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Massaker aus zwei Perspektiven

Am 11. Juli 1995 marschierten die Truppen des bosnischen Serbengenerals Ratko Mladic in Srebrenica ein: Unter den Augen der geradezu willfährigen holländischen Blauhelme trennten sie die bosnischen Männer von ihren Frauen und Kindern – und liquidierten 7000 von ihnen, vielleicht waren es auch 8000. Zwei Neuerscheinungen zeigen, wie unterschiedlich der Blick auf diese Ereignisse bis heute ausfällt: Ein bosnischer Augenzeuge besticht durch Offenheit und Ehrlichkeit. Der andere, ein bulgarischer Journalist, steht für die Versuche der serbischen Nationalisten, den Völkermord von Srebrenica zu relativieren und zu verharmlosen.

Von Thilo Kößler | 15.06.2009
    "Ich habe überlebt": Mit diesem nüchternen Satz beginnt Emir Suljagic sein Buch über die Ereignisse zwischen 1992 und Juli 1995: über die drei Jahre also, in denen sich Muslime aus ganz Bosnien in die Enklave und spätere Schutzzone flüchteten. Dort waren sie den Angriffen und Schikanen der serbischen Milizen ausgesetzt. Dort wurden sie schließlich misshandelt, verschleppt, ermordet.
    "Ich habe überlebt" – dieser nüchterne Satz beschreibt die Haltung des Augenzeugen Emir Suljagic: Er kann es bis heute nicht fassen, dass er dieses größte Verbrechen in der europäischen Nachkriegsgeschichte überlebte – ungläubig konstatiert er, dass er als einziges Mitglied seiner Familie dem Massaker von Srebrenica entkam.
    Das hat er zwei Umständen zu verdanken: dass er als 18-Jähriger damals für die UNO dolmetschte. Und dass ihn der angetrunkene Ratko Mladic nach einer skurrilen persönlichen Begegnung gehen ließ.

    Ich überlebte, weil sich Mladic an diesem Tag wie Gott fühlte. Er hatte die absolute Macht, über Leben und Tod zu entscheiden. Monate später träumte ich jede Nacht von ihm ... bei meinem Versuch, mir zu erklären, warum er mich verschont hatte, wo ich doch in seinen Augen genauso unbedeutend war wie meine Freunde, deren Erschießung er angeordnet hatte, hatte ich Angst, wahnsinnig zu werden. Ich konnte keine Antwort finden.

    Wenn ein Todgeweihter dem vorhersehbaren Ende entkommt, wären Triumphgefühle durchaus nachvollziehbar – stattdessen hadert der Autor mit seinem Schicksal: In diesen 200 Seiten, die immer wieder verstörend wirken, weil Suljagic auch noch für die monströsesten Verbrechen distanzierte Worte findet – in diesen 200 Seiten lernt der Leser ihn als jemanden kennen, der unter dem Glück des Überlebens schwer zu leiden hat.

    Suljagic war kein Kriegsberichterstatter, und er ist kein Historiker. Er schreibt als Augenzeuge – und dies mit bemerkenswerter Objektivität. Er klagt die Serben wegen ihrer Kriegsverbrechen an. Und verschweigt die bosnischen nicht. Unter Naser Oric kommt es immer wieder zu Übergriffen gegen die serbische Zivilbevölkerung und zu gefürchteten Rekrutierungsfeldzügen in den eigenen Reihen:
    Die Einheiten an der Front wurden fast das ganze Jahr 1992 über komplettiert, indem die Militärpolizei, beziehungsweise Schlägertrupps, die sich so nannten, am helllichten Tag Leute ungeachtet ihres Alters auf der Straße kidnappten und in der Kleidung, die sie gerade anhatten, und mit gezückten Waffen an die Front trieben. ...Ohne Skrupel, ohne ihnen zu sagen, wohin sie gebracht würden, schickten sie die Leute in den Tod.

    Keine Klischees. Keine Heroisierungen. Keine Rachegefühle. Suljagic ist kein Grobschnitzer. Er gewährt allerdings auch niemandem Sympathiekredit.

    Auch den UNO-Schutztruppen nicht, die – das Buch bestätigt es – skandalös versagt haben: Sie ließen sich von der serbischen Führung instrumentalisieren und halfen sogar mit, die bosnischen Männer von ihren Frauen zu trennen - um sie dann ihrem Schicksal zu überlassen. Srebrenica war ein Verrat an der Menschlichkeit, schreibt Suljagic:

    Was ich gesehen habe, war eine kalte, fast bürokratische Gleichgültigkeit, ein Verrat, begangen von gebildeten, nach allen Standards intelligenten Menschen. Menschen, die in diesen Tagen nicht wagten, genau das zu sein – oder die es nicht wollten. Meine Freunde und ich waren zum Tode verurteilt. Und niemand wollte etwas tun.

    Suljagic geht es aber nicht nur um das Massaker vom Juli 1995. Er schildert das Leben in der bosnischen Kleinstadt Srebrenica in den Jahren zuvor, das unter dem Diktat der serbischen Besatzung immer schwieriger wird: In permanenter Angst vor neuen Angriffen und ausgezehrt vom Hunger, macht sich Rücksichtslosigkeit breit. Die Moral verfällt. Während die Menschen verzweifelt Streusalz von den Fahrbahnen kratzen, um es auszukochen, halten lokale Funktionäre die humanitären Güter in den Lagern zurück, um sich selbst zu bereichern:

    Ein Teil der Hilfe wurde an die Bevölkerung verteilt, der andere, bessere, landete auf dem Markt oder in den privaten Lagern der städtischen Funktionäre, die sich im zentralen Magazin die Menge und die Ware, die sie interessierte, aussuchten. Es war alles da, für die Offiziere, die Funktionäre der Stadt, ihre Frauen und Geliebten: von neuen Turnschuhen bis zu Levis-Jeans, die sich in die humanitäre Hilfe verirrt hatten.

    Es sind nicht neue Fakten und Belege, die dieses Buch zu einem Dokument der Zeitgeschichte machen – es sind die Einblicke in die Abgründe eines Kriegsalltags, der Täter und Opfer schließlich immer ähnlicher werden lässt. Auf beiden Seiten sind die Gesetze der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt. Was sie noch unterscheidet, ist die Macht über Leben und Tod: Die einen haben mehr davon, die anderen weniger.
    Die Serben behandelten uns wie Tiere, und wir begannen uns nach einer gewissen Zeit wie Tiere zu benehmen.

    Suljagics Beobachtungen summieren sich zu einer psychologischen Skizze der bosnischen Kriegsgesellschaft - und weisen über sie hinaus. Am Ende jedes Krieges bleiben traumatisierte Gesellschaften zurück – und Menschen, die mit der Vergangenheit nicht fertig werden.

    Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich weiß, dass wir vernichtet worden sind und dass wir viel eher als Menschen vernichtet worden sind denn als Gemeinschaft. Wir sind auf mehr als eine Art vernichtet worden, überall hin verstreut, völlig einsam, wo immer wir auch sind, nicht bereit zu Gefühlen, weil seit dem Fall von Srebrenica alle Gefühle irgendwie verkümmert, fast eine Last sind. Seither betrüge ich die neuen Männer und Frauen in meinem Leben. Ich betrüge sie mit den Toten.

    Suljagics Klage oder besser: Anklage geht in alle Richtungen. Er benennt die Schuldigen und verharmlost nicht das eigene Versagen. Trotz allen Schreckens macht dieses Buch Hoffnung – denn würde sich dieser unverstellte Blick auf die Vergangenheit durchsetzen, hätte Versöhnung eine Chance auf dem Balkan.
    Aber die Realität sieht anders aus. Und statt der Brückenbauer sind die publizistischen Brandstifter am Werk. Einer von ihnen ist Germinal Civikov – ein gebürtiger Bulgare, der als Journalist in Den Haag lebt und einer jener Apologeten des serbischen Opfermythos ist, die Srebrenica kleinreden und den Völkermord bagatellisieren wollen.

    "Srebrenica – der Kronzeuge" heißt sein Buch: Der Prozess gegen einen Beteiligten an den Erschießungen von Srebrenica vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal gibt dem Autor Gelegenheit, alle Verschwörungstheorien aufzukochen, die in serbischen Nationalistenkreisen immer noch die Runde machen.

    Es geht um das Geständnis des bosnischen Kroaten Drasen Erdemovic vor dem Haager Tribunal, das schließlich zu den internationalen Haftbefehlen gegen Ratko Mladic und Radovan Karadciz führte. Fintenreich versucht der Autor, die Aussagen dieses Kronzeugen zu widerlegen. Vor allem aber versucht er, die Richter des Tribunals der Manipulation zu überführen.

    Schon beim ersten Anhören weist die Geschichte von Erdemovic mehrere Widersprüche auf, die in einem normalen Strafverfahren kein Richter akzeptieren würde... Zugleich hat man mit der unerklärlichen Tatsache zu tun, dass die Anklagebehörde, und sei es nur, um diese Widersprüche zu lösen, keinen der Mittäter Erdemovics zu der von ihm geschilderten Untat vernehmen will.

    Will heißen: Das Tribunal verhindert Zeugen, es versucht, die Wahrheit zu unterschlagen. Tatsache ist, dass dem Haager Tribunal gar nichts anderes übrig blieb, als sich auf einige exemplarische Fälle zu konzentrieren – um auf diese Weise Licht in das Dunkel der serbischen Befehlskette zu bringen: Die verantwortlichen Politiker und Militärs sollten überführt werden. Natürlich hätte sich das Gericht leichter getan, wenn sich Milosevic, Mladic und Karadzic freiwillig dem Tribunal gestellt hätten –, aber das verschweigt der Autor.

    Stattdessen zweifelt er auch noch das Ausmaß des Völkermords an. Zynisch argumentiert er, dass es in der Kürze der Zeit technisch gar nicht möglich gewesen sei, so viele Menschen zu liquidieren.

    Insgesamt soll es sich um 120 Gruppen von je 10 Gefangenen gehandelt haben. Will man Gruppe nach Gruppe im Abstand von 10 Minuten erschossen haben, auch dies schon ein unzumutbares Tempo, bräuchte man für die Erschießung von 1.200 Menschen mindestens 20 Stunden.

    Genug davon – jedes Wort ist zu viel. Das Schlimme ist nur: Die Verharmloser, Verschweiger und Vertuscher vom Schlage Civikovs wollen nicht verstummen. Das skandalöse Leichenaufrechnen und das beharrliche Verleugnen aller Fakten nimmt kein Ende. Nicht minder bedenklich stimmt allerdings, dass es immer noch Verlage gibt, die diese perfiden Geschichtsfälschungen der letzten großserbischen Nationalisten weiter verbreiten – und auch noch die Unverschämtheit besitzen, sie ihren Lesern als akribische Recherche zu verkaufen.

    Abmoderation: Thilo Kößler mit einer nachdrücklichen Empfehlung für Emir Suljagic und sein Buch "Srebrenica. Notizen aus der Hölle". Die gut 200 Seiten sind im Paul Zsolnay-Verlag erschienen. Der Preis: Euro 17,90. Kein gutes Haar lässt unser Kritiker dagegen an Germinal Civikov und seinem Buch "Srebrenica. Der Kronzeuge", erschienen im Promedia Verlag, rund 180 Seiten kosten Euro 15,90.