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Martin Kordić: "Wie ich mir das Glück vorstelle"
Vom Elend der Vertreibung

Martin Kordić beschreibt in seinem Debütroman "Wie ich mir das Glück vorstelle" die Vertreibung einer Familie, die der Protagonist Viktor als kleiner Junge miterlebt. Auf die Idee zu dem Buch kam Kordić über die eigene Familie: Der junge Autor ist Sohn bosnisch-kroatischer Einwanderer, deren Verwandte vor dem Krieg fliehen mussten.

Von Bettina Hesse | 08.09.2014
    Kinder ahmen mit selbstgebastelten Waffen den Krieg der Erwachsenen nach, aufgenommen während des jugoslawischen Bürgerkriegs im kroatischen Borovo im November 1991.
    Kinder ahmen während des jugoslawischen Bürgerkriegs mit selbstgebastelten Waffen den Krieg der Erwachsenen nach. (picture-alliance / dpa / afp)
    "Ich lebe in einem der alten Häuser, weit oben im Berg. Ich heize mit dem Ofen in der Küche, und das Wasser, mit dem ich mich wasche, kommt aus dem Brunnen neben der Räucherscheune. Wenn ich frühmorgens den kleinen Acker gewässert und die Tiere gefüttert habe, koche ich Kaffee ..., den ich bei gutem Wetter dann nach draußen trage. Den Rest des Tages sitze ich gemeinsam mit dem Hund im Schatten unter einem Baum."
    In diesem Prolog befindet sich der junge Erzähler weit oben, auf einem abgelegenen Hof südwestlich von Mostar in Bosnien-Herzegowina. Eine scheinbare Idylle. Die Menschen kommen zu ihm bringen etwas zu Essen und erzählen ihm ihre Geschichten, weil es "so weit weg ist von der nächsten Straße und man nicht das Gefühl hat, dass dieser Ort etwas mit dem Rest der Welt zu tun hat."
    Am Ende des Buches ist ein Foto dieses Hofes, der Hof von Kordićs Großeltern. Die Klammer zeigt eine Erzählposition, die dem jungen Ich-Erzähler guttut: Der verwachsene Viktor, der eine Rückenspinne tragen muss, hat in seinem jungen Leben schon viel gesehen und gehört - und vielleicht auch erlebt.
    Wenn er zu erzählen beginnt, in nüchtern beschreibenden, meist kurzen Passagen, passiert das alles im Präsens: Seine Zeit in der katholischen Gebetsgemeinschaft, wo er auf dem Erscheinungsberg Wasser an die Pilger verteilt. Oder im Dorf der Glücklichen mit Geschichten von der Oma, der Familie, von der er durch den Krieg getrennt wird. Oder wie sein Vater die Uniform bekommt und ein Gewehr, das er Vibovier nennt (Viboeins - drei bekamen seine Brüder), und kämpfen soll, anstatt auf Baustellen zu arbeiten oder in der Wüste nach Öl zu bohren. Und schließlich die Zeit mit dem Hund, dem einbeinigen Dschib und dem Mädchen in der Stadt der Brücken. Dort erlebt er den Krieg, der in den Dörfern anfängt und in der Stadt aufhört. Diese Zeit nimmt in der Geschichte den größten Platz ein. So wie Viktors Land das "Land aller Völker" war, so existieren alle Geschichten nebeneinander, keine hat Vorrang, auch wenn sie noch so ergreifend und schrecklich zu sein scheint.
    Was hat es mit dem Präsens auf sich?
    "Ja, das ist eigentlich einerseits aus dem Text heraus so zu verstehen, dass es für Viktor die logischste Art ist, zu erzählen, einerseits, um das Material für sich im Griff zu behalten, und weil es ihm die Möglichkeit bietet, Dinge aus der Vergangenheit, die schön waren oder die er sich vorstellt, genauso nah und wahr, nah an sich heranzuholen, wie die Gegenwart, die nicht so schön ist."
    Wunsch nach Bestandsaufnahme
    Und nicht schön ist vieles in Viktors Leben, und die Geschichten selbst sind vielleicht das einzige, was ihm gehört. Er schreibt sie auf, er fertigt Listen an über seine bescheidene Habe, auch Rezepte, wie man Teigschnecken backt und eine Atombombe baut. Er beschreibt und malt Dinge, die er sieht, oder an die er sich erinnert. Für jede fertig geschriebene Seite zeichnet er einen Elefanten an die Wand der runtergekommenen Bude, wo er mit dem einbeinigen Dschib lebt. Nachts hört er Dschib schwer atmen oder röcheln auf der Matratze nebenan, und Viktor fragt: "Stirbst du?" Zu Viktors wertvollstem Besitz gehört das Radio Grundig Yacht Boy 500, das sein Vater anschaffte. Das Radio gibt Infos über den Krieg und das ohne Risiko, denn das Licht eines Fernsehens verrät, dass man zu Hause ist und entdeckt werden kann.
    Das Sammeln, der Wunsch nach Bestandsaufnahme und ständiger Inventur - dient das einer Stabilisierung seiner schwierigen Lage, seiner Identität?
    "Ich glaube eigentlich, dass er in den Kapiteln, in denen er erzählt, eigentlich permanent eine Art nüchterne Bestandsaufnahme macht, und zur Wahrnehmung der Welt gehört für ihn dazu, eben Listen zu machen, Aufnahmen zu machen, was er besessen hat, was er gerade besitzt, und auch zum Beispiel diese Zeichnungen, also eine Wahrnehmung, die nicht nur über Sprache funktioniert, sondern sich dann ja in diesen Zeichnungen, auch so ein bisschen in geometrischen Überlagerungen auflöst."
    "Zuerst kämpfen die Mudschis zusammen mit den Kreuzern gegen die Krieger in den Bergen. Als die tot sind, kämpfen die Kreuzer gegen die Mudschis, weil die Kreuzer jetzt die Stadt für sich alleine haben wollen ... die Kreuzer wollen die Mudschis richtig ausräuchern. Nicht alle sterben. Irgendwann ist aber die ganze Stadt kaputt und keiner weiß mehr, worauf er überhaupt schießen soll. Also schießen sie weiter in die kaputten Häuser. Vom Ostufer aufs Westufer, vom Westufer aufs Ostufer." (Seite 58)
    Kern der Geschichte ist die Vertreibung der Familie, die Viktor als kleiner Junge miterlebt: Die 'Krieger' geben ihnen und den untergeschlüpften Verwandten zehn Minuten Zeit, um ihre Habe für den "Umzug" zu packen, um aus dem Haus geholt und wer weiß wohin gebracht/deportiert zu werden. Als sie schon mit anderen bepackten Familien wie Vieh über die Brücke getrieben werden - ein Krieger brüllt den Männern am anderen Ufer durchs Megafon zu: "Gleich bekommt ihr euer durchlöchertes Fickfleisch" - fangen plötzlich alle an zu rennen. Da reißt Viktor sich von der Hand der Oma los, läuft zurück, gegen den Strom von Menschen, bis zum verlassenen Wohnhaus, aus dem nur noch die Mutter eines Mudschijungen schaut. Er heftet dem Vater einen Zettel an die Tür:
    "Papa, wir wohnen jetzt in einer schönen Wohnung auf der anderen Seite vom Fluss. Ich singe unsere Lieder. Dein Viktor."
    Durch diesen zutiefst menschlichen Impuls wird der Junge von seiner Familie getrennt. Das Wissen, dass er sich durch sein Ausbrechen in gewisser Weise gerettet, aber seine Familie verloren hat, schwingt im ganzen Roman mit. Manchmal werden die Geschichten so heftig, dass Viktor nicht mehr als Ich-Erzähler sprechen kann, sondern nur aus einer distanzierten Perspektive als "der Junge".
    "Die Momente, in denen er in die "der Junge-Perspektive" fällt, sind eigentlich Momente, um grundsätzlich Emotionen rauszuhalten, es sind eigentlich Momente, in denen sozusagen die Gefahr ihm zu nahe zu kommen droht, und dann tritt er weiter neben sich und erzählt das dann noch distanzierter."
    Das Elend ist spürbar
    Die existenzielle Bedrohung, das sich Durchschlagen, Plündern der wilden Gräber, aus denen sie sich die Pässe nehmen und neue Identitäten, all diese schrecklichen Erlebnisse liefern Innenansichten einer Verwüstung durch den Krieg, den Viktor in einer merkwürdig versponnenen Parallelwelt er- und überlebt. In einer Welt, in der manche Dinge noch Glanz haben, so wie das 30-Seelen-Dorf der Kindheit Dorf der Glücklichen heißt, wo der Schlüssel zum kleinen, selbst gebauten Steinhaus von der Oma geschmiedet wurde, ein gurkenlanger Eisenstab - beide, Gurke und Eisenstab, sind im Buch gezeichnet. Das Wort "ethnische Säuberung" kommt in dieser Welt nicht vor!
    Der Fluss in der Stadt der Brücken ist grün und teilt sie in Ost und West, ein Politikum, wie Mostas berühmte Brücke. Über eine der intakten Brücken schiebt Viktor den einbeinigen Dschib im Einkaufswagen, damit sie ihre Mahlzeit bei den Frauen an der Suppenausgabe bekommen. Sie führen Essenkarten, und über Viktor steht darauf, was sie sehen: verkrümmte Halswirbelsäule, Brandwunden an Schultern und Füßen, Druckgeschwür am unteren Rücken, massiver Zahnverlust.
    Das Elend ist spürbar, aber es ist weniger erdrückend, weil Viktor es aufschreibt, das Fabelhafte. Jede Seite begleitet das Bild des Elefanten, dieses Tier, das in Gemeinschaft lebt und voller Hilfsbereitschaft und Fürsorge für die anderen ist. Was hat es mit den Elefanten auf sich?
    "Alles das, was vorher in dem Roman nicht da ist, oder in der Geschichte von Viktor, bis auf die früheste Kindheit, alles, was nicht da ist, löst sich eigentlich in dem Elefantenbild auf. Gleichzeitig ist klar, dadurch, dass es nur eine Vorstellung ist, ist es nicht, was er hat."
    Eine märchenhafte Zähmung des Unverständlichen
    Am Ende verlässt Viktor mit dem Hund die Stadt der Brücken und begibt sich auf eine neue "Reise". Wie sich der sehr eigene Junge das Glück vorstellt, verrät er in einer letzten, langen Passage.
    Wie kommt man auf einen solchen Stoff?
    "Also der Stoff oder das Thema ist sozusagen, von klein auf irgendwie über die Familie zu mir gekommen. Ich bin ja hier in Deutschland geboren und aufgewachsen, mein Vater ist Kroate aus Bosnien-Herzegowina und eigentlich hatten wir vor, nach Mosta zu ziehen, wir hatten dort ein Haus, und dann brach der Krieg aus, und viele Verwandte kamen zu uns nach Deutschland und dadurch war sozusagen diese Thematik da. Und da habe ich versucht, mich auf verschiedene Arten dem anzunähern, einerseits durch das Schreiben, anderseits dadurch, dass ich bis heute oft da bin und reise und mich zwangsläufig dann mit dem Thema auseinandersetze oder mich mit den Leuten unterhalte. Und dann habe ich während des Studiums auch im Nebenfach Politik studiert, und hab da auch versucht, alle Seminararbeiten irgendwie so zu drehen, dass ich irgendwas zu dem Thema machen kann."
    Der Roman "Wie ich mir das Glück vorstelle" erzählt von Viktor in seiner kindlich unerbittlichen Perspektive, er zeichnet das Bild einer auf vielen Ebenen heillosen Welt. Alles Erlebte wird am Rande der Sprache brüchig, weil es von Verwüstung erzählt, die einen Jungen - den Erzähler - überfordert. Doch zugleich bannt er dadurch, dass und wie er erzählt den Schrecken und die Trauer, ja er verleiht ihr sogar Humor und berührenden Glanz: Eine märchenhafte Zähmung des Unverständlichen - und ein wirklich beeindruckendes Debüt.
    Martin Kordić: Wie ich mir das Glück vorstelle, Roman, Hanser Verlag, 170 Seiten, 16,90 Euro