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Marokko und der Westsahara-Konflikt

Die marokkanische Armee hat ein Protestcamp in der Nähe der Stadt Laayoune in der Westsahara gewaltsam aufgelöst. Es gab mindestens neun Tote, mehrere Hundert Menschen sollen verletzt worden sein. Das Ereignis wirft ein Schlaglicht auf eine Region, die nicht nur Marokko großes Kopfzerbrechen bereitet.

Von Marc Dugge | 13.11.2010
    Der Waffenstillstand in der Westsahara wird überwacht von einer kleinen UN-Blauhelmtruppe
    Der Waffenstillstand in der Westsahara wird überwacht von einer kleinen UN-Blauhelmtruppe (UN Photo/Martine Perret)
    Es geschieht im Morgengrauen. Hubschrauber kreisen über dem Gelände. Eine Wand von Blaulichtern nähert sich dem Zeltlager. Davor: Hundertschaften der Polizei, die auf das Camp zumarschieren, mit Schutzschilden vor dem Körper. Frauen und Kinder waren bereits aufgefordert worden, das Camp zu räumen. Mit Wasserwerfern geht die Polizei nun gegen die verbliebenen Demonstranten vor - die sich mit Steinen und auch Messern wehren.

    Die Gewalt greift auf die der nahegelegene Stadt Laayoune über. Dort zünden Demonstranten Autos und Gebäude an. Es ist zunächst schwer, an Informationen zu kommen. Journalisten dürfen nicht mehr nach Laayoune reisen - geschweige denn in das Camp. In der Stadt sind die Handynetze abgeschaltet. Es sind die schwersten Zusammenstöße zwischen Polizei und Bewohnern der Westsahara seit Jahren. Mohammed Salem Ould Salek schäumt vor Wut. Er ist der Außenminister der Unabhängigkeitsbewegung Polisario und verlangt vom UN-Sicherheitsrat, das Vorgehen Marokkos scharf zu verurteilen. Und eine internationale Untersuchungs-Kommission.

    "Dieser Krieg wurde gegen die Zivilbevölkerung der Westsahara geführt, die unbewaffnet ist! Es ist beschämend, dass die internationale Gemeinschaft zu dem Verbrechen schweigt. Wir haben den Eindruck, dass Marokko und seine Unterstützer das Volk der Saharoui dazu bringen will, wieder zu den Waffen zu greifen!"

    Die Reaktion der marokkanischen Seite ist nicht minder scharf. Eine Untersuchungskommission kommt für uns nicht in Frage, so Regierungssprecher Khalid Naciri:

    "Marokko ist ein organisierter Staat, wir sind keine Bande von Gaunern wie die Führer der Lager von Tindouf. Diese Leute haben niemanden Lektionen zu erteilen. Das ist eine Gruppe von Abenteurern, die den Maghreb zu einer Zone der Instabilität machen will."

    Westsahara, einer der vergessenen Konflikte der Welt macht wieder von sich reden. Zur Erinnerung: Vor 35 Jahren wird die Westsahara von Marokko besetzt. Das Königreich betrachtet die ehemalige spanische Kolonie als sein Staatsgebiet. Die Bewegung "Polisario" sieht das völlig anders. Sie fordert die Unabhängigkeit der Westsahara - und wird dabei unterstützt von Algerien. Jahrelang gibt es Gefechte zwischen Polisario und der marokkanischen Armee. Seit fast 20 Jahren herrscht nun Waffenstillstand - überwacht von einer kleinen UN-Blauhelmtruppe. Aber Stillstand herrscht auch beim Thema Westsahara: Die Polisario fordert weiter die Unabhängigkeit der Westsahara , Marokko ist aber allenfalls zu Autonomierechten bereit.

    Und trotzdem: Die Westsahara birgt noch immer politischen Sprengstoff - das hat die vergangene Woche gezeigt. Auch wenn die Demonstranten in dem Zelt-Lager nach eigenen Angaben nur soziale Forderungen hatten. Heißt: Mehr Jobs, mehr Wohnungen, mehr Geld für Entwicklung. Mohammed, 32 Jahre alt, im französischen Radiosender RFI:

    "Ich habe in Marrakesch englische Literatur und Management studiert. Aber seit fünf Jahren muss ich als Rezeptionist arbeiten. Ich habe versucht, einen Job bei der Polizei zu bekommen. Aber: Keine Chance. Es ist eine Frage des Vertrauens, sie haben kein Vertrauen in Dich, wenn Du Saharoui bist. Ich habe keinerlei Perspektive! Ich habe einen marokkanischen Pass, ich habe niemals etwas schlechtes gemacht, niemals die Polisario-Flagge gehisst!"

    So wie Mohammed geht es vielen Saharoui. Sie haben das Gefühl, als Mensch zweiter Klasse behandelt zu werden - und zwar landesweit. Bei Ausbildung und Beruf benachteiligt zu werden. So auch Aisha, 22 Jahre alt:

    "Ich weiß, dass ich kompetent bin, aber ich finde keine Arbeit! Ich studiere an der Universität von Agadir, ich mache ein Praktikum im Bereich Unternehmensführung. Ich würde mir so gern eine Arbeit wünschen - aber finde keine!"

    Drei Wochen lang hat Aisha ausgeharrt, in diesem Meer aus Zelten, umringt von der marokkanischen Armee. Zeitweise sollen sich hier mehr als 12.000 Menschen aufgehalten haben. Eine ganze Menge für eine Region, die nicht mehr als rund 200.000 Einwohner hat. Abdessalam ist einer davon:

    "Für mich bedeutet dieser Ort ein Maximum an Freiheit. Wir entdecken die Freiheit von neuem. Wir sind hier zusammengekommen, um vereint zu leben, gemeinsam. Denn das Leben unter der marokkanischen Flagge ist die Hölle. Sobald Du eine andere politische Meinung sagst, bekommst Du als Antwort nur Gewalt."

    Wie unpolitisch war das Camp also wirklich? Tatsächlich hätte der Zeitpunkt kaum besser gewählt sein können: Marokko hat gerade den 35. Jahrestag des Einmarschs in die Westsahara gefeiert. Just diese Woche trafen sich in der Nähe von New York auch die Delegationen von Marokko und der Polisario. Sie fanden dieses Mal in besonders gespannter Atmosphäre ab - und gingen wie immer ergebnislos zu Ende. Das Protest-Camp sei eine gezielte politische Aktion, so Mohammed Lansaer, Generalsekretär der konservativen marokkanischen Partei "Mouvement Populaire":

    "Alles deutet auf einen gezielten politischen Plan hin, ausgeheckt von Algerien und der Polisario. Wir wissen doch alle um die sozialen Probleme in dieser Gegend, die bestreitet doch niemand. Die Tatsache, dass das ganze am 19. Oktober losging, als der UN-Chefvermittler Christopher Ross in Marokko war, ist doch schon Zeichen genug."

    Ob Algerien, die alten, ergrauten Kämpfer der Polisario - oder machthungrige lokale Politiker und Stammesführer: Wer immer bei der Protestaktion die Strippen zog - er hat der Polisario in die Hände gespielt. Denn Marokko steht in der Weltöffentlichkeit nun in einem schlechten Licht da. Die Hintermänner der Aktion sind im Dunkeln. Eines ist diese Woche aber ganz klar geworden: Die Aktion war eine Demonstration der Identität der Saharoui. Sie hat gezeigt: Männer und Frauen, Alte und Junge - alle eint die Frustration. Und sie sind bereit, den Staat bis aufs Äußerste reizen. Auch wenn die Zelte längst abgebaut sind: Dieses Camp wird Marokko noch lange beschäftigen.