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Martin Schulz fordert mehr europäische parlamentarische Legitimation

Die ESM-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werde Europa ein Stück nach vorne bringen, ist sich der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), sicher. Gewünscht hätte er sich allerdings auch, dass das Gericht "etwas mehr zur europäischen parlamentarischen Demokratie gesagt hätte".

Fragen von Friedbert Meurer an Martin Schulz | 13.09.2012
    Friedbert Meurer: In Deutschland genießt das Bundesverfassungsgericht höchstes Ansehen. Die Bürgerinnen und Bürger mögen auf die Politik noch so sehr schimpfen, die Hüter der Verfassung sind nahezu sakrosankt, unantastbar. Eine Mehrheit der Deutschen müsste da jetzt, gemessen an den Umfragen, enttäuscht vom höchsten Gericht sein: Karlsruhe hat den Weg frei gemacht für den Euro-Rettungsschirm. Die Politik ist zufrieden.

    Vor der Sendung habe ich mit dem Präsidenten des Europaparlaments gesprochen, mit Martin Schulz von der SPD. Guten Morgen!

    Martin Schulz: Ich grüße Sie.

    Meurer: Ist das für Sie eine rundweg positive Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts?

    Schulz: Das ist eine Entscheidung, die Europa sicher ein Stück nach vorne bringt. Die Unsicherheiten der letzten Monate sind durch diesen Spruch des Verfassungsgerichts beendet. Wir können heute ja auch sehen, dass das gestrige Urteil die Märkte doch beflügelt hat und auch den Euro stabilisiert hat. Insofern ja, ich bin nicht mit jedem Detail des Urteils einverstanden, aber insgesamt zufrieden.

    Meurer: Mit welchem Detail sind Sie nicht einverstanden, Herr Schulz?

    Schulz: Ich hätte mir gewünscht, dass das Bundesverfassungsgericht auch etwas mehr zur europäischen parlamentarischen Demokratie gesagt hätte. Das Verfassungsgericht sagt, diese auf der europäischen Ebene entstehenden neuen Strukturen bedürfen der parlamentarischen Legitimation – ganz sicher richtig, was den Deutschen Bundestag im Verhältnis zur Bundesregierung angeht -, aber zukünftige Rollen des Europäischen Stabilitätsmechanismus oder der EZB, der Zentralbank als Bankenaufsicht, bedürfen auch der parlamentarischen Legitimierung durch uns, das Europäische Parlament. Ich hätte mir gewünscht, das wäre etwas konkreter zum Ausdruck gebracht worden, aber ich glaube, man kann es so in diese Richtung interpretieren.

    Meurer: Fühlt sich vielleicht das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig für das Europaparlament?

    Schulz: Das glaube ich nicht, denn es hat ja, was die Rolle des Europäischen Parlaments angeht, mehrfach in seiner Rechtsprechung Äußerungen gemacht – unter anderem ja auch, als es die Fünf-Prozent-Hürde für die Wahlen zum Europäischen Parlament gekippt hat, gegen jede Vernunft, muss man sagen. Aber das kann nicht sein, dass sich das Verfassungsgericht nicht zuständig fühlt. Es fühlt sich schon zuständig, hat in diesem Urteil aber nicht explizit, sondern sinngemäß Bezug auf unsere Rolle genommen.

    Meurer: Das Bundesverfassungsgericht hat ja in seiner Entscheidung, Herr Schulz, zwei Bedingungen genannt. Nehmen wir mal die eine: Die Haftungsgrenze von zurzeit 190 Milliarden Euro für Deutschland darf nur mit Zustimmung der deutschen Vertreter in den Gremien des Europäischen Rettungsmechanismus angehoben werden. Ist das überhaupt eine neue Qualität für den Vertrag?

    Schulz: Nein, das sehe ich nicht so. Das ist etwas, was in die Rubrik fällt: Habe ich so erwartet, macht auch Sinn. Die Bundesrepublik Deutschland muss ihre Haftungsrisiken natürlich irgendwo auch begrenzen. Insofern ist das ein Element, das ich erwartet habe. Aber dass diejenigen, die in diesem Stabilitätsmechanismus handeln, ja nicht nur Deutsche sind, sondern auch andere, das wird ja aus diesem Urteil klar. Und diese transnationale Gruppe, die dort im Verwaltungsrat des ESM handelt, die muss demokratisch kontrolliert werden, und das kann eben nicht mehr der Bundestag leisten. Die dort einzugehenden Risiken bedürfen nicht nur der Zustimmung der deutschen Vertreter dort, sondern auch der deutschen Vertreter im Europäischen Parlament. Deshalb sage ich noch mal: Es kann nicht sein, dass wir auf der überstaatlichen Ebene Strukturen schaffen, die enorme Risiken beinhalten, ohne demokratische Legitimierung.

    Meurer: Zweite Bedingung, auch unter dem Tenor demokratische Legitimierung: die Schweigepflicht. Es gilt eine Schweigepflicht in den entscheidenden Gremien des ESM-Rettungsfonds. Trotz dieser Schweigepflicht muss der Bundestag und Bundesrat, müssen beide umfassend informiert werden.

    Schulz: Ja!

    Meurer: Wie soll das gehen?

    Schulz: Das halte ich auch für richtig. Die deutschen Vertreter müssen sicher die Organe des deutschen Parlaments, also den Bundestag und auch den Bundesrat und die dort im Parlament zuständigen Organe, informieren. Das wird ja dann in geheimen Sitzungen, in nicht öffentlichen Sitzungen erfolgen. Ich erwarte auch, dass wir im Europäischen Parlament in nicht öffentlichen Sitzungen informiert werden. Denn die Schweigepflicht kann ja nicht dazu führen, dass die ausschließlich im eigenen Saft kochen. Es muss schon so sein, dass die Entscheidungen, die sie treffen, die ja von weitreichender Bedeutung für Staaten sind und dadurch wieder für die Bürgerinnen und Bürger dieser Staaten, das kann ja kein Insiderwissen bleiben, das muss ja irgendwo auch demokratisch kontrolliert sein.

    Meurer: Der Bürger fragt sich, können die 190 Milliarden angehoben werden nur auf der Ebene des Haushaltsausschusses oder eines Neunergremiums, die dann eben informiert wurden vom Gouverneursrat des ESM?

    Schulz: Wenn ich das Urteil richtig interpretiere, ist es ja so, dass es Strukturen geben muss zukünftig, die eine Erhöhung des Haftungsrisikos einem Beschluss des Deutschen Bundestages in welcher Form auch immer unterwerfen, und ich habe das auch in die Richtung interpretiert, dass das auch ein Stück Neuerung in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist. Bis dato sind wir davon ausgegangen, wenn es über diese 190 Milliarden hinausgeht, dann ist eine Grenze erreicht, die das Verfassungsgericht im Rahmen des Grundgesetzes sieht. Das ist jetzt nicht der Fall, sondern es wird schon gesagt, die demokratisch gewählten Organe können dort und müssen dann befasst werden, aber können entscheiden. Das, glaube ich, erhöht auch den Handlungsspielraum der Bundesregierung auf europäischer Ebene, was übrigens nach meinem Dafürhalten auch erforderlich ist.

    Meurer: Herr Schulz, wie schätzen Sie die Stimmung ein, wenn die Deutschen jetzt mit zwei Zusatzpunkten ankommen für den ESM-Vertrag? Alle anderen haben schon zugestimmt. Kriegen die Deutschen da eine Extrawurst?

    Schulz: Das ist keine Extrawurst. Die Deutschen sind der größte Beitragszahler, der größte Anteilseigner am Europäischen Stabilitätsmechanismus. Von diesen deutschen Leistungen hängt ja auch das Vertrauen in den Mechanismus ab. Wir sehen ja jetzt, dass das Vertrauen auch zurückkommt, weil der Mechanismus ja funktioniert, wenn ich mal dieses Bild gebrauchen darf, wie eine Beruhigungspille, die Sie in der Tasche haben, und weil Sie sie in der Tasche haben, brauchen Sie sie nicht zu schlucken. So, hoffe ich jedenfalls, wird er auch wirken, dass die Staaten sich an den Märkten sich besser refinanzieren können, weil wenn sie es nicht können, können sie den Rettungsmechanismus benutzen. Das wird, glaube ich, das Vertrauen von Investoren stärken und deshalb bin ich sicher, dass die Deutschen auch auf Verständnis für ihre Punkte stoßen werden.

    Meurer: Mehr als eine Beruhigungspille hat die Europäische Zentralbank, die hat die sogenannte Bazooka, die große Waffe, viel Geld, um Staatsanleihen zu kaufen. Rechnen Sie damit, dass Karlsruhe in der Hauptverhandlung hier vielleicht die EZB sich vorknöpfen wird und Ketten anlegen wird?

    Schulz: Das glaube ich nicht. Das kann Karlsruhe gar nicht, weil nach meinem Dafürhalten – nun muss ich sagen, ich bin kein Verfassungsjurist, aber spontan würde ich antworten, dass ich das nicht für machbar halte. Die volle Souveränität der Europäischen Zentralbank ist auch dann gewährleistet, wenn es einzelnen Mitgliedern der EZB nicht passt. Das ist ein bisschen unser deutsches Problem. Wir haben immer gerade als Deutsche darauf gepocht, dass die EZB ein souveränes, nicht politisch gebundenes Organ ist. Wenn sie dann aber souveräne Entscheidungen trifft, die uns nicht so richtig gefallen, dann wird man das nicht über das Verfassungsgericht korrigieren können.

    Meurer: Da sagen einige, die EZB verletzt ihr Mandat. Das Mandat lautet Geldwertstabilität und die EZB finanziert Staaten, so der Vorwurf.

    Schulz: Da bin ich eben anderer Meinung. Ich glaube nicht, dass das, was die EZB gemacht hat, in der Vergangenheit und jetzt macht, ihr Mandat überschreitet, und da befinde ich mich auch in bester Gesellschaft mit der überwiegenden Mehrheit der Mitglieder des EZB-Rates.

    Meurer: Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, bei uns im Deutschlandfunk, nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe. Herr Schulz, besten Dank und auf Wiederhören!

    Schulz: Ich danke Ihnen – alles Gute – tschüss!

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