nomadenstämme am Rand der Sahara gehören ebenso zum Land wie die Berber des Atlas Gebirges, das gleich hinter Marrakech beginnt. Zwischen Zedernwäldern und Hochplattaus liegen kleine Dörfer, in denen Berberfamilien als einfach Hirten, Bauern oder Landarbeiter leben. Nicht selten fehlt es hier an Bildungsmöglichkeiten. Denn in den Familien wird jede Arbeitskraft gebraucht, und der Weg in die Schule eines größeren Ortes ist schwer zu bewältigen.
    Wohlhabende Jugendliche in den Städten genießen dagegen alle Vorteile einer arabischen Hochkultur und finden dort ein breites Studienangebot. So liegt etwa in Ifrane, einer Kleinstadt im Atlas Gebirge, eine staatliche Elite-Universität, die in besonderer Weise den interreligiösen Dialog fördert: Al Akhawayn. Zum Universitätsgelände gehören eine Kapelle und eine Moschee. Letztere wird von Imam Slimane Khanjari betreut:
    Er erzählt: "In Marokko haben die Religionen immer in Frieden zusammen gelebt. Für mich gibt es deshalb keinen Zweifel: Jene Leute, die derzeit hier Chaos stiften, haben den Islam entweder missverstanden, oder sich im Herzen weit von ihr entfernt. Ein wirklicher Moslem, der seine Religion ernst nimmt, kann nichts tun, was Hass oder Zerstörung nach sich zieht. Denn unsere Religion lehrt uns Barmherzigkeit, Frieden und Liebe."
    Die Uni als Tür zur Welt
    Diese Ideale versuche man in der Universität an rund 2000 Studenten weiterzugeben, erklärt Slimane Khanjari. Fast 98Prozent der jungen Leute sind Marokkaner und Muslime, etwa 2 Prozent kommen aus anderen Ländern und Glaubensrichtungen.
    Für sie ist die amerikanische Professorin Karen Thomas-Smith in besonderer Weise zuständig. Sie ist Präsidentin der evangelischen Kirche Marokkos und zugleich Pfarrerin an der Ökumenischen Kapelle der Al Akhawayn:
    "Unsere evangelische Kirche ist in Marokko aus der reformierten französischen Kirche hervor gegangen. Heute umfasst sie alle protestantischen Traditionen, die im Land vertreten sind. Wir sind eine kleine Kirche, die nur etwa 3000 Gläubige zählt. Sie kommen aus verschiedenen Nationen und leben meist nur auf Zeit in Marokko. Positiv ist, dass wir sehr ökumenisch sind. Ich leite in der Universitäts-Kapelle jede Woche ökumenische Gottesdienste, an denen alle christlichen Studenten teilnehmen, seien sie evangelisch, katholisch oder orthodox."
    Studierende im Gespräch auf dem Campus der Al Akhawayn Universität in Ifrane, Marokko.
    Studierende im Gespräch auf dem Campus der Al Akhawayn Universität in Ifrane, Marokko. (Abdelhak Senna / AFP)
    An der Universität unterrichte sie "vergleichende Religionswissenschaften", erläutert Karen weiter. Die Kurse würden von Studenten aller Religionen und Fachrichtung besucht und gäben Einblick in die Lehren unterschiedlicher Glaubensrichtungen. Nach dem Grundstudium könne man sich sogar auf dieses Fach spezialisieren:
    "Die Al Akhawayn ist eine staatliche Einrichtung, die vom Königshaus ins Leben gerufen wurde. Man wünscht sich eine qualifizierte Ausbildung, die Jugendlichen eine Tür in die Welt öffnet. Es geht um eine Generation von jungen Marokkanern, die in der Lage ist, mit Andersdenkenden konstruktiv Dialoge zu führen und zusammen zu arbeiten. Es geht um Frieden und Zukunft. Das ist die Vision unserer Universität."
    Dialog mit Diplom
    Von Ifrane ist es nicht weit in die Königsstadt Fes. Sie war schon im Mittelalter ein angesehenes Zentrum islamischer Spiritualität und Gelehrsamkeit. Eine theologische Universität, alte Koran-Schulen sowie das Grab des bekannten Mystikers Ibn Arabi geben bis heute davon Zeugnis. Die malerische Altstadt von Fes mit ihrem historischen Judenviertel wurde von der UNESCO zum Weltkultur-Erbe erhoben.
    In der Neustadt, der Ville Novelle, befindet sich die Universität Fes-Sais. Die moderne staatliche Einrichtung steht allen offen und zählt mehr als 20.000 Studenten. An der "Faculté de Lettre", der Geisteswissenschaftliche Fakultät, hat der marokkanische Professor Said Gaffaiti, ein Institut für vergleichende Religionswissenschaften aufgebaut. Er sagt:
    "Zunächst haben wir hier Kurse eingerichtet, in denen die Studenten Hebräisch lernen und die jüdische Religion studieren. Dann haben wir begonnen Vergleiche zwischen den drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam anzustellen. Heute sind wir das erste Institut in Marokko, das einen Master-Ab-schluss in Hebräischen Studien und vergleichenden Religionswissenschaften anbietet. Rund 200 Jugendliche sind in diesem Jahr bei uns eingeschrieben. Sie kommen aus ganz Afrika."
    Blick auf die Altstadt der Königsstadt Fes, Marokko. Sie wurde von der UNESCO zum Weltkultur-Erbe erhoben.
    Blick auf die Altstadt der Königsstadt Fes, Marokko. (imago / imagebroker)
    Das Fach finde bei den Studierenden Anklang, so Gaffaiti. Einige hätten bereits einen Abschluss in Islamwissenschaften und wollten nun eine zusätzliche Qualifikation für die praktische Arbeit im Dialog erwerben:
    "Für mich beginnt der Dialog damit, dass ich andere kennen lerne. Ich muss sehen, erfahren, wie Christen, Juden oder andere Gläubige ihre Religion leben. Dann kann ich sie besser verstehen. Eine besondere Art, sich zu spezialisieren und für die Welt zu öffnen, ist für uns in Marokko derzeit die Arbeit in den vergleichenden Religionswissenschaften."
    Religionswechsel als Tabu
    Ein moderner Schnellzug verbindet Fes mit Marokkos Hauptstadt Rabat an der Atlantik-Küste. Dort liegt zwischen Ministerien und Botschaften der Königspalast, in dem Mohammed VI residiert. Im Zentrum der Stadt steht u.a. eine große Kathedrale: Saint Pierre. Hier ist der Amtssitz von Bischof Landel.
    Die katholische Kirche Marokkos war nach dem Rückzug der Kolonialmächte im 20. Jahrhundert vom Aussterben bedroht. Doch inzwischen, so Vincent Landel, habe sie sich erholt.
    Vincet Landel beschreibt die Lage so: "Heute zählt unsere Kirche landesweit wieder rund 30.000 Mitglieder aus vielen Nationen. Doch nur wenige sind Europäer, die meisten sind Studenten aus afrikanischen Ländern. Wir betreiben 15 Schulen, die alle einen guten Ruf haben. Ihre rund 15.000 Schüler sind fast alle Muslime. Wir unterrichten in diesen Schulen u.a. den Koran, wie es die marokkanischen Lehrpläne fordern. Aber wir bleiben eine katholische Schule und sprechen mit den Schülern auch viel über Gottes Liebe zu allen Menschen, sowie über ethische Werte."
    In ganz Marokko gebe es 30 katholische Gemeinden, soziale Hilfseinrichtungen der Caritas seien im Aufbau, betont der Bischof. Christen könnten ihren Glauben landesweit absolut frei leben - mit einer Einschränkung: Man dürfe Muslime nicht missionieren. Evangelikale Gruppen, die angeblich oder auch wirklich gegen die Regelung verstießen, wurden in den letzten Jahren mehrfach des Landes verwiesen.
    Denn in Marokko bricht - wie in vielen islamischen Ländern - ein muslimischer Staatsbürger, der seine Religion wechselt, ein Tabu. Ein solcher "Abfall vom Glauben" konnte einst als Hochverrat mit dem Tod bestraft werden. Im Frühjahr 2017 beschloss der oberste "Rat muslimischer Gelehrter" Marokkos, den Glaubenswechsel nicht mehr unter Strafe zu stellen.
    Marokkanische Christen auf dem Weg zu einem Gottesdienst in einer protestantischen Kirche in Rabat, Marokko.
    Marokkanische Christen auf dem Weg zu einem Gottesdienst in einer protestantischen Kirche in Rabat, Marokko. (Fadel Senna / AFP)
    Gegen den Willen fundamentalistischer Kreise schuf König Mohammed damit mehr Religionsfreiheit. Vincent Landel begrüßt den Schritt stellvertretend für alle Christen:
    "Es ist der offizielle Wunsch der Regierung, dass der katholische Erzbischof alle Christen Marokkos vertritt. D.h. ich bin gegenüber der Regierung auch für die evangelischen und orthodoxen Christen verantwortlich. Das ist oft nicht einfach, aber positiv. Denn im Grunde drängen uns die Muslime mit dieser Forderung, die Einheit unter uns Christen zu verwirklichen."
    "Wir müssen als Gläubige voneinander lernen"
    Diesem Anliegen trägt auch das ökumenische Studien-Institut "Al Mowafaqa" Rechnung, das in Rabat unweit der Kathedrale zu finden ist. Sein Name bedeute so viel wie "Aufeinander zu gehen", erklärt Direktor Bernhard Coyault.
    "Unser Institut ist eine bemerkenswerte Einrichtung. Es wurde 2012 von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam gegründet und 2014 eingeweiht. Christliche Studenten aller Kirchen erhalten hier eine klassische Ausbildung in Theologie - mit einem besonderen Akzent auf der islamischen Tradition Marokkos. All unsere Kurse sind ökumenisch und öffnen zugleich Türen für den interreligiösen Dialog."
    Die Abschlüsse der Studenten würden von Universitäten in Paris und Straßburg überprüft. Dann, so der evangelische Theologe Coyault, könnten die jungen Leute in den Gemeinden Marokkos ihren Dienst antreten. Das Institut, das König Mohammed selbst genehmigt habe, zeige aber noch eine weitere Besonderheit, sagt Coyault:
    "Neben dem ausführlichen theologischen Studium bieten wir einen fünfmonatigen Fortbildungs-Kurs für Pfarrer und andere Interessenten an: Er endet mit dem "Zertifikat Al Mowafaqa", das den Teilnehmern Kompetenz im "Dialog der Kulturen und Religionen" bescheinigt".
    Der französische Präsident Emmanuel Macron wird von König Mohammed VI in Marokko zu einem Staatsbesuch empfangen.
    Mohammed VI setzt auf politischen und religiösen Dialog: Empfang des französischen Präsidenten Emmanuel Macron. (imago / E-Press PHOTO.com)
    Der Dialog der Kulturen, den der marokkanische König anstrebt, soll auch durch ein 2016 in Rabat gegründetes muslimisches Dialog-Zentrum unterstützt werden: das "Institut du Dialogue interreligieux". Direktorin ist eine muslimische Religionswissenschaftlerin, Aisha Haddou. Sie hat in Marokko und Belgien islamische und christliche Theologie studiert.
    "Wir unterstützen im Bereich des interreligiösen Dialogs die Forschung und die Ausbildung. Unsere Mitarbeiter sind Christen, Juden und Muslime. Konkret fragen wir, was jede Religion zur Lösung aktueller Probleme beitragen kann: zum Umweltschutz, zur Rolle der Frau, zum Frieden. Ich denke, in diesem Ansatz liegt die Zukunft. Wir müssen als Gläubige voneinander lernen, und ich bin sicher, wir können uns zum Wohl der Menschheit ergänzen."
    Angst um die Identität
    Das Dialog-Zentrum gehört zur "Rabitá des Ulemá", einer hoch angesehenen marokkanischen Forschungseinrichtung. Sie steht für einen traditionsbewussten und zugleich liberalen Islam. Man arbeite mit internationalen Universitäten zusammen, erläutert die Muslima Aisha Haddou:
    "Wir müssen kooperieren, um eine solide interreligiöse Ausbildung zu gewährleisten. Das gilt für Marokko ebenso wie für Europa. Dort gibt es Angst vor dem Islam, die Islamophobie. Hier gibt es manchmal Vorurteile gegen Christen aufgrund der Kolonialzeit. Wir müssen das alles überwinden."
    Doch die Situation in Marokko sei kompliziert, fügt Aisha hinzu. Das Dialog-Institut liegt in Rabat zwischen Neustadt und Altstadt und damit symbolhaft zwischen Moderne und Tradition. Die Öffnung, die aufgeschlossene Teile des Volkes ersehnen, so Aisha, erscheine konservativen Kreisen oft als Bedrohung:
    "Viele Marokkaner haben heute Angst, ihre Identität zu verlieren, wenn sich das Land zu stark verändert. Deshalb finden hier auch plötzlich extremistische Strömungen offene Ohren. Wir müssen lernen, Traditionen und Neuerungen zu verbinden. Und wir müssen vor allem fragen, was innerhalb unserer eigenen Religion falsch läuft. Es geht nicht nur um Toleranz gegenüber anderen. Wir müssen an unserem eigenen Verständnis von Identität arbeiten."
    Die Angst vor einem Identitäts-Verlust mischt sich in Marokko derzeit mit der Unzufriedenheit sozial schwacher Schichten und - nicht zuletzt - ethnischen Spannungen zwischen Berbern und Arabern.
    Diese Konstellation bildet ein Einfallstor für den IS und andere radikale Strömungen, die im Untergrund mit viel Kapital ins Land drängen. Das Konfliktpotenzial entlädt sich seit Monaten immer wieder in öffentlichen Protesten.
    Der fundamentalistische Druck wächst
    Die marokkanische Professorin Mariam Ait Ahmed hat sich zu Aufgabe gemacht, gewaltbereiten Jugendlichen durch Bildung neue, konstruktive Perspektiven zu bieten. Sie lehrt an den staatlichen Universitäten von Rabat und Kenifra. Dort habe sie jedes Semester rund 500 Studenten in ihre Kurse, betont die Religionswissenschaftlerin:
    "Wir erreichen junge Leute, die durch die Medien oder ihre Freunde negativ beeinflusst wurden. Das ist heute wichtiger denn je. Zu uns kommen viele, die einen Hang zum Extremismus haben. Manche sind noch unentschlossen. Ich versuche ihnen immer klar zu machen, was der Islam wirklich lehrt, und dass zum Beispiel im Koran steht, man solle mit Andersgläubigen Dialoge führen…. Und ich zeige ihnen, dass es in der Religion immer um den Menschen geht: Er soll ein besserer Mensch werden. Wenn die extremistischen Jugendlichen das erkennen, ändern sie sich oft von Grund auf."
    Mariam Ait Ahmed hat für ihre Arbeit schon viele internationale Auszeichnungen und Friedens-Preise bekommen. Sie hält Vorträge in aller Welt, von den USA über Qatar bis zu den Philippinen. Der König, die marokkanische Kultur und der Islam seien starke Bänder, die das Volk in ihrer Heimat seit Jahrhunderten einten, so die Professorin. Wenn der fundamentalistische Druck weiter wachse, könne er allerdings eine Zerreißprobe provozieren.
    Um dies zu verhindern, müssten die Reform-Pläne des Königs schnellst möglich auch bei sozial schwachen Schichten der Bevölkerung ankommen. Marokkos Monarch will beweisen, dass ein toleranter, aufgeklärter und dialogbereiter Islam, wie er der marokkanischen Tradition entspricht, mit staatlichen Verordnungen durchgesetzt werden kann. Es ist ein riskantes Experiment. Viel Zeit bleibt dem König nicht.