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Massenprotest in Hongkong
"Der Funke könnte auf Festlandchina überspringen"

Was in Hongkong passiert, lässt sich nicht mehr wegzensieren, ist der chinesische Publizist Shi Ming überzeugt. Durch die starke ökonomische Verflechtung wisse man in Südchina über die Proteste in Hongkong genau Bescheid, sagte Shi Ming im DLF. Dies sei eine Herausforderung für Peking.

Shi Ming im Gespräch mit Thielko Grieß | 01.10.2014
    Zwei junge Frauen verteilen Essen an Pro-Demokratie-Demonstranten in Hongkong
    Vor allem junge Menschen demonstrieren in Hongkong für mehr Demokratie. (AFP/ Alex Ogle)
    Thielko Grieß: Heute ist Staatsfeiertag in China. Die Volksrepublik feiert ihre Gründung vor 65 Jahren. Etwas anders sieht es in Hongkong aus. Dort harren Demonstranten mit Regenschirmen weiter im Zentrum aus. Die Schirme schützen gegen alles, was von oben kommt. Regen ist es zum Teil, aber eben auch Pfefferspray oder Wasser aus Wasserwerfern. Die Demonstranten haben der Regierung bis morgen ein Ultimatum gestellt. Sie fordern den Rücktritt des Chefs der Sonderverwaltungszone Hongkong und sie fordern Wahlfreiheit. Aus Berlin ist uns jetzt zugeschaltet Shi Ming, in Peking geborener Journalist und Jurist, inzwischen seit langer Zeit in Deutschland lebend. Herr Shi, guten Morgen!
    Shi Ming: Guten Morgen.
    Grieß: Wann, glauben Sie, schlägt die chinesische Staatsmacht die Demonstranten auseinander?
    Shi Ming: Das steht noch gar nicht fest, ob Peking in dieser Direktform eingreifen wird. Es gibt zwar Warnungen direkt aus Peking, auch heute ein Leitartikel im Parteiorgan, die der sogenannten Minderheit der Hongkonger Chinesen bezichtigten, sie stören nicht nur die Stabilität, sie ruinieren auch die Zukunft Hongkongs. Aber das sind die medialen Stimmen der Führung. Bisher hat sich noch niemand von der obersten Führung als Person zu Wort gemeldet. Die Option hält man sich noch frei.
    Grieß: Halten Sie die chinesische Führung durch diese Proteste in Hongkong für ernsthaft herausgefordert?
    Shi Ming: Herausgefordert sind sie schon seit drei Jahren, denn diese Occupy-Bewegung startete ja vor drei Jahren. Man nahm sie gar nicht ernst. Es waren ja nur wenige Intellektuelle, es waren wenige Abgeordnete im Hongkonger Parlament, und dann war es noch eine kleine Gruppe von Studenten und Schülern, vielleicht noch ihre Eltern. Weil man sie vor drei Jahren nicht ernst genommen hat - man hatte sie noch ausgelacht -, ist man zusätzlich heute noch herausgefordert worden, weil daraus so eine breite Bewegung geworden ist, wo man nicht mehr klar heraushalten kann, wer die Initiatoren noch sind, wer jetzt den neuen harten Kern bildet, zum Beispiel die Anführer sind. Es sind nicht mehr die alten, sondern es sind neue.
    Herausgefordert ist Peking aber auch in einer anderen Hinsicht, die bisher in europäischen Medien weniger diskutiert worden ist. Hongkong ist in den letzten 20 Jahren sehr stark ökonomisch mit dem südchinesischen Raum verwachsen. Was in Hongkong passiert, lässt sich nicht mehr wegzensieren, in den Medien sowieso nicht, aber auch nicht in den Köpfen der Menschen. Es sind mindestens sieben Millionen Chinesen, die die Zulassungspapiere in der Tasche haben, jeden Tag jederzeit nach Hongkong zu fahren. Das sind hauptsächlich Südchinesen. Sie wissen ganz genau Bescheid, was in Hongkong passiert. Sie haben teilweise auch die Hongkonger Denkweise übernommen in China selbst, und das ist eine viel größere Herausforderung, dass die Funken jetzt in Hongkong überspringen könnten auf Festland-China.
    "Die Medien geben nur einen Teil der Realität wieder"
    Grieß: Sie haben gerade in einem interessanten Nebensatz gesagt, diese Informationen, die Proteste ließen sich nicht wegzensieren. Ich habe immer von hieraus aus Deutschland den Eindruck gehabt, dass in China sehr stark und sehr kontrolliert kontrolliert wird, das Internet zum Beispiel, die Medien.
    Shi Ming: Ja! Die Medien sind auch sehr stark kontrolliert worden, auch die sozialen Medien, und dennoch merkt man, dass die Bevölkerung Bescheid weiß. Es liegt einfach nur an den Zahlen der Menschen, die die Zulassung in der Tasche haben, die jeden Tag in Hongkong sein können. Sie schicken private E-Mails zum Beispiel, sie telefonieren mit den Leuten, es multipliziert sich dann so, wenn es sieben Millionen sind. Wenn diese sieben Millionen Menschen jeden Tag drei Telefonate machen würden, dann sind es schon zig Millionen Chinesen, die Bescheid wissen.
    Die Medien geben nur einen Teil der Realität wieder und außerdem fängt es jetzt in sozialen Medien an, trotz starker Zensuren, dass die Fotos aus Hongkong verbreitet werden, noch sehr spärlich, und zudem ist es so, dass die linken marxistischen Diskussionsforen offenbar die Erlaubnis schon bekommen haben, frei im Internet zu kommentieren, was in Hongkong passiert. Das heißt, wenn diese Seite, diese linke Seite die Erlaubnis bekommt, dauert es nicht mehr lang, bis ihre Gegenseite zurückschießt.
    Grieß: Ganz kurz noch, Herr Shi. Das, was Sie jetzt geschildert haben für Hongkong und den südlichen Teil Chinas, das, vermute ich, nimmt dann aber ab, je weiter wir ins Inland Chinas kommen.
    Shi Ming: Das ist auch nicht immer gesagt, denn der südchinesische Raum ist der Stützpfeiler für die chinesische Exportwirtschaft. Wir erinnern uns: Zwei Drittel der chinesischen Exporte kommen aus diesem Raum. Mehr von dieser Exportwirtschaft profitieren die Chinesen auch im Landesinneren. Viele Wanderarbeiter zum Beispiel wandern genau nach Süden hin, um in dieser Wirtschaft zu arbeiten. Das heißt nicht, dass diese Wanderarbeiter sich sonderlich für die Lage in Hongkong interessieren, aber betroffen sind sie allemal.
    Grieß: Der chinesische Jurist und Publizist Shi Ming heute Morgen bei uns im Deutschlandfunk - Hintergründe zu den Demonstrationen in Hongkong. Herzlichen Dank nach Berlin, Herr Shi.
    Shi Ming: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.