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Mathematiker-Kongress in Berlin
Die Mathematik der Giftkröte

Ein unerwünschter Einwanderer ist die Aga-Kröte, die sich immer weiter über den Australien ausbreitet. Französische Forscher haben nun ein mathematisches Modell entwickelt, mit dem sich die Ausbreitung der Giftkröte präzise berechnen lässt. Vorgestellt haben sie ihre Theorie auf dem Europäischen Mathematikerkongress, der gerade in Berlin stattfindet.

Von Frank Grotelüschen | 21.07.2016
    Eine Aga-Kröte sitzt auf dem Waldboden.
    Die giftige Aga-Kröte gehört eigentlich nach Mittel- und Südamerika. Durch den Menschen in Australien eingeschleppt ist sie ein großes Problem für die dortige Tierwelt. (imago / blickwinkel)
    Ursprünglich hatte Vincent Calvez alles andere im Sinn als Giftkröten, die den australischen Kontinent erobern. Vielmehr interessierte sich der Mathematiker aus Lyon für das Verhalten von Bakterien.
    "Bakterienkolonien können sich gemeinsam bewegen, und zwar als Welle, ähnlich wie Schall. Dadurch bildet sich eine regelrechte Front, die mit einer Geschwindigkeit von bis zu vier Mikrometern pro Sekunde vorrückt. Und wir wollten wissen, wie sich das mathematisch beschreiben und ausrechnen lässt."
    Calvez versuchte es mit der Boltzmann-Gleichung - eine Formel, die eigentlich erfunden wurde, um das Verhalten eines Gases zu beschreiben. Zu seiner Überraschung merkte der junge Mathematiker: Auch in der Welt der Mikroben funktioniert Boltzmanns Formel erstaunlich gut.
    "Eine Mikrobe bewegt sich zufällig durch die Gegend, also ähnlich wie ein Molekül in einem Gas. Stellt das Bakterium dann fest, dass in einer bestimmten Richtung die Zuckerkonzentration steigt, wird es sich in dieser Richtung halten. Und wir haben herausgefunden, dass die Bakterien bereits beim Richtungswechsel merken, welche Richtungen vielversprechend sind und welche nicht."
    Womit der Mathematiker ein neues Detail der bakteriellen Futtersuche nach dem Zucker entdeckt hat - für Mikrobiologen eine durchaus interessante Erkenntnis. Doch damit nicht genug:
    "Dann bemerkten wir, dass sich unsere Methode auch auf ein völlig anderes Problem der Biologie anwenden lässt: Die Invasion von fremden Arten."
    Invasive Arten sind Spezies, die meist durch den Menschen eingeschleppt werden, so neue Lebensräume erobern und dann manchen Altbewohner verdrängen. In Deutschland gelten Waschbär, Wollhandkrabbe und pazifische Auster als tierische Invasoren. Calvez und seine Kollegen wurden auf ein Problem aufmerksam, das in Australien grassiert:
    "Die Aga-Kröte, mit einem Gewicht von einem Kilogramm ein überaus stattlicher Vertreter ihrer Familie. Ursprünglich stammt sie aus Amerika. Doch vor 80 Jahren wurde sie in Nordostaustralien ausgesetzt. Heute hat sich zu einer regelrechten Landplage entwickelt. So gehen heimische Schlangen, Warane und Marder reihenweise zu Grunde, wenn sie die Giftkröten fressen. Und: Deren Vormarsch ist noch lange nicht gestoppt. Vincent Calvez wollte im Detail wissen, wie sich die "Giftkrötenfront" über Australien ausbreitet. Das Resultat:
    "Die Kröten breiten sich ähnlich aus wie die Bakterien: Bei beiden wandern die einzelnen Individuen nach dem Zufallsprinzip, und dennoch kommen sie im Kollektiv als Front voran."
    Besonders überraschend war die Erkenntnis, wie schnell sich die Aga-Kröte neue Gebiete erschließt. Die Ausbreitung der Krötenfront beschleunigt sich sogar.
    "Am Anfang, in den 1930er Jahren, waren es nur zehn Kilometer pro Jahr. Heute breitet sich das Tier mit einer Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Jahr aus. Diese Beschleunigung ist eher untypisch für eine Invasion. Ein Erklärungsversuch dafür ist, dass es in der Front verstärkt zu evolutionären Anpassungen kommt: Die besonders schnellen und ausdauernden Individuen haben bei der Eroberung Vorteile und setzen sich deshalb durch. Diese These konnten wir mit unserem mathematischen Modell stützen und die Beschleunigung der Invasionsfront präzise berechnen."