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Matthias Dell
Sehr geehrte Rundfunkteilnehmer_innen

Sprache wandelt sich: Die sehr geehrten Rundfunkteilnehmer zu begrüßen, gehört heute nicht mehr zu den Gepflogenheiten im Umgangston. Dann doch lieber die HörerInnen, Hörer*innen, Hörerinnen und Hörer ansprechen. Ganz zeitlos ist allerdings die Ablehnung, die den Gleichstellungsversuchen in der Sprache entgegentritt.

Von Matthias Dell | 23.03.2017
    Ein Tweet der baden-württembergischen Landesregierung mit dem geschlechtsneutral formulierten Wort "Bürger*innen" ist am 02.06.2016 auf einem Mobiltelefon zu sehen.
    Ein Tweet der baden-württembergischen Landesregierung mit dem geschlechtsneutral formulierten Wort "Bürger*innen" (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    Liebe Hörerinnen und Hörer, ich begrüße Sie zu dieser Medienkolumne. Vor 50 Jahren hätte ich Sie vermutlich anders begrüßt – als liebe Hörer. Oder mit: Sehr geehrte Rundfunkteilnehmer. Denn Sprache wandelt sich. Das ist ein dauernder Prozess, weshalb es so schwerfällt zu sagen, wann und wo etwas angefangen hat. Im Berliner Arsenal-Kino waren kürzlich zwei Dokumentarfilme über Politik zu sehen. In dem ersten von 1967 sagte der Politiker zu seinen Wählerinnen noch: Liebe Mitbürger. In dem zweiten von 1992 hieß es dann: Liebe Berlinerinnen und Berliner.
    In dem Vierteljahrhundert dazwischen muss also etwas passiert sein mit dem Sprachgebrauch. Es gab offensichtlich das Bedürfnis, dass Frauen hervortreten aus dem Schatten, den das generische Maskulinum wirft. Denn als Sprachwissenschaftsbeamter könnte man mit Blick ins Regelbuch der Grammatik sagen: Wieso regen sich die Frauen denn so auf, sie sind doch mitgemeint von der männlichen Form! Man muss aber keine Akademikerin sein, um zu verstehen, dass mitgemeint sein etwas anderes ist als gemeint sein. Wer das Wort "Verfassungsrichter" hört, hat nicht zuerst das Bild von Susanne Baer vor Augen.
    Updates in der Betaversion Sprache
    Also gibt es nun seit, grob gesagt, mehr als 30 Jahren Versuche, Frauen in der Sprache sichtbar zu machen, im Reden wie im Schreiben. Eine frühe Form ist das Binnen-I, das aus der Mitte des Wortes aufragt wie ein Achtungszeichen, um als Anführer des weiblichen Suffixes dessen Mitgemeintsein zu markieren. Aus heutiger Sicht wirkt das Binnen-I altbacken, was wiederum illustriert, dass das Ringen ums Vorkommen schon eine Weile dauert und gewissen Moden unterliegt. So ist Sprache, diese Betaversion von Kommunikationstools – immer wieder gibt es Updates.
    Für die Lockerungsübungen am generischen Maskulinum bedeutete das nach dem Binnen-I etwa Unterstrich oder Sternchen. Diese Varianten zielen auf verschiedene Bedeutungen, damit sollen auch Menschen gemeint sein, die sich nicht als Mann oder Frau verstehen. Mit dem Binnen-I haben solche jüngeren Formen gemein, dass es sich um grafische Akzente am Sprachkörper handelt. Wenn man also dem Sternchen vorwirft, dass es den Lesefluss störe, ist das ein bisschen albern – denn genau das will es ja: den Lesefluss stören, Denkgewohnheiten irritieren. Man muss sich das Ganze als eine Form sprachlicher Aktionskunst vorstellen, als bewusste Absetzbewegung zu dem, was da ist. So kommt das Neue in die Welt.
    Zeitlosigkeit der Gendergap-Verdammungen
    Faszinierender als jedes Sternchen ist nun aber die Ablehnung, die den Gleichstellungsversuchen in der Sprache entgegentritt. Und das ebenfalls seit über einem Vierteljahrhundert: Die Kritik am Binnen-I und seinen Schwestern ist ein medialer Dauerbrenner, ein Aufreger, ein beliebtes Thema von zeitloser Attraktion. Weshalb man eigentlich immer über den angeblich neuesten Unsinn zetern kann, den Sprachreiniger, Feministen oder wie immer "die" auch heißen mögen da verzapft haben. Auch hier drumherum, im Programm des Deutschlandradios.
    Auffällig ist dabei zweierlei. Zum einen die totale Zeitlosigkeit der Gendergap-Verdammungen. Die Kritiken von hochmögenden Wissenschaftlern und anerkannten Publizisten sind wie Tipps zum Winterreifenwechsel in Automobilmagazinen – ein Standardtext, der nahezu unverändert heute wie vor 15 Jahren abgesondert werden kann. Immer geht's pauschal gegen alles, nie interessiert man sich für Genauigkeit und diskutiert etwa konkrete Nachteile des Sternchens gegenüber dem Unterstrich oder die Probleme, vor denen das Binnen-I in den automatisierten Worterkennungsprogrammen des Digitalzeitalters steht.
    An ihren Schreibweisen sollt ihr sie erkennen
    Zum anderen ist der Dogmatismus so einseitig: Die hochmögenden Wissenschaftler und anerkannten Publizisten, die das generische Maskulinum in seinem Monopol von 1965 verteidigen, unterstellen den immer nur als diffuse Gruppe aufgerufenen Sternchen-Macher_innen und Unterstrich-Sprechern einen Furor, den sie selbst an den Tag legen. Sie beschweren sich über Leute, die ihnen etwas verbieten wollen, indem sie diesen Leuten das Recht absprechen, nach neuem sprachlichem Ausdruck zu suchen. Ist das nicht komisch?
    Dabei ist die Lösung doch ganz einfach und durch Praxis erprobt: Weil Gender-Vielfalt in der Sprache offensichtlich ein gesellschaftliches Bedürfnis ist und nicht nur die Grille eines durchgeknallten sogenannten Tugendwächters, nutzt einfach jede die Form, die sie für angemessen hält. Sternchen, Binnen-I, generisches Maskulinum – an ihren Schreibweisen sollt ihr sie erkennen.
    Matthias Dell, geboren 1976, hat als Kulturjournalist, Kritiker und Medienkolumnist bei "Merkur – Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken" ein breites Wahrnehmungsfeld. Von 2004 bis 2014 war er Mitarbeiter der medienkritischen Hypertextkolumne "Das Altpapier" (gestartet bei der Netzeitung, mittlerweile auf evangelisch.de) und als solcher 1/8-Bert-Donnepp-Preisträger 2012. Seit 2010 erscheint seine wöchentliche "Tatort"-Kritik direkt nach der Ausstrahlung (gestartet bei freitag.de, mittlerweile auf zeit.de).