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Masse, Rausch und Ritual

Sechs Millionen Menschen drängt es alljährlich aufs Oktoberfest in München, das wohl größte Volksfest der Welt. Welche Sehnsüchte bringen Menschen dazu, sich in der Masse und nicht im kleinen Kreis zu vergnügen? Und warum ist die Berührungsfurcht des Alltags hier plötzlich verschwunden? Die Psychologin Brigitte Veiz ist diesen Fragen nachgegangen.

Von Regine Igel | 05.10.2006
    " Bevor ich die Führung beginne: wie komme ich auf die Idee überhaupt, das zu machen. Ich habe mich mit dem Oktoberfest sehr lange befasst und habe dies Buch darüber geschrieben: Das Oktoberfest. Masse Rausch und Ritual. "

    Die Psychologin Brigitte Veiz hat nicht nur vor Ort geforscht, sie ist seit 14 Jahren selbst begeisterte Bierzelt-Besucherin dieses größten Volksfestes der Welt, das während seiner 16 Tage rund sechs Millionen Besucher anzieht. In seinen zwölf Zelten gibt es 100.000 Sitzplätze, von den Stehplätzen gar nicht zu reden. An Tagen wie Samstag kann man mit 450.000 Gästen rechnen, das sind Dimensionen von einer Stadt. Und genau dies überwältigt die Besucher: Teil dieser Masse Gleichgesinnter zu sein.

    In den letzten Jahrzehnten sind immer mehr Menschen gekommen, aus anderen Bundesländern, aus der ganzen Welt. Das zweite Wochenende ist speziell von Italienern überflutet. Auch andere Massenevents in unserem Land erfreuen sich wachsender Beliebtheit: die Love Parade in Berlin, Rock- und Popkonzerte, die Kundgebungen mit dem Papst, die Ansammlungen um die Fußball-Weltmeisterschaft herum und schließlich auch die Langen Nächte der Museen. Welche Sehnsüchte drängen die Menschen, sich in der Masse und nicht im kleinen Kreis zu vergnügen? Und warum ist die Berührungsfurcht des Alltags hier plötzlich verschwunden? Brigitte Veiz:

    " Das lässt sich auch wissenschaftlich erklären, der Elias Canetti hat sich sehr mit dem Thema befasst, in dem Buch "Masse und Macht". Und er beschreibt auch, dass eben die Ängste in der Masse sich auflösen, wenn die Masse ein gemeinsames Ziel hat. Also wenn die Menschen ein gemeinsames Ziel haben, das Ziel auf dem Oktoberfest ist, gemeinsam zu feiern, oder im Fußballstadion, da geht es z.B. um den Sieg der Mannschaft, nennt Cannetti das das Umschlagen der Berührungsfurcht. Also die Berührungsfurcht, die die Menschen sonst haben, hört in der Masse auf, man genießt die Dichte, man möchte eng und dicht beieinander sein. Wenn man dieselben Lieder singt, dieselbe Stimmung hat, dasselbe Ziel verfolgt, also dieselbe innere Einstellung hat, fühlt man sich verbrüdert und wie ein großes Ganzes. "

    Das, was einem unangenehm in der Menschenmenge ist, wenn man herumgeschupst wird und die Menschen einem zu fremd und zu viel sind, das wird - vor allem in den Zelten - auf dem Oktoberfest aufgelöst, weil die Masse ja zusammen feiern möchte.

    Das Einswerden mit der Masse hebt vorübergehend die soziale Schichtung auf. Auf dem Oktoberfest duzt man sich sehr schnell, man spricht und trinkt zusammen, man teilt die Brezeln, man singt gemeinsam Lieder und es wird nicht gefragt, wo einer her kommt, ob er reich oder arm ist oder mit welchen Statussymbolen er sich umgibt. Diese Verbrüderung bietet der Alltag kaum, da ist man oft allein, isoliert, ungeborgen.

    Wichtig ist für den Einzelnen auch die Anonymität in der Masse, dass er hier nicht erkannt wird und man in den Zelten mehr oder weniger tun oder lassen kann, wie man will, niemand antwortet mit Sanktionen.

    Man darf auf dem Oktoberfest auch mal dreijährig sein, laut singen und laut schreien, wenn man in der Achterbahn Angst hat, wenn es zu schnell wird.

    Man kann auch mal mit dem Bier rumspritzen oder mal einen Maßkrug zerbrechen, es geht eben auch mal ziemlich heiß her. Man kann mal flirten mit jemanden, jemanden anfassen, den man gar nicht kennt. Das kann man sonst ja nie so einfach tun. Und genau dies genießen die Wiesnbesucher

    Doch entgegen dem Bild, was sensationssüchtige Massenmedien gerne von dem Oktoberfest zeichnen, Exzesse und aggressives oder vulgäres Verhalten sind die seltene Ausnahme. Das Bild ist geprägt durch Verbrüderung und Fröhlichkeit, sowohl draußen bei den Karussells und Buden, als auch in den Bierzelten. Wiewohl die Bier trinkende und mit der Musik singende Masse der etwa 6000 Menschen in einem Zelt, wenn es auf den Schlusspunkt des Abends um 22.30 Uhr zugeht, ekstatische Züge zeigt. Da werden durchaus persönliche oder gesellschaftliche Tabus gebrochen. Brigitte Veiz:

    " Das ist halt sicher auch so ein Punkt, was Freud das Unbehagen an der Kultur nennt. Ähnlich wie das, was Norbert Elias die Selbstzwangapparatur nennt. Dieses Thema, dass ich eben Triebe, Wünsche, libidinöse Sehnsüchte unterdrücken muss oder kontrollieren muss im Alltag, um zu funktionieren, um zu arbeiten, was zu schaffen oder aufzubauen. Man kann sich nicht ständig wild in der Gegend rum ausleben, das wäre Chaos. "

    " Aber der Wunsch dies zu tun, auch das Regressive, was im Oktoberfest steckt, man darf da auch mal dreijährig sein, laut singen, laut schreien, oder in der Achterbahn mal so raustoben, wenn man Angst hat, wenn es zu schnell wird. Das sind ja Dinge, die man sonst alle beherrscht, man lässt ja sonst seine Gefühle etwas gedeckelt oder benimmt sich, in Anführungszeichen, normal oder wie es bei uns üblich ist. Ich denke, seelisch gesehen, mit Freud gesagt, der Mensch braucht das einfach. Man kann seine Triebe und sinnlichen Wünsche nicht ständig unterdrücken. Man muss sie auch ausleben dürfen. Und da ist eben diese Auszeit dazu da, also auch Psychohygiene, wenn man so will. Oktoberfest als therapeutische Möglichkeit sich auch mal auszuleben. "

    Jede Kultur hat diese Art Feste, in denen der symbolische Stammesfürst dem Volk erlaubt, sich einmal richtig auszutoben. Doch er achtet auch auf eine gewisse Ordnung und Struktur, damit kein Chaos entsteht. Diese Ordnung schaffen immer gleich bleibende Rituale, die die Masse zusammenhalten. Das Oktoberfest ist voll davon. So findet das Fest immer zur gleichen Zeit und am gleichen Ort statt, immer beginnt alles mit dem eröffnenden Fassanstich durch den Oberbürgermeister und seinem Ausspruch "O'zapft is!". Anschließend zieht der Trachten- und Schützenumzug durch die Stadt. Der mit Bier gefüllte Maßkrug bleibt das Getränk, dazu die Riesenbrezel. Zentral sind auch die Wiesn-Hits, die jeden Tag und mehrmals an einem Abend wiederholt werden. Viele Menschen tragen Weiblichkeit und Männlichkeit betonende Dirndl und Lederhosen.

    Der Begriff Ritual wurde in den letzten Jahrzehnten sehr stark in der Wissenschaft auch auf profane Handlungen übertragen. Also er bezieht sich nicht mehr nur auf Sakrales. Wiederholte Handlungen, die auch bestimmte Bedeutungen haben, werden als rituell bezeichnet. Und davon ist das Oktoberfest übervoll.