Donnerstag, 28. März 2024

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Masse, Macht und Medien

Elias Canetti, Weltbürger und Nobelpreisträger, der heute 100 Jahre alt würde und 1994 mit 89 Jahren starb, hat eines der vielseitigsten Werke des 20. Jahrhunderts geschaffen. Als Chronist, Artist und Vordenker reflektierte er nicht nur die Kriegserfahrungen des 2. Weltkriegs, sondern immer wieder auch den Zusammenhang zwischen Masse, Macht und Medien.

Von Cornelie Ueding | 25.07.2005
    " Ich bin in Bulgarien geboren, aber meine Muttersprache war nicht Bulgarisch. Ich sprach das alte Spanisch des 15. Jahrhunderts, das sich in der Türkei und in früheren Teilen des türkischen Reiches sehr rein erhalten hatte. Es war die Sprache, die die Juden aus Spanien mitnahmen, die dort während der Inquisition vertrieben wurden. Der Wortschatz des 15. Jahrhunderts. Das war die Sprache meiner ersten sechs Lebensjahre. Dann übersiedelte mein Vater nach England und ich kam zum ersten Mal in England in die Schule. So wurde Englisch die zweite Sprache in meinem Leben. Meine Mutter wollte, dass wir Kinder mehrsprachig aufwachsen und so hielt sie uns gleich eine französische Gouvernante und wir lernten da auch schon Französisch. Mein Vater starb sehr jung in England. Und meine Mutter beschloss, nach Wien überzusiedeln, das sie von ihrer Jugend her ganz besonders gern hatte. Und sie brachte mir in wenigen Wochen, rasch und auf fast terroristische Weise, Deutsch bei und ich kam in Wien in die Schule. So war Deutsch nun die vierte Sprache. "

    Sprache und Terrorismus, Zunge und Horror, - bei Elias Canetti ist das Wort nie ein banales Verständigungsmedium, sondern ein körperliches, existenziell an einen Leib, eine Stimme, eine Situation gebundenes, etwas bei dem es um Leben und Tod geht. Sei es der Klang des den Namen Allahs lallenden Bettlers in den "Stimmen von Marrakesch" oder "Die Gerettete Zunge":

    " Meine früheste Erinnerung ist in Rot getaucht. Auf dem Arm eines Mädchens komme ich zu einer Türe heraus. Der Boden vor mir ist rot und zur Linken geht eine Treppe hinunter, die ebenso rot ist. Gegenüber von uns, in selber Höhe, öffnet sich eine Türe und ein lächelnder Mann tritt heraus, der freundlich auf mich zugeht. Er tritt ganz nahe an mich heran, bleibt stehen und sagt zu mir: "Zeig die Zunge!" Ich strecke die Zunge heraus, er greift in seine Tasche, zieht ein Taschenmesser heraus, öffnet es und führt die Klinge ganz nahe an meine Zunge heran. Er sagt: "Jetzt schneiden wir ihm die Zunge ab." Ich wage es nicht, die Zunge zurückzuziehen, er kommt immer näher, gleich wird er sie mit der Klinge berühren. Im letzten Augenblick zieht er das Messer zurück, sagt: "Heute noch nicht. Morgen.""

    Obwohl alles für diesen Autor ohne feste Herkunft und Zugehörigkeit, diesen Grenzgänger ohne Sonderlingsallüren spricht, hielt die etablierte Literaturkritik lange an einem spürbaren Misstrauen gegen Canetti fest.
    Nicht zuletzt sein Charisma machte den Kosmopoliten der Literatur offenbar verdächtig, den dozierenden "Maestroso" der Essayistik, den kleinwüchsig Löwenhäuptigen, den Akteur auf den Bühnen der Kultur und des Theaters: Künder, Gaukler, Virtuose, Stimmenimitator und Marktschreier. Keine Sprachmaske, die dem Mann mit den tausend Stimmen fremd wäre, keine, die er nicht parodierend, nachahmend, aufnähme, wie hier in der "Komödie der Eitelkeit":

    " Und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, wir haben etwas vor. Was haben wir vor? Etwas Kolossales haben wir vor, […] ganz großartig kolossal, und wir, meine Herrschaften, wir sind ganz kolossal, […], hier dürfen Sie, meine Herrschaften, auf Ihr verehrtes Bild zielen. Sie bekommen fünf Bälle. […] Sie bekommen fünf runde, harte Bälle, tadellos und intakt. […] Ich liefere Ihnen, meine Herrschaften, fünf Bälle in die Hand. Wer zahlt's? Sie nicht! Sie haben da nichts zu zahlen. Sie dürfen gar nichts zahlen. Denn wir, meine Herrschaften, und wir, und wir, und wir, wir nehmen die Bälle in die Hand und was geschieht mit den Bällen? Worauf zielen Ihre verehrten Hände? Auf Ihre eigenen Bilder! Sie haben vor sich Ihre Bilder, Ihre hochverehrten Bilder. Sie zielen auf Ihre Bilder, und Sie hauen Ihre Bilder kaputt."


    Erst der Nobelpreis 1981 bescherte ihm auch im deutschen Sprachraum positive Resonanz: fortan wurde aus "Ungreifbarkeit" "Tiefsinn", aus "Verzettelungsgefahr" überwältigende "Vielseitigkeit". Fast unberührt von dem allen tapst der Mann ohne Zugehörigkeit und ohne Gewähr durch Zürich, seinen, nach Wien und London, dritten Stadtgötterhimmel, unerkannt stadtbekannt, nächtelang in sich hineinlesend und schreibend; dann und wann mit verstellter Telefonstimme die Menschen auf Beobachtungsdistanz haltend, auch hier zwiespältig: hautnah als Material, entfernungsgebieterisch, was das Persönliche betrifft. Kurz – ein Unikat mit geschärftem Blick für das, was die Welt zusammenhält und was sie zum Zerfallen bringen könnte.

    Canetti warnte vor Krieg, Gewalt und – Befehlsgewalt; und vor der Verblendung einer auf Leistung, Spezialisierung, Perfektion und – im heutigen Sprachgebrauch würde man sagen: Leuchttürme fixierten Welt. Er lebte und entfaltete in seinen Texten: Vielfältigkeit, Verschiedenartigkeit und seine Werke sind aktueller denn je.