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Masha Gessen: "Die Zukunft ist Geschichte"
Trauma des Krieges, Traum der Freiheit

Ein Großreich bricht zusammen und jeder Einzelne ist davon betroffen: In vier Lebensgeschichten erzählt Masha Gessen, wie Russland die Freiheit gewann und wieder verlor. Für "Die Zukunft ist Geschichte" bekommt sie den Leipziger Preis für europäische Verständigung. 

Von Tobias Lehmkuhl | 17.03.2019
links das Buchcover "Die Zukunft ist Geschichte", rechts ein Porträt-Foto der Autorin Masha Gessen.
"Die Zukunft ist Geschichte": Masha Gessen ging zurück in ihre alte Heimat, um über die Umbruchszeit in Russland zu berichten (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Porträt der Autorin: Stadt Leipzig/Tanya Sazansky)
Anfang der achtziger Jahre herrschte in der Sowjetunion an vielem Mangel: Autos, Telefone, regelmäßig Fleisch auf dem Essenstisch, das waren Dinge, von denen die meisten nur träumen konnten. Aber auch viele ideelle Güter waren unerreichbar, etwa die Werke der großen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Karl Popper oder Jacques Derrida standen aus ideologischen Gründen auf dem Index, auch Martin Heidegger war nahezu unbekannt, sein Werk nicht übersetzt. Trotzdem gelang es einem jungen wissenshungrigen Mann, der weder irgendeiner Institution angehörte noch Zugang zu wissenschaftlichen Bibliotheken besaß und sich das Deutsche offenbar selbst beigebracht hatte, eine Mikrofilmkopie von "Sein und Zeit" zu ergattern. In Ermangelung eines Lesegerätes projizierte er die Kopie mithilfe eines handkurbelbetriebenen Diafilmprojektors auf seine Schreibtischplatte. Als er mit der Lektüre fertig war, schreibt Masha Gessen in "Die Zukunft ist Geschichte", brauchte er eine Brille.
Die Liebe zum Gebieter
Man ist in diesem Moment voller Bewunderung für diesen Mann, dessen Name Alexander Dugin lautet. Heute, im Jahr 2019, ist dieser Dugin nicht mehr jung. Er trägt einen grauen Bart und erinnert an einen orthodoxen Priester. Tatsächlich ist aus ihm ein Mann mit einer Mission geworden. Seine Mission aber ist nicht, wie man erwarten könnte angesichts der Umstände, in denen er sich selbst bildete, die Freiheit voranzutreiben, gegen jegliche Form von Zensur anzukämpfen und für die breitestmögliche Verfügbarkeit und Vermittlung von Wissen einzutreten, im Gegenteil. Heute hören sich seine eigenen Sätze so an:
"Individualismus und die Unabhängigkeit des Urteilens, das sind Merkmale von Europa, wo wir nichts verloren haben! Liebe zum Gebieter und Unterordnung – das sind die Eigenschaften des russischen Volkes."
Der Weg vom handgekurbelten Diaprojektor zum Ruf nach einem strengen Gebieter in Zeiten von Handy und Internet ist denkbar weit. Und wie Masha Gessen auf den sechshundert Seiten ihres neuesten Buches zeigt, auch nicht leicht nachvollziehbar.
In dem gleichwohl leicht lesbaren Werk fungiert Dugin als eine wenn auch bedeutende Nebenfigur. Gessen stellt vier andere Menschen, zwei Männer und zwei Frauen, in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Alle vier wurden um das Jahr 1984 herum geboren, in genau der Zeit, in der Dugin Heidegger liest und Gorbatschow mit der Perestroika schwanger geht. Anhand ihrer Lebenswege - mit allen hat Gessen ausführliche Gespräche geführt - will sie zeigen "wie Russland die Freiheit gewann und verlor" - so auch der Untertitel ihres Buches.
Um die Situation jenes orwellschen Jahres 1984 zu verstehen, muss man wissen, dass es im kommunistischen Sowjetrussland durchaus ein striktes Kastensystem gab. Da waren einerseits die privilegierten Angehörigen des Parteiapparats und andererseits der breite Rest. Zwei der vier Kronzeugen Gessens stammen aus dieser privilegierten Kaste. Die eine heißt Shanna und ist die Tochter von Boris Nemzov, der andere heißt Serjoscha. Sein Großvater Alexander Nikolajewitsch Jakowlew war in den siebziger Jahren Leiter der Abteilung Ideologie und Propaganda des Zentralkommitees der KPdSU, wurde später Botschafter in Kanada und schließlich wichtigster Berater Gorbatschows. Ein beeindruckender Mann, der trotz seiner Sozialisierung in der Politbürokratie unter Breschnew kein Betonkopf war, sondern im Gegenteil jemand, der Veränderung als notwendig ansah und sie aktiv versuchte zu gestalten - zum Wohle des Volkes und nicht zum Wohl einer kleinen Gruppe. Wie kaum kein anderer ist er mit der unmittelbaren Vergangenheit seines Landes, zu deren führender Elite er ja gehörte, ins Gericht gegangen. Im Juli 1991 schreibt er:
"Wir sind um zwei Epochen in Rückstand geraten – das postindustrielle Zeitalter und das Informationszeitalter. Das Ergebnis ist eine schwerkranke Gesellschaft. Eine anhaltende Verwüstung der Seelen. Die Schuldvermutung als Prinzip – damit haben wir Hunderttausende von Wächtern herangezogen, die unsere Moral, unser Gewissen, die Reinheit unserer Weltanschauung und unseren Gehorsam gegenüber der Obrigkeit kontrollieren. Die Wahrheit als Delikt. Eine bis an den Rand des Todes ausgeplünderte Natur. Verbrechen, Warteschlangen, Grobheit und Korruption vom Ladearbeiter bis zum Minister. Die Verfemung des Intellekts und die Herrschaft der Unwissenheit."
Kriminalität und Geisteskrankheit
Besonders beeindruckend an dieser niederschmetternden, zweifellos höchst zutreffenden Analyse ist die Tatsache, dass hier ein ehemaliger Chefideologe von der Verwüstung der Seelen spricht, denn um nichts hatte sich die KPdSU weniger gekümmert als um die seelische Gesundheit ihrer Bürger. Warum auch? Der Kommunismus sorgte schließlich dafür, dass auch im Inneren der Menschen alles seine Ordnung hatte.
"Der Marxismus war in der Sowjetunion auf die Vorstellung reduziert worden, dass die Menschen – die Sowjetbürger – vollständig durch die Gesellschaft und die materiellen Lebensbedingungen geformt seien. Wenn die Arbeit der Persönlichkeitsformung korrekt verrichtet wurde, entsprachen die Ziele der geformten Persönlichkeit ganz und gar den Zielen der Gesellschaft, die sie hervorgebracht hatte. Und das war notwendig der Fall, denn die sowjetische Gesellschaft beanspruchte mittlerweile, den 'real existierenden Sozialismus' aufgebaut und damit das marxistische Projekt im Wesentlichen erfüllt zu haben. Abweichungen kamen vor. Sie fielen in eine von zwei möglichen Kategorien: Kriminalität oder Geisteskrankheit."
So konnte man in der Sowjetunion zwar Psychologie studieren, nur kam die Psyche im Studium nicht vor. Freud war ungefähr so bekannt mit Heidegger, und das in einem Land, das Millionen Menschen im Gulag und während der sogenannten Säuberungswellen der dreißiger Jahre verloren und dass mit über 20 Millionen Opfern die meisten Toten des Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte. Nur galt selbst diese Klage als zweifelhaft, da sich gerade auf den Zweiten Weltkrieg das Selbstverständnis und das Selbstbewusstsein der Sowjetunion stützten. Im Zweiten Weltkrieg, der im Russischen nicht umsonst Großer Vaterländischer Krieg genannt wird, hat die Sowjetunion ihre Größe, hat das Sowjetvolk seinen Heroismus bewiesen. Wer wollte da traurig sein?
Es liegt auf der Hand, dass eine solch umfassende Verdrängung von Kummer und Leid bis heute ihre Spuren hinterlässt. Unbewältigte Traumata werden bekanntermaßen an die nächste Generation weitergegeben. Keine Familie, in der nicht ein enges Familienmitglied durch Hitlers oder Stalins Politik gewaltsam zu Tode gekommen ist, und kein einziger Psychotherapeut, der Wege hätte aufzeigen können, wie sich mit dieser Erfahrung umgehen ließe. Die Geringschätzung des Einzelnen, und das heißt auch: des eigenen Lebens, scheint da logische Konsequenz.
Die hohen Opferzahlen der dreißiger und vierziger Jahre führten aber auch zu ganz praktischen Problemen, die in den achtziger Jahren deutlich spürbar waren, ja es teilweise noch bis heute sind: Es fehlte an Männern. Familie hieß in der Regel: Großmutter, Mutter, Kind. Es gab sage und schreibe doppelt so viele Abtreibungen wie Geburten. Zudem war die Scheidungsrate extrem hoch.
So hat Gessen ihren vier Hauptfiguren noch zwei weitere Nebenfiguren beigestellt, eine Psychologin und einen Soziologen. Dienen Shanna, Serjoscha, Masha und Ljoscha dazu, die ungeheure Dynamik zu veranschaulichen, die der Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland für kurze Zeit freigesetzt hat, und zeigen ihre Lebenswege zugleich die Mechanismen auf, mit denen der Staat grundlegende Veränderungen zu verhindern sucht, so möchte Gessen dem Leser überdies wissenschaftliche Erklärungsansätze für den russischen Nach-Wende-Weg an die Hand geben. Vor allem mithilfe der Soziologie und ihrer statistischen Methoden versucht Gessen Erklärungen zu finden für diesen mangelnden Willen zur Freiheit.
"Da der Staat alles und jeden kontrollierte, war die sowjetische Gesellschaft sehr einfach und vertikal strukturiert. Das führte zu einer zutiefst hierarchischen Denkweise. Auch wenn die Einzelheiten der Rang- und Privilegiensysteme geheim blieben, prägte das Grundprinzip, auf dem sie beruhten, den Alltag aller Sowjetbürger: Der Staat verteilte Waren und Wohltaten im Tausch gegen erwünschte Dienste. Die offizielle Ideologie propagierte derweilen die Gleichheit. Wer zu viel hatte oder wollte, wurde vom Staat sanktioniert. Der Homo Sovieticus zog daraus die Konsequenz, dass innerhalb der jeweiligen Gruppe Wert auf Gleichheit gelegt wurde. Auf jeder Hierarchiestufe, die man im Leben erreichte, herrschte strikte Konformität."
Welt voller Möglichkeiten
Sich mit der eigenen Hierarchiestufe abzufinden, fiel freilich etwas leichter, solange der Unterschied zur nächsthöheren nicht allzu sichtbar war. In den neunziger Jahren wurde eklatanter Reichtum jedoch zunehmend zur Schau gestellt, und wer die Oligarchen nicht mit eigenen Augen in ihren Mercedessen durch Moskau rasen sah, der sah ihre Autos und Villen nun im Fernsehen. Oder er sah dort den Reichtum des einstigen Klassenfeindes. Immer mehr Russen auch reisten nach Europa und in die USA und fühlten sich nun - und obwohl der Lebensstandard in Russland de facto anstieg - ärmer und schlechter als je zuvor.
Die neunziger Jahre sind fraglos das Schlüsseljahrzehnt für die Entwicklung in Russland und sie bilden auch das spannendste Kapitel in Masha Gessens erzählerischer Untersuchung, angefangen mit dem Putschversuch gegen Gorbatschow bis zur erratischen Herrschaft des Instinktpolitikers Boris Jelzin. Heute vor allem als polternder Saufkopf im Gedächtnis, der das sowjetische Tafelsilber an eine Handvoll Kriminelle verscherbelte, macht man sich kaum mehr die Aufgaben klar, vor denen die Politik damals stand. Die Frage war nicht nur, wie man die Aufgaben lösen, sondern auch wem man die Lösung anvertrauen sollte, denn es gab ja keine Politiker, die außerhalb der kommunistischen Systems großgeworden wären. Jelzins erste Wahl fiel auf den 35-jährigen Wirtschaftswissenschaftler Jegor Gaidar, der bis dato als Redakteur für die Prawda gearbeitet hatte.
"Er bildete ein Team aus gleichgesinnten Wirtschaftsexperten – zunächst sechs, später kamen weitere hinzu. Alle waren ungefähr gleichaltrig und kamen aus der Wissenschaft. Sie hatten keinerlei Regierungs- oder Verwaltungserfahrung, und abgesehen von ein paar Kurzreisen in den Westen kannten sie die Marktwirtschaft nur aus Büchern. Diese Theoretiker befanden sich in einer ähnlich schwierigen Lage wie Lewadas Soziologen beim Durchführen ihrer ersten echten Erhebung – nur bestand ihr Auftrag darin, eine Hungersnot zu verhindern, den Totalzusammenbruch der Infrastruktur abzuwenden und die Wirtschaft des Landes neu zu gestalten."
Die frühen neunziger Jahre waren eine Zeit großer Möglichkeiten, Möglichkeiten, die aber nur von wenigen zum finanziellen Vorteil genutzt wurden. Niemandem dagegen gelang es eine Art moralisch-geistigen Aufbruch zu initiieren, auch wenn Jelzin eine Kommission einberief, die an einer Idee der Zukunft arbeiten sollte. Nichts kam dabei heraus und so setzte auch Jelzin irgendwann wieder auf die Beschwörung des Großen Vaterländischen Kriegs und, indem er den ersten Tschetschenienkrieg initiierte, auf die eigene militärische Macht.
Statt also das verheißungsvolle Prickeln neuer Möglichkeiten zu verspüren, neuer Denkmöglichkeiten vor allem, ergriff viele Russen größte Verunsicherung. Die Religion wurde wiederentdeckt, vor allem aber war es die große Zeit der Scharlatane.
"Galina Wassiljewna hatte die Religion zu diesem Zeitpunkt bereits wieder hinter sich gelassen. Ihre spirituelle Suche hatte im Fernsehen ein neues Ziel gefunden. Dort demonstrierte der Hypnotiseur Anatoli Kaschpirowski in Livesendungen immer wieder seine Heilkräfte. Und Galina Wassiljewna hielt, ebenso wie Millionen andere Sowjetbürger, Leitungswasser in Einmachgläsern vor den Bildschirm, um es mit Heilenergie aufzuladen."
Gegen die Oligarchen
Galina Wassiljewna ist die Mutter von Tatjana, Tatjana wiederum die Mutter von Masha Gessens gleichnamiger Heldin Masha. Diese Masha tut es erst ihrer geschäftstüchtigen Mutter gleich und verdient viel Geld, indem sie dabei hilft, Schmiergeldzahlungen beim Import von Kosmetika zu verschleiern. In den 2000er-Jahren aber schließt sie sich den Protesten gegen Präsident Putin an. Eben das tut Shanna Nemzowa, die Tochter des inzwischen ermordeten Boris Nemzow - auch er eine bedeutende, ja die schillerndste Nebenfigur in Gessens Erzählung, und folgt man ihrer Darstellung, der einzige Politiker von Format, der wirklich etwas hin zu einer demokratischeren Gesellschaft hätte bewegen können in Russland.
"Nemzow prägte die Begriffe 'Oligarchen' und 'Kapitalismus der Räuberbarone', die in Gebrauch blieben. Er ersann einen Plan, um die Reichen auf die Plätze zu verweisen, sobald er in Moskau sein neues Amt innehatte. Nach fünf Jahren effizienter Regierungstätigkeit in Nishni Nowgorod war er sicher, dass es nur der nötigen Willensstärke bedurfte, um in der Föderalen Regierung aufzuräumen. In einem Memorandum für Jelzin legte er sein Programm der 'Nationalisierung des Kremls' dar. Der Kreml – das hieß, die politische Macht im Land – sei ebenso privatisiert worden wie die Geschäfte und Ölgesellschaften. Deshalb müssten die rechtmäßigen, gewählten Inhaber ihn jetzt wieder in Besitz nehmen. Nemzows 'Nationalisierungsplan' sah große und kleine Maßnahmen vor. Den Oligarchen sollten die Ausweise entzogen werden, die ihnen uneingeschränkten Zugang zum Kreml gewährten, und auch die besonderen Kfz-Nummernschilder und Blaulichtsignale, die sie von der Straßenverkehrsordnung entbanden. Die Privatisierung sollte von nun an transparent vonstattengehen, mit gleichen Chancen für alle potenziellen Investoren."
Da war es freilich schon zu spät: Die Oligarchen verschworen sich gegen Nemzov und ließen die russischen Medien, die in ihrer Hand waren, in einer konzertierten Aktion gegen ihn anschreiben. Innerhalb kürzester Zeit waren seine zuvor sehr hohen Beliebtheitswerte im Keller.
Mit dem Amtsantritt Wladimir Putins hat sich die alte Ordnung weiter verfestigt. Nach den Turbulenzen der 90er-Jahre sehnten sich die Menschen offenbar vor allem nach Stabilität. Die Russen waren es schnell müde geworden, so Gessen, den Blick in die Zukunft zu richten. Sie zogen ihr Identitätsgefühl aus der Vergangenheit, die sie mit einem Hauch von gesundem Konservatismus imprägnierten. Die Mehrheit sehnte gar die alte Sowjetunion wieder herbei. Hauptsache, ein starker Führer stand an der Spitze, einer, der wie Putin - und anders als Nemzow - keine Probleme damit hatte, mit sogenannten tschetschenischen Terroristen kurzen Prozess zu machen.
So gibt es für Gessen über die letzten zwanzig Jahre im Grunde auch wenig zu berichten. Als der größte Russe aller Zeiten wird bei Umfragen zuverlässig Stalin genannt, auf Platz zwei hat es längst Putin selbst geschafft. Viel beschäftigt sich Gessen da mit der Frage, ob seine Herrschaft nun totalitär oder autoritär zu nennen ist oder ob man noch einen ganz anderen Begriff finden müsste. Über viele Seiten auch spricht sie über den Widerstand, den es gegen Putin gibt, der aber, je länger sie darüber schreibt, um so marginaler erscheint. Überhaupt ist ihre Studie extrem moskauzentriert. Wie es auf dem Land aussieht und was die Menschen dort denken - außer dass Stalin ein großer Mann ist -, kommt in "Die Zukunft ist Geschichte" nicht vor.
Der Körper als Feind
Stattdessen spielt der Status sexueller Minderheiten im heutigen Russland eine große Rolle. Beispielhaft fungiert hier Ljoscha, der sich irgendwann und allen Ängsten zum Trotz zu seiner Homosexualität bekennt und an seiner Universität die Rolle sexueller Minderheiten in Russland zu erforschen beginnt. Als die Widerstände, gegen die er anschreibt, immer größer und bedrohlicher werden, beschließt er schließlich, in die USA zu emigrieren. Der sogenannte Schutz der Familie und ein Puritanismus, der den menschlichen Körper unter Generalverdacht stellt, waren schon immer auch Mittel des politischen Kampfes.
"Um ihre Existenz zu sichern, mussten die Verlage darauf verzichten, Bücher zu veröffentlichen, für die sie möglicherweise verklagt werden konnten – vor allem Jugendbuchverlage, die Gefahr liefen, gegen das neue 'Gesetz zum Schutz der Kinder vor gesundheits- und entwicklungsschädigenden Informationen' zu verstoßen. Dieses Gesetz verbot unter anderem jede Erwähnung des Todes in Büchern für Kinder unter zwölf Jahren. 'Naturalistische' Beschreibungen des menschlichen Körpers waren ebenfalls unzulässig. Verlage, deren Existenz bei einem großen Prozess oder ein paar eingestampften Auflagen auf dem Spiel gestanden hätte, taten gut daran, im Zweifelsfall lieber zu vorsichtig zu sein. Das Gleiche galt auch für Buchläden und Bibliotheken, deren Bestände in einer Stadt nach der anderen von wachsamen Bürgern durchkämmt wurden. Die Selbstzensur, eine der reinsten Formen kollektiver Geiselnahme, war wieder da."
Auch Gessen selbst ist in die USA emigriert, weil sie fürchtete, dass ihr und ihrer Lebenspartnerin die gemeinsamen Kinder weggenommen werden könnten. Sicherlich erweist sich die Offenheit einer Gesellschaft vor allem daran, wie sie mit ihren Minderheiten umgeht. Angesichts dessen, dass in Russland allerdings so gar keine Toleranz gegenüber Schwulen, Lesben oder Transsexuellen herrscht, nimmt ihr Schicksal in Gessens Buch unverhältnismäßig viel Raum ein. Zudem endet "Die Zukunft ist Geschichte" auf einer pessimistischen Note, die an genau die Aussagen all jener erinnert, die 1984 noch dachten, die KPdSU würde ewig herrschen und die Sowjetunion niemals untergehen. Wenn Gessen im Epilog ihres Buches allerdings das weitere Schicksal all jener referiert, die in ihrer Erzählung auftreten, so wird noch einmal klar, warum tatsächlich wenig Grund für Optimismus herrscht: Fast alle sind sie inzwischen gestorben - und keiner eines natürlichen Todes.
"Russland und die Russen starben seit einem Jahrhundert – in den Kriegen, im Gulag und vor allem durch die Geringschätzung menschlichen Lebens im Alltag. Arutjunjan hatte diese Geringschätzung immer als Fahrlässigkeit betrachtet, aber vielleicht war sie eher ein aktiver Impuls. Dieses Land wollte sich selbst töten. Alles Lebendige – die Menschen, ihre Worte, ihr Protest, ihre Liebe – rief hier Aggressionen hervor. Die Lebensenergie war dieser Gesellschaft unerträglich geworden. Sie wollte sterben; das Leben war ein ausländischer Agent."
Masha Gessen: "Die Zukunft ist Geschichte. Wie Russland die Freiheit gewann und verlor"
Aus dem Englischen von Anselm Bühling.
Suhrkamp Verlag, Berlin. 640 Seiten, 26 Euro.