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Matthias Nawrat: "Unternehmer"
Stoff von gestern, Form von morgen

Was passiert mit einer Gesellschaft, in der die ökonomischen Prinzipien die Oberhand gewonnen haben und jeden Lebensbereich durchdringen? Matthias Nawrat sucht mit seinem düsteren Roman "Unternehmer" eine Antwort und findet sie: in der Sprache.

Von Insa Wilke | 04.06.2014
    Eine Familie am Ostseestrand
    Im Buch "Unternehmer" geht es um die traditionelle Erzählung vom Verfall einer Familie. (picture alliance / dpa / Foto: Jens Büttner)
    Ob Matthias Nawrats kleine, heilige Familie je von Karl Marx gehört hat? Mutter, Vater, Tochter Lipa und Söhnchen Berti leben in einer nicht allzu fernen Zukunft in den verlassenen Industrielandschaften des Schwarzwaldes und träumen von einem besseren Leben in Neuseeland. Dabei gehören sie zu den "besten Unternehmern der westlichen Hemisphäre". So stellt es der Vater seinen beiden Kindern dar, seit er beschlossen hat, sein eigener "Unternehmer-Chef" zu sein und seine Familie zu einer schlagkräftigen Kapitalgesellschaft umzubauen. De facto ist er vagabundierender Schrotthändler und missbraucht seine Kinder als billige Gehilfen. Von diesem Familien- und Arbeitsleben, in dem marxistische und kapitalistische Prinzipien zu einer absurden Symbiose gefunden haben, lässt Matthias Nawrat in seinem zweiten Roman "Unternehmer" die dreizehnjährige Lipa erzählen. Wie bei vielen Kindern hört man auch bei Lipa sehr deutlich die Eltern mitsprechen. Ihrem kleinen Bruder Berti erklärt sie zum Beispiel im Ton des Vaters: "Das Unternehmertum ist für Leute, die Schmerzen ertragen können." Dieses "Gesetz des Unternehmertums", wie ihr Vater es nennt, kennt Berti allerdings nur zu genau:
    "Die Frau an der Tankstellenkasse in Schönau fragt uns, ob wir die Kinder von Elmar Rehm sind, aus Utzenfeld. Und warum Berti ein Arm fehlt. Und ob wir nicht in der Schule sein sollten."
    "Mein Arm fehlt, weil ein Unternehmen seine Opfer fordert, sagt Berti. Und in der Schule lernt man nichts, was fürs echte Leben taugt."
    Tragikomische Geschichte, die sein Buch von anderen Debüts unterscheiden
    Den Arm hat Berti in Ausübung seiner Pflicht als "Spezialkraft" verloren, als er im Innenleben einer Maschine, nach deren kostbarem Herz fischte. Im Laufe der Geschichte wird er im Dienste des Familienunternehmens auch noch beide Beine einbüßen, dafür aber auch endlich "Mitarbeiter des Monats" werden. Die Szene seines Unfalls erinnert an die Heldentaten Jim Knopfs, nur ohne guten Ausgang. Überhaupt wäre es interessant, Nawrats Roman auf solche Bezüge zur Weltliteratur zu untersuchen. Denn diese literarischen Spiele sind es eher als die tragikomische Geschichte, die sein Buch von anderen Debüts des Frühjahrs unterscheiden. Dazu gehört auch, dass Nawrat für Lipas Welt, die durch und durch vom Unternehmertum geprägt ist, eine eigene Sprache erfunden hat: Ein Computer ist ein "Robuster", Zigaretten nennt Lipa "Vergiftete" und wenn ihr Freund Nasen-Timo von seiner Großmutter wieder einmal verprügelt wurde, bewundert Lipa "Kunstwerke" und "Landkarten" auf seinem Rücken. Diese Chiffren-Sprache kann sehr poetisch klingen, zum Beispiel, wenn der Vater "Kochwäsche extra, topsecret" ansagt und die gesammelten Maschinenherzen im Schwefelbad von ihren "Hüllen" befreit:
    Nominalstil mit Superlativen kombiniert
    Wenn Vater die Brillenmaske anzieht und mit den rosa Handschuhen die Rattrigen, Summenden ins Laugebad hebt, dann fängt das an zu sprudeln und eine Etage gelber Dampf steigt unter die Decke und es riecht wie beim Hirschen im Dorf, wenn man auf die Toilette geht: Die Nase ist umgestülpt und hängt wie ein Handschuh über den Mund. Aber wie schimmert das schön, wenn die grünen und blauen Augen sichtbar werden.
    Traditionelle Erzählung vom Verfall einer Familie
    Suggestiver als diese Fantasiesprache wirkt aber noch ein anderes Mittel, zu dem Nawrat gegriffen hat, um die Folgen zu veranschaulichen, wenn alle Lebensbereiche den ökonomischen Prinzipien Zweck, Gewinn und Disziplin gehorchen. Es ist der Nominalstil, den er mit Superlativen und besitzanzeigenden Worten kombiniert. In Lipas Welt ist man nicht verliebt, sondern man "hat eine Verliebtheit", Berti lächelt nicht, sondern "hat ein Lächeln". Der Vater hat nicht nur Kopfschmerzen, es sind "seine" Schmerzen und er fragt Lipa auch nicht, ob alles in Ordnung ist, sondern "was mit ihr nicht in bester Ordnung" sei. Die Kinder spielen dieses Spiel begeistert und sehr ernsthaft mit und konkurrieren verbissen um die Auszeichnungen des Vaters. Das tun Geschwister allerdings auch in Freizeit-Welten: Nawrat verbindet seinen dystopischen Versuch mit einer traditionellen Erzählung vom Zerfall einer Familie.
    Unternehmer, aber kein Arbeitssklave
    Mutter liebt Vater, eben weil er ein Unternehmer ist. Sie sagt: Bitte nimm eine andere Arbeit an. Aber natürlich meint sie es nicht so, sie hat gern einen Unternehmer als Mann, der kein Arbeitssklave ist. (...) Manchmal ist Mutter sehr laut hinter der Tür zum Schlafzimmer, und dann sitzen Berti und ich unten in der Küche und horchen hinauf, wie die Türen schlagen, und wir sind froh, denn Streit ist nur gesund, und Mutter meint ihre Wort ja nicht ernst. Dass sie nämlich bald weggehen und uns mitnehmen wird. Wohin?, fragt Vater dann, und da muss Mutter ihm recht geben. Denn wovon sollen wir Klimpergeld haben, wenn nicht vom Unternehmertum?
    Armut und Erfolglosigkeit
    In solchen beiläufigen Bemerkungen von Lipa deutet sich an, dass ihre Familie nicht nur durch Armut und Erfolglosigkeit, sondern auch durch den klassischen Konflikt zwischen dem autoritären, eigentlich schwachen Vater und seiner sozial kompetenteren Frau bedroht wird. Ebenfalls klassisch und nach dem Muster eines ordentlichen Coming-of-Age-Romans sorgt Lipas erste "Verliebtheit" schließlich für den Knacks, der letzten Endes zur Katastrophe führt: Sie verlangt eine "sogenannte freie Zeit", die große Errungenschaft vergangener Zeiten, von der sie gehört hat. Ihr Wunsch ist der revolutionäre Akt, der das Unternehmen aus dem Takt bringt.
    Erzählerisches Talent, doch der richtige Stoff fehlt
    Matthias Nawrats schmaler Roman ist insofern nicht besonders originell und hätte auch nicht viel länger sein dürfen. Schon Lipas Ausflug in die Schule wirkt aufgesetzt, der Stoff - der ja auch ein bisschen von Gestern ist - hat sich erschöpft, man hat das Prinzip verstanden. Andererseits ist die Kunst dieses novellenartigen Romans genau das: Nawrat ist sich seiner Mittel bewusst - und ihrer Grenzen. Die Entscheidung, Witz und Tragik einer eigentlich bekannten Geschichte allein durch die Sprache zu erzeugen, beweist ein erzählerisches Talent, dem nur noch der richtige Stoff fehlt.
    Matthias Nawrat: "Unternehmer".
    Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2014, 144 Seiten, 16,95 Euro.