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Marx nach Feierabend

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin bietet einen wöchentlichen Lesezirkel zu Karl Marx' Hauptwerk "Das Kapital". Für viele der vorwiegend studentischen Zuhörer ist die Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft eine Lösung für aktuelle Probleme. Doch Marx ist keine leichte Kost.

Von Jens Rosbach | 14.02.2013
    Ein DDR-Hochhaus mit großen roten Buchstaben auf dem Dach: Neues Deutschland.

    Berlin-Mitte, im Verlagssitz des ehemaligen Zentralorgans der SED. Ein riesiges Foyer im Neonlicht - mittendrin ein einsamer Pförtner. Linkerhand ein paar Vitrinen mit roten Büchlein drin. Sie tragen Titel wie "Staat und Revolution" oder "Autobiografie einer sexuell emanzipierten Kommunistin".

    Der Fahrstuhl rumpelt in den siebten Stock, Sitz der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Hier trifft sich, in einem Seminarraum mit Laptop, Beamer und Flipchart, der Kapital-Lesezirkel. Genauer: Der Lesezirkel zum Kapital - Band II und III.

    "Aber diese Waren sind zugleich Träger des Kapitals. Sie sind das verwertete, mit ... mit Mehrwert geschwängerte Kapital selbst"

    Zwei Dutzend Zuhörer, zumeist Studenten, lauschen hoch konzentriert.

    "Und in dieser Beziehung schließt ihre Zirkulation, die jetzt zugleich Reproduktionsprozess des Kapitals, weitere Bestimmungen ein."

    Mehrwert, Zirkulation, Reproduktionsprozess. Niemand stöhnt.

    " ... die der abstrakten Betrachtung der Warenzirkulation fremd waren."

    Jakob, ein schlanker 22-Jähriger im grau-orange gestreiften Pullover, studiert Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität. Doch an der Hochschule findet er keine Antworten auf seine Fragen. Seine drängenden Fragen an die Politik.

    "Ich weiß, dass Zehntausende Menschen am Tag verhungern, eine Milliarde Menschen in Armut leben, während eigentlich Waren im Überfluss vorhanden sind – glaube ich eben, dass das alles Phänomene derselben gesellschaftlichen Ursachen sind. Und da, glaube ich, ist die Lektüre von Karl Marx auf jeden Fall notwendig, um die zu verstehen."

    Jakob hat bereits den ersten Band des Kapitals studiert. Auf Antifa- und anderen Demos kämpft er für eine gerechtere Welt.

    "Ich beschäftige mich schon ziemlich lange mit Politik, seit ich 14 bin oder so. Habe angefangen, mich im üblichen Parteienspektrum zu informieren, mir die Sachen anzuschauen. Und bin dann irgendwann bei Karl Marx gelandet, weil ich nicht glaube, dass im Rahmen von Parteien die Welt grundlegend verändert werden kann."

    Während seine Altersgenossen lieber ein Bier trinken gehen oder im Internet zocken, besucht Jakob jeden Montagabend den Kapital-Lesezirkel.

    "Finde auch auf jeden Fall ne Erfüllung drin. Ne größere Erfüllung als im Computerspielen."

    "Weiterhin werden wir uns natürlich mit Abstraktionen herumschlagen müssen ..."

    Ingo Stützle ist 36 Jahre alt und arbeitet als Redakteur bei der linken Nischen-Zeitschrift "analyse & kritik". Seit 13 Jahren bietet Stützle Kapital-Kurse an, anfangs an seiner ehemaligen Uni, der FU Berlin, und seit 2006 bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Denn nach seiner Erfahrung wird Marx an den Hochschulen nur noch oberflächlich abgehandelt. Die Seminarteilnehmer bestürmen den Dozenten deswegen häufig mit Fragen – und sind dann enttäuscht, wenn sie bei Marx nicht fündig werden.

    "Gerade wenn in der Krise auch Weltmarktbewegungen eine Rolle spielen. So was wie Wechselkurse oder so - das hat er zum Beispiel überhaupt nicht mehr diskutieren können. Also da ist er auch davor gestorben. Und wo natürlich auch viele Fragen bleiben, ist, wenn man viel verstanden hat und den Respekt vor dem Text verloren hat, Stellen vergleichen kann, dann kommen natürlich noch mehr Fragen."

    Ganz klar: Das echte Marxstudium ist eine Aufgabe für Jahre.

    "Ja, oder ne Lebensaufgabe eben."

    Stützle ist in Stuttgart-Stammheim aufgewachsen, hat Politik, Geschichte und Philosophie studiert und wurde Anfang der 90er-Jahre politisiert: durch den Irakkrieg sowie durch die ausländerfeindlichen Übergriffe in Rostock, Mölln und Solingen. Für den Linken ist Marx jedoch kein Gott: So stellt der Dozent die diffizilen Quellen der Kapital-Bände dar, diskutiert über das widersprüchliche Marxsche Frauenbild sowie über die Verfälschung seiner Thesen unter Stalin und Honecker. Er sei froh, den Klassiker erst nach dem Ende der DDR studiert zu haben, bilanziert der Seminarleiter.

    "Einmal weil Marx und Marxismus keine Staatsdoktrin mehr ist, wir sind nicht mehr zwischen diesen Blöcken eingeklemmt. Das ist das eine – und das andere ist, wir haben die Möglichkeit, die Originalmanuskripte mal zu lesen. Erst 1992 sind die Manuskripte zum Kapital, zum dritten Band, wo es gerade um die Krisen geht, das erste Mal zugänglich gewesen. Alles andere war zuvor von Engels redigiert. Erst nach dem Ende des Realsozialismus kann man Marx im Original lesen."

    Doch Karl Marx ist keine leichte Kost. Das weiß auch Valeria Bruschi, Philosophin und Co-Leiterin des Lesekurses. Die 37-jährige Italienerin hat folgende Beobachtung gemacht: Anfangs melden sich immer Dutzende für einen der kostenlosen Kapital-Kurse an – doch dann springen viele Leser nach und nach wieder ab. Offenbar haben sie Marx bereits so verinnerlicht, dass sie ausschließlich streng ökonomisch denken.

    "Die Studenten, die Studentinnen kommen - und sie kriegen keinen Schein dafür. Und vielleicht im Laufe der Monate, wenn man feststellt, dass schon Vorbereitung erforderlich ist, weil für jede Sitzung etliche Seiten gelesen werden müssen ... ja, springt man dann raus. Leider."