Donnerstag, 28. März 2024

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Martin Burckhardt / Dirk Höfer: "Alles und Nichts"
Menschliche Zivilisation im Sog des Algorithmus

Technik dominiert unsere Welt – längst befinden und entwickeln wir uns im digitalen Raum. Martin Burckhardt und Dirk Höfer philosophieren in "Alles und Nichts" darüber, was es bedeutet, wenn sich menschliche Identität und staatliche Ordnung im Sog des binären Codes verflüssigen.

Von Florian Felix Weyh | 21.12.2015
    Wohin wir blicken, alles löst sich in zwei ganz besondere Zahlen auf, 0 und 1. Man nennt das Digitalisierung. Sie stehen für die Schalterzustände von "an" und "aus" oder verallgemeinert für "anwesend" oder "abwesend". In der Mathematik sind 0 und 1 nützliche Gesellen, wie der große Mathematiker George Boole im 19. Jahrhundert feststellte, als er neben Charles Babbage die Grundlagen des binären Denkens legte. Sie taugen nämlich dazu, philosophische Begriffe der realen Welt wie "wahr" und "falsch" in eine formale Logik zu fassen. In diesem Zusammenhang notierte Boole eine wenig bekannte Formel, die den Philosophen Martin Burckhardt nicht mehr loslässt, seit er auf sie stieß. Sie lautet: x=xn.
    Nichtmathematische Menschen, die wir Buchleser in der Mehrzahl wohl sind, lässt das vielleicht zunächst zurückschrecken, doch die Formel besagt etwas ganz Simples. Ersetzt man den Platzhalter x durch Zahlen, stellt man fest, dass sie nur für zwei Fälle stimmt, 0 und 1: 1=1x1x1x1x1 und so weiter ... und 0 bleibt immer 0, wie oft man sie auch mit sich selbst potenziert.
    Nun gilt die Gleichung nicht nur für die Null und die Eins, sondern lässt sich auf alle Digitalisate anwenden. Setzen wir für x eine beliebige Datei, so besagt die Formel, dass sich dieses Was-immer-es-sei beliebig oft kopieren lässt.
    Denken heißt Überschreiten, in dem Fall die Grenzen von Zahlen- und Sprachwelt. Heraus kommt eine Formel-Metapher, denn von Wert ist diese "Bestimmungsgleichung" für einen Mathematiker ja kaum. Martin Burckhardt und sein Co-Autor Dirk Höfer nennen diese Formel-Metapher ein Morph.
    Verwandlung physischer Vorgänge in flirrende 0/1-Digitalien
    Die Gleichung ist keine Gleichung mehr, sondern ein Morph. In ihr gilt das Gesetz der Verwandlung.
    Und diese Verwandlung physischer Vorgänge in flirrende 0/1-Digitalien treibt das Denker-Duo um. Wer Martin Burckhards technikphilosophische Schriften seit Beginn der 90er-Jahre und zuletzt seinen Thriller "Score" gelesen hat, entdeckt allerdings so viele Details wieder, dass die auf dem Cover behauptete Co-Autorschaft selbst wie eine Verwandlung erscheint: Die Auflösung des Autors in ein binäres Doppelwesen. Denn Individualität, Identität geht im digitalen Raum ebenso verloren wie ein Großteil der menschlichen Arbeit. Einmal digitalisiert, also in einem Programmcode fixiert, kann ein Vorgang fast kostenlos wieder abgerufen werden. Dass das nicht nur die Robotik der industriellen Produktion betrifft, merken inzwischen auch Intellektuelle. Der Tag wird kommen, an dem Geistesprodukte wie Zeitungen – oder Buchrezensionen – von Maschinen kombiniert und rekombiniert werden, alles aus dem digitalen Brei von 0 und 1.
    Wenn alles Repetitive an Maschinen übergeht, kann als Arbeit nur gelten, was noch nicht digitalisiert worden ist oder was über den Horizont des Möglichen hinausgeht.
    Dieser Horizont schrumpft mit fortschreitender Digitalisierung zwangsläufig, und das stürzt die Gesellschaft in eine Existenzkrise:
    Denn wenn die Lohnstückkosten eines zusätzlichen Produktes gegen null tendieren, lässt sich die Formel x=xn wie ein Abgesang auf die klassische Ökonomie lesen. Was es im Überfluss gibt, lässt sich schwerlich verkaufen.
    Digitaler Umbruch erfasst fast das ganze Leben
    Natürlich betreibt Martin Burckhardt ein intellektuelles Spiel, wenn er seine "Weltformel" wie einen Stempel all jenen Vorgängen aufdrückt, von denen wir gewiss sein können, dass sie vom digitalen Umbruch nicht verschont bleiben werden: die gesamte Industrieproduktion, alle Medien, ja sogar weite Teile des Gesundheitswesens. Es sind derer so viele, dass sich der Essay in einen wahren Verwandlungsrausch hineinsteigert.
    Wer ihn lieber als Projektion einer technikdominierten Welt läse, die noch zu stoppen sei, wird enttäuscht: Der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass er an eine Stopp-Option nicht glaubt. Der technologische Wandel liefert die harten Fakten, die weiche Variable ist der Mensch. Er wird seine Zivilisation anpassen. Wenn sich die Grundfesten der Ökonomie, von Identität, Rechtsstaat und demokratischer Ordnung im Sog des binären Codes verflüssigen, geraten wir überkommenen Individuen ins Schwimmen. Das geht hin bis zur intimsten Angelegenheit, der Sexualität. Schon jetzt wächst eine YouPorn-Generation heran, die eigene Erfahrungen durch Knopfdrucksex ersetzen kann. Der Schritt zu völlig technisierter Triebabfuhr – durchaus mit robotertechnisch erzeugtem Berührungsanteil – ist da nicht mehr weit. Und dann ...
    "… wird die Frage des Aftersex eine andere sein, nämlich: Save, Save as, Cancel. Und werden wir das Erlebnis gespeichert haben, lautet die Losung: Play it again!
    Auch hier heißt Leben Vollzug eines Algorithmus, nicht mehr Freiheit. Martin Burckhards "Alles und Nichts" – sprich 1 oder 0 – hinterlässt das beunruhigende Gefühl, hier ahne einer, wie es kommen und wie groß die Überforderung der Menschheit dann sein wird. Das Tollste aber ist: Bei Burckhardt macht die Lektüre keine Angst, sondern irgendwie dennoch Lust auf die Zukunft. Er sieht die Zivilisationsentwicklung ein bisschen wie ein Computergame, in dem die Bewohner der wohlhabenden Länder bald ein neues Spiele-Level erreicht haben werden. Durch Auflösung der klassischen Ökonomie ist dann Utopia theoretisch ein paar Schritte näher herangerückt. Praktisch müssen wir selbst für die beste Implementierung des Digitalen in unser Leben sorgen.
    Martin Burckhardt / Dirk Höfer: "Alles und Nichts"
    Ein Pandämonium digitaler Weltvernichtung
    Matthes & Seitz Verlag, 124 Seiten, 12 Euro