Donnerstag, 28. März 2024

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Matthias Kaul
Ein Hang zum Abgedrehten

Auf der CD "some kind of way out of here" ist deutlich zu hören, dass der Komponist Matthias Kaul seine ersten Erfahrungen als Rock- und Jazzmusiker gesammelt hat. Experimentierfreude und striktes Ablehnen von Schubladendenken zeichnen seine Arbeit aus. Dazu kommt eine Neigung des Komponisten, die immer wieder für Überraschungen sorgt.

Von Leonie Reineke | 08.03.2015
    Musik:
    L'ART POUR L'ART: Matthias Kaul - "The Mellow Quark" aus "some kind of way out of here"
    Wenn ein Komponist zeitgenössischer Musik seine ersten Erfahrungen als Rock- und Jazzmusiker gesammelt hat, hinterlässt das hörbare Spuren: Die Stücke des 1949 geborenen Komponisten Matthias Kaul sind von verschiedensten Stileinschlägen geprägt. Experimentierfreude, striktes Ablehnen von Schubladendenken und ein leichter Hang zum Abgedrehten sind auch seiner neuen CD "some kind of way out of here" eingeschrieben, um die es in der heutigen Sendung geht. Am Mikrofon begrüßt Sie Leonie Reineke.
    In seinem vor über 30 Jahren gegründeten Ensemble L'ART POUR L'ART übernimmt Matthias Kaul eine Doppelfunktion: Er komponiert und ist gleichzeitig Perkussionist. Mit L'ART POUR L'ART hat er auch die CD "some kind of way out of here" eingespielt – eine Sammlung von Stücken, die sich fernab vornehmer Gepflogenheiten bitterernster Kunstmusik bewegt. In seiner Komposition "The Mellow Quark" beispielsweise nimmt Kaul Bezug auf das Album "The Yellow Shark" von Frank Zappa. Er nennt das Stück "eine Hommage an dessen fröhliche, zynisch anarchische Virtuosität", was sich in schnellen Flötenimpulsen und Walking-Bass-Läufen manifestiert. Vereinzelte unerwartete Pausen und Momente des Zögerns mögen irritieren, trüben aber nicht den ausgelassenen Gesamteindruck.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART: Matthias Kaul - "The Mellow Quark" aus "some kind of way out of here"
    Die E-Gitarre bringt eine im Kontext zeitgenössischer Instrumentalkomposition ungewohnte Farbe in die Musik. Manchmal sind sogar Klänge in Matthias Kauls Stücken zu finden, deren Herkunft für den Hörer ein Rätsel bleibt. Das liegt daran, dass der Komponist auf einen Fundus an selbst erfundenen Klangerzeugern zurückgreift. Teilweise funktioniert er auch Spielzeuge oder Haushaltsgeräte zu Instrumenten um, denn sonderbare Klänge ziehen ihn an. So auch eine Reihe von Unterwasser-Aufnahmen aus der Antarktis, deren Quelle nicht identifizierbar ist. In dem Stück "Glowing Sea" lässt Matthias Kaul diese Aufnahmen mit Flöte, Kontrabass und Schlagzeug verschmelzen.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART: Matthias Kaul - "Glowing Sea" aus "some kind of way out of here"
    Matthias Kauls Vorliebe für ausgefallene Klänge rührt vielleicht daher, dass er einen anderen Weg gegangen ist als viele seiner Kollegen: Er studierte zwar Schlagzeug, als Komponist aber ist er Autodidakt. So kam er nie in die Verlegenheit, sich einer Schule unterordnen zu müssen. Wenn er die Spieltechniken des traditionellen Instrumentariums erweitert, dann immer unabhängig von jeglichem Dogmatismus. So zum Beispiel in "There must be some kind of way out of here" für Streichquartett, Flöte und Glasharfe von 2013: Dieser Titel, mit dem gleichzeitig die ganze CD überschrieben ist, zitiert eine Zeile aus "All along the watchtower" von Bob Dylan. Das spiegelt nicht nur Kauls breites musikalisches Interesse wieder, sondern auch seine Haltung als Künstler: "Es muss einen Weg hier heraus geben" im Sinne von "Es muss einen Weg raus aus kompositorischen Standards und Klischees geben". So schrieb Kaul ein Stück, in dem das Streichquartett – ein Prototyp der klassischen Gattungen – kein bisschen mehr nach Streichquartett klingt.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART/NOMOS QUARTETT: Matthias Kaul: - "There must be some kind of way out of here" aus "some kind of way out of here"
    Das grundsätzliche Hinterfragen von Konventionen hört man der CD an. Aber auch die Covergestaltung zeugt von Originalität: Von Hand verteilte Farbkleckse, die jede einzelne CD anders aussehen lassen, vermitteln das Bild einer lebendigen künstlerischen Herangehensweise. Genau so lebendig ist auch Kauls Musik: Die einzelnen Klänge scheinen in sich beweglich zu sein, da sie oft noch während des Ausklingens ihre Klangfarbe oder Tonhöhe ändern; deutlich zu hören in dem 2004 entstandenen Stück "Arabesken":
    Musik:
    L'ART POUR L'ART / Ute Wassermann: Matthias Kaul - "Arabesken" aus "some kind of way out of here"
    Dadurch, dass die Klänge in Matthias Kauls Stücken sich ständig wandeln, erinnern sie an Geräusche aus der Natur, zum Beispiel Tier-Laute. Und selbst Klänge von elektronischen Instrumenten setzt der Komponist so ein, dass sie wie akustische Äußerungen eines lebendigen Organismus wirken. Elektronik fungiert also nicht als Repräsentant des Artifiziellen, sondern im Gegenteil: Der Komponist erweckst sie zum Leben.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART / Ute Wassermann: Matthias Kaul - "Arabesken" aus "some kind of way out of here"
    Das Stück "Arabesken" setzt sich aus vollkommen gegensätzlichen Formteilen zusammen, die alle verschiedenen Kompositionen entstammen könnten. Nachdem die naturhaft anmutenden Klangkulissen sich verflüchtigt haben, mutiert das Stück gegen Ende zu einer furiosen Free-Jazz-Nummer, die auch improvisiert sein könnte.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART / Ute Wassermann: Matthias Kaul - "Arabesken" aus "some kind of way out of here"
    Die kontinuierliche Steigerung der musikalischen Ereignisdichte transportiert eine spürbar körperliche Energie. Ähnlich körperlich aber weniger chaotisch ist das 2012 entstandene Stück "WEIRD – WIRED" – zu deutsch "seltsam verdrahtet". Das Wortspiel des Titels verweist auf die kompositorische Idee: Zwei Gitarren sind über eine zusätzliche Saite miteinander verbunden, wodurch sie sich gegenseitig beeinflussen. Auffallend ist hier die Abmischung: Jeder Gitarre ist ein eigener Lautsprecherkanal zugeteilt, sodass die Klänge räumlich wahrnehmbar und besonders haptisch wirken.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART: Matthias Kaul - "WEIRD–WIRED" aus "some kind of way out of here"
    Die Klänge in "WEIRD – WIRED" sind nicht weit entfernt von Schallereignissen, die in einer Tischlerei entstehen könnten. Diese Assoziation deckt sich mit Matthias Kauls Arbeitsmotto. Denn durch seine Rolle als Musiker, der an der Realisation seiner Stücke direkt beteiligt ist, ist er gewissermaßen auch Handwerker; ein sympathischer Umstand, da der Charme des Selbstproduzierten, des Handgemachten immer mehr verloren geht, seitdem vieles über Digitaltechnik virtuell produziert werden kann. Dass Matthias Kaul gerne für mechanische Konstruktionen und besonders für sein eigenes Instrument schreibt, bleibt nicht verborgen: Viele Stücke auf der CD weisen ein reichhaltiges Perkussionsarsenal auf. In "Opium für T" für Flöte, E-Gitarre und Schlagwerk von 2003 werden Triangel-Klänge durch Styroporkugeln gefiltert und verzerrt. Wiederkehrende rhythmische Trommel-Patterns geben dem Stück einen zeremoniellen, archaischen Anstrich. Zu den Trommelepisoden gesellen sich immer wieder eigenartige, aus der Ferne zu erahnenden Gesänge.
    Die Uneindeutigkeit der Musik von Matthias Kaul mag auf den ersten Blick einschüchternd wirken oder die Hörorientierung aushebeln. Akzeptiert man aber das Ungeklärte und Unlogische, bietet die CD "some kind of way out of here" eine Fülle an musikalischen Entdeckungsmöglichkeiten.
    Hören Sie zum Abschluss ein Stück in "Opium für T" hinein.
    Musik:
    L'ART POUR L'ART: Matthias Kaul - "Opium für T" aus "some kind of way out of here"
    "Opium für T" – ein Stück von der CD "some kind of way out of here" des Komponisten und Schlagzeugers Matthias Kaul
    Die Neue Platte:
    "some kind of way out of here"
    Komponist: Matthias Kaul
    Interpret: Ensemble L'ART POUR L'ART
    Label: NURNICHTNUR / Berslton
    Labelcode: 05245