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Mathematischer Querdenker

Leonard Euler gilt rückblickend als der begnadetste Mathematiker des 18. Jahrhunderts. Viele seiner Rechenmethoden haben bis heute Bestand, bilden zum Beispiel die Grundlage für optimierte Fahrtrouten der Müllabfuhr und Datenströme in Computerchips.

Von Judith Rettenmeier | 15.04.2007
    Jeden Mittag um Zwölf erschüttert ein Kanonenschuss von der Peter-und-Paul-Festung das Zentrum von St. Petersburg. Seit 300 Jahren führen Soldaten dieses Ritual durch, das der Gründer der Stadt, Peter der Große, eingeführt hat. Einmal am Tag sollen alle wissen, wie spät es ist. Wo heute die Festungsuhr das Zeichen zum Feuern gibt, schickte früher der Spiegel einer Sonnenuhr das Signal. Verantwortlich dafür war Leonhard Euler, der größte Mathematiker des 18. Jahrhunderts.

    Geboren am 15. April 1707 in Basel, wächst Euler im Nachbardorf Riehen auf. Dort arbeitet sein Vater als Pfarrer. Heute ist Paul Jungi Pfarrer in der Dorfkirche. Mit der Geschichte seines Vorgängers und dessen Sohnes hat er sich beschäftigt, wie er mit großen Augen erzählt:

    "Ich stell mir vor, wenn einer eine solche Begabung in sich trägt und so Visionen der Mathematik nachvollziehen kann, das ist ein ganz besonderer Mensch."

    Ein besonderer Mensch, dessen Genie die Stadtväter am Rhein aber verkennen: Sie verweigern Euler die Professur für Physik, Grund für den jungen Wissenschaftler, die Heimat für immer zu verlassen und ein Abenteuer zu wagen. Weit weg am Zarenhof in Russland locken Geld und Karriere. Mit 20 Jahren reist Euler nach St. Petersburg. Sein Wohn- und Arbeitsort wird die Kunstkammer, das erste Museums- und Forschungszentrum Russlands. Euler seziert erstmal Tiere wie Menschen. Später entwirft der Schweizer den ersten Stadtplan von St. Petersburg. Als er durch eine Krankheit ein Auge verliert entwickelt er Linsen, die Mikroskope und Fernrohre verbessern.

    Euler, der Paneuropäer: Unermüdlich korrespondiert er mit den gelehrten Köpfen seiner Zeit. 1736 fordert ihn ein Brief auf, das Rätsel von Königsberg zu lösen. Ist es möglich, alle sieben Brücken der Stadt zu überqueren und dabei jede nur einmal zu benutzen? Euler beweist, dass ein solcher Spaziergang nicht möglich ist und eröffnet der Mathematik damit ein neues Feld, beschreibt der Mathematiker Günter Ziegler:

    "Aber Probleme, die man heute lösen muss, sind von dem Typ, in welcher Reihenfolge lasse ich meinen Müllwagen durch eine Kleinstadt oder eine Großstadt fahren, damit die jede Straße einmal abfahren? Die sieben Brücken von Königsberg werden dann letztlich ersetzt durch die 700.000 Straßen von Berlin, und das ist bei der Müllabfuhr genauso wie bei der Erstellung von U-Bahnplänen, Buseinsatzplänen oder auch beim Chipdesign."

    Eulers Grafentheorie ist Grundlage für vieles, was unseren Alltag prägt: In den Augen des Kulturwissenschaftlers Friedrich Kittler zeichnet Euler vor allem eines aus.

    "weil er wie kaum ein anderer Mensch sein ganzes Leben der mathematischen Erfindung gewidmet hat und vielleicht derjenige ist, der am meisten Innovationen gebracht hat in die Mathematik."

    Mitte des 18. Jahrhunderts zieht der Mathematiker nach Berlin. Während Friedrich der Große auf Kriegszüge geht, hat Euler das Ansehen der Preußischen Akademie der Wissenschaften wieder herzustellen. Die einst von Leibniz gegründete Akademie ist zum Spott der Nation geworden, hat sie doch die letzten Jahre tatsächlich ein Hofnarr geleitet. Leonhard Euler erarbeitet den Reformplan, gibt den ersten Schulatlas heraus und der Akademie ihren Ruf zurück. Mit dem Spiel der magischen Quadrate entwickelt er seinen liebsten Zeitvertreib, den Vorläufer von Sudoku. Friedrich den Großen kann Euler allerdings nicht für Zahlenspiele begeistern.

    Genauso wenig für seine Musiktheorie und Kompositionen - wie diese hier, die nach Eulers Tagebuchvorlage am Computer rekonstruiert wurde. Ein Konzert vor der Preußischen Hofgesellschaft gerät zum Desaster, der König außer sich.

    Euler kehrt nach St. Petersburg zurück und das Schicksal fordert ihn erneut: Er erblindet fast vollständig. Wo dem Mathematik-Poeten die äußere Welt verschwimmt, erschließt sich ihm die imaginäre Zahl. Mit Hilfe der Symbole pi, e, i berechnet Euler die Mondbewegungen und Kometenbahnen. Als der Forscher mit 76 Jahren stirbt, hinterlässt er ein so umfangreiches Werk, dass Wissenschaftler bis heute an der Veröffentlichung seiner Schriften arbeiten.