Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Martinstag
Stolzer Soldat, zerlumpter Clown

Martinszug, Sonne-Mond-Sterne-Fest, Laternenfeier: Um die Geschichte vom Mann, der den Mantel mit einem Bettler teilt, ist ein politischer Streit entbrannt. Den einen ist das Fest zu christlich, den anderen nicht mehr christlich genug. Ein Blick in Berliner Kitas zeigt: Von legendentreu bis lustig ist alles drin. Sogar der Radetzkymarsch.

Vorn Kirsten Dietrich | 11.11.2016
    Für manche ist der Martinsumzug noch etwas Neues. Geflüchtete, migrantische und deutsche Familien auf einem Umzug in Frankfurt am Main.
    Für manche ist der Martinsumzug noch etwas ganz Neues. Geflüchtete, migrantische und deutsche Familien auf einem Umzug in Frankfurt am Main. (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Drei weiße Martinsgänse schnattern vor dem Fenster von Andreas Knöbels Büro – nicht verwunderlich, denn Knöbel leitet den Kinderbauernhof der Berliner Kulturzentrums ufa-Fabrik. Am 11. November feiert der Kinderbauernhof aber trotz Gänsen kein Martins-, sondern ein Laternenfest – schon immer.
    "Der Martinstag, der ist vielleicht schon der Ursprung eines Laternenfestes, aber weil wir haben mit Kirche wenig zu tun, wir feiern eben Laternenfest. 11.11.17:17 Uhr ist für uns auch Karnevalsbeginn, deswegen die Uhrzeit, wir wollen einfach freundliches, nettes Fest machen, das hat ganz weite Kreise gezogen", sagt er.
    Mit mehr als 500 Gästen rechnet Knöbel inzwischen, die mit Ponies und Schalmeienorchester, mit Würstchen, großem Lagerfeuer, Waffeln und Feuerakrobaten feiern wollen.
    "Das hat sich eben so entwickelt, dass es ein kleines Event geworden ist: Ich seh da auch kein Ende, auch wenn Halloween in den Freizeiteinrichtungen so wahnsinnig dominierend ist, ich glaub schon, dass Berliner Kinder das Laternenfest nicht missen wollen."
    Der heilige Martin spielt bei diesem Laternenfest überhaupt keine Rolle. Andreas Knöbel will das ganz ausdrücklich nicht als Abgrenzung verstanden wissen. Der Heilige mit der praktischen Nächstenliebe passt einfach nicht zu dem, wie er ein Fest versteht.
    "So richtig fröhlich ist die Martinsgeschichte nicht, sie ist freundlich und wertvoll und toll, aber – ja, so richtig mit Gesang und Feiern ist ja Sankt Martin nicht."
    Mit Pferd und Schwert in Neukölln
    Die Kinder in der evangelischen Martin-Luther-Kita in Neukölln erleben das anders. Der heilige Martin ist für sie eine vertraute Figur – und ein Anlass zum Spielen.
    "Wir haben einen roten Mantel und ein Pferd und ein Schwert." Andrea Albrecht: "Wir haben das Ganze als Kostüme, damit die Kinder das spielen können vor dem Tag. Und wir arbeiten die Geschichte vor dem Martinstag immer auf."
    Die Martin-Luther-Kita liegt mitten in Neukölln, da hat auch eine evangelische Kita gut ein Drittel Kinder mit muslimischen Wurzeln. Kita und Kirchengemeinde feiern den Martinstag schon lange mit einem Laternenzug und einem Fest für Gemeinde und Nachbarn. Der Name ist wichtig, sagt die stellvertretende Kitaleiterin Andrea Albrecht: "Sankt Martinsfest. Und wir arbeiten sehr dran, dass die Geschichte der Hintergrund ist und auch bekannt ist. Das ist für alle egal, egal welchen Hintergrund sie haben, wir stellen unsere Geschichte, Kultur, Glauben dar, und daran können dann auch andere teilnehmen und was kennenlernen."
    Dass man Sankt Martin in einer Umgebung feiert, in der große Teile der Bevölkerung muslimisch sind, zeigt sich höchstens bei den Grillwürstchen: Da gibt es immer auch welche aus Geflügel, damit alle nach dem Laternelaufen gerne beim Essen zugreifen. Martin ist attraktiv – auch in einer Kita wie in der AWO-Kita Hand in Hand, in der fast alle Familien eine türkische oder arabische Herkunft haben.
    "Wir fanden, warum machen wir denn nicht mal Laternenumzug und nennen den Sankt-Martins-Umzug", sagt Leiterin Özden Solel.
    Ein Türöffner zur christlichen Mehrheitsgesellschaft
    Ein Laternenfest gab es in der Kita schon vorher. Aber sie hat das Laternenfest in diesem Jahr bewusst auf den Martinstag gelegt. Und mit den Kindern nicht nur Laternen gebastelt, sondern sie auch mit der Geschichte vom heiligen Martin vertraut gemacht.
    "Eine Gemeinschaft zu bilden ist der Hauptgedanke, dass man das auch sieht. Dass man alle Religionen und Feste akzeptiert, sieht, wir sind alle eins, wir sind alle Menschen."
    Und was sagen die muslimischen Eltern dazu?
    "Die freuen sich auch. So ein bisschen hab ich die Geschichte von Sankt Martin den Eltern auch erzählt, das ist ja das, was Eltern auch gut finden, dass er geteilt hat. Die Geschichte an sich ist ja auch eine schöne Geschichte, das wussten sie ja vorher auch nicht", sagt Özden Solel.
    Der freundliche Ritter als Türöffner zur christlichen Tradition der Mehrheitsgesellschaft – auch im säkularen Berlin hat der heilige Martin Konjunktur.
    Die Sehnsucht nach etwas Größerem, auch beim Laternenumzug
    Die Sehnsucht nach etwas Größerem, auch beim Laternenumzug (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    "Vor 20, 25 Jahren gab es ja in Berlin nirgendwo oder nur in katholischen Gemeinden Martinsumzüge, inzwischen ist das ja etwas, was viele Kirchengemeinden, ich möchte fast behaupten: alle Kirchengemeinden in Berlin pflegen."
    Stefan Kunkel war über lange Jahre Pfarrer der evangelischen Luisenkirche in Berlin-Charlottenburg.
    "Das ist ein Stückchen Wiederentdecken christlicher Alltagskultur. Und wir pflegen das natürlich auch mit Martinspferd und Umzug, ich beobachte sogar, dass viele muslimische Familien sich unserem Martinsumzug anschließen, es hat also auch so ein Stückchen integrativen Charakter."
    Geht es dabei nur um das Event: Einmal im Jahr, im Dunkeln mit anderen und einer Geschichte fürs Herz, die Straße zu teilen?
    "Die Attraktivität des Martinstages hängt mit etwas anderem zusammen: Es ist natürlich ein Tag der Kinder und Eltern. Familie hat heute einen ungeheuer hohen Stellenwert. Warum? Weil Familie heute als etwas Verletzbares, Zerstörbares erlebt wird."
    Bevor aber am Beispiel Berlins die neue Blüte des Martinstages gefeiert wird: Es gibt auch einen ganz anderen Traditionsstrang, auch der wird ganz selbstverständlich in weiten Teilen der Stadt.
    "Jetzt mal alle Kinder nach vorne, aber holt Laternen ab bei Eltern, sonst können ja nicht loslaufen, ohne Laterne geht heute gar nichts – alle mal schön zusammenstellen."
    "Sankt Martin gehört in die Kirche"
    Der Laternenzug der Kita Spatzenburg wird in diesem Jahr geleitet vom Clown Dudel-Lumpi – mit buntem Kostüm und einem mit Lichterketten beleuchteten Fahrrad.
    "Wir haben auch schon selber was gemacht, dass selber durch die Straßen gezogen – ist natürlich schöner, wenn man so Professionellen hat. Der dann alles so ein bisschen in der Hand hat", sag Kitaleiterin Beate Jury.
    Die Spatzenburg ist eine städtische Kita ganz im Nordosten von Berlin, da, wo die Stadt trotz S-Bahn schon sehr dörflich erscheint.
    "Wir basteln sehr viel mit Kindern, im Herbst natürlich mit Blättern, Naturmaterialien, dann bringen die Kinder von zuhause Idee mit, mit einer Laterne spazierenzugehen, hier im Ort findet auch Halloween statt, durch den Jugendclub, nebenan ist gleich die Kirche, die machen einen Martinsumzug, wir machen eben einen Laternenumzug", erklärt Jury.
    Die Spatzenburg läuft los! – mit Radetzkymarsch….
    Diese Art des Feierns ist keine bewusste Abkehr von kirchlichen Traditionen, sagt Beate Jury. Für sie ist einfach klar: Sankt Martin gehört in die Kirche, Laternen in die nichtkirchliche Welt. "Das ergibt sich einfach nicht. Die machen ihre Sachen und wir machen unsere Sachen."
    Und doch: auch bei diesem Laternenzug gibt es die Sehnsucht nach etwas Größerem, vielleicht sogar: Transzendentem. Und so lässt der Clown zum Ende, als es schon richtig dunkel ist, den Mond aufgehen – als runden gelben Lampion natürlich. Die Worte dazu leiht Matthias Claudius.
    "Guckt mal da im Baum, ein Vollmond! Da ist der Mond und die Sterne. "So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder."
    Egal, ob und wie man von Martin und seinem Mantel erzählt. Laternen, Dunkelheit und Geborgenheit rühren auch ohne Heiligengeschichte ganz offenbar etwas Besonderes an.