Samstag, 20. April 2024

Archiv

Matthias Zschokke
Streifzüge durch Venedig

Der Schweizer Matthias Zschokke hat seine privaten E-Mails aus Venedig in ein Buch verpackt: "Die strengen Frauen von Rosa Salva" ist ein lustiges, ereignisreiches Venedig-Panorama. Ein Lesevergnügen, das man sich nicht entgehen lassen sollte.

Von Cornelia Staudacher | 22.12.2014
    Der Schriftsteller Matthias Zschokke
    Der Schriftsteller Matthias Zschokke (dpa / picture alliance / Erwin Elsner)
    Der etwas rätselhafte Titel unter dem malerischen Foto des Canal Grande macht nicht nur neugierig, sondern versetzt auch in die richtige Stimmung, noch bevor man die ersten Sätze liest und von Matthias Zschokkes Begeisterungstaumel mitgerissen wird:
    "Venedig. Man tritt vor die Tür und beginnt zu taumeln. Auf jedem Schritt begegnet einem überquellende, verwesende, begeisternde Pracht. Selbst die rumänischen Bettlerinnen drapieren sich neben den Kirchenportalen, als hätten sie vorher sämtliche Maria-Magdalena-Christi-Kreuzabnahme-Darstellungen studiert. Die Stadt ist phantastischer, als man es sich in den kühnsten Träumen auszumalen vermag. Ich glaube, ich werde bleiben und glücklich. Es fängt spätestens unten an, wenn ich die Haustür öffne und auf den sonnenbeschienenen, weißen Platz hinaustrete. Ein erhabenes Gefühl steigt in mir hoch, und ich beneide mich."
    Im Frühjahr 2012 kam Matthias Zschokke mit einem halbjährigen Stipendium nach Venedig und bezog eine weitläufige Wohnung in der dritten Etage eines jener städtischen Palazzi, die im späten sechzehnten und frühen siebzehnten Jahrhundert für wohlhabende Venezianer errichtet wurden, die nicht reich genug waren, einen ganzen Palast für sich allein bauen zu lassen. Die Wohnung gehört einem spendablen Schweizer Stifter mit einem Herz für ältere Künstler. Ein wenig verwundert ist Zschokke noch immer, dass 2012 die Wahl auf ihn fiel.
    "An sich ist es ein Witz, es ist eine Institution für alt gewordene Künstler, die ein bisschen vergessen worden sind und dem Ende zugehen. Dann hat dieser Stifter gefunden, da müsste man irgendwas machen und hat das ganz gezielt für solche Leute ins Leben gerufen und eine Wohnung dort gekauft und lädt ein. Man kann sich nicht bewerben, sie haben eine Jury, die auswählt, der wäre mal dran, der wäre mal dran. Das Ideal von Förderung, und es kommt hinzu, dass man nichts leisten muss. Sie sagen, fühlen Sie Sich einfach wohl, ruhen Sie Sich aus, Sie haben jetzt diese Wohnung zur Verfügung. Es freut uns und ist uns ein Vergnügen Sie einzuladen."
    Die morgendliche Fahrt mit einem Vaporetto, dem öffentlichen Dampfschiff, zum Schwimmen an den Lido wurde bald zugunsten eines Bades im hauseigenen Swimmingpool aufgegeben. Nicht so der morgendliche Caffé latte in einer jener Confiserien, die für ihre köstlichen Biscottes, Pasticcini und Torté über die Grenzen Italiens hinaus bekannt sind. In der Pasticcheria "Rosa Salva" werden die Gäste von streng und unnahbar wirkenden Kellnerinnen bedient, eben jenen "strengen Frauen von Rosa Salva".
    Aber Protagonistin des Buches ist die Lagunenstadt selbst und die Faszination, die sie auf den Dichter ausgeübt hat. Die Stadt vereinnahmt ihn, nimmt ihn gefangen, beschäftigt ihn wie eine sperrige Geliebte. Denn Venedig, sagt er einmal, "lässt keinen an sich ran. Venezianer sind immun gegen jede Art von ausländischem Charme."
    Wie ein Flaneur durchstreift Zschokke die Stadt, lässt sich immer aufs Neue überraschen und begeistern und hält seine Beobachtungen, Gedanken und Assoziationen in Mails fest, die er den zu Hause gebliebenen Freunden schickt.
    "Dann habe ich dort in Venedig realisiert, dass ich nur noch Mails schreibe und sonst zu gar nichts komme, ich lese und schreibe Mails an verschiedene Leute, ein Schreiben über Venedig, ich beschreibe die Stadt, ich beschreibe eine bestimmte Frist, die in sich geschlossen ist, das Ganze thematisch um einen bestimmten Punkt herum. Und dann dachte ich, dass das eine in sich geschlossene Einheit ergibt, die ich auch nicht durchbrechen soll und darf. Es ist jetzt einfach ein Venedigbuch."
    Mit Verwunderung stellt Zschokke fest, dass die Stadt sogar sein Wesen verändert. Sie macht ihn gelassener, demütiger, gnädiger sich selbst und anderen gegenüber. So wirft er auch seine Ressentiments gegen die leidigen Touristen über Bord. Sie gehören einfach zu Venedig und erscheinen ihm nun unverzichtbar. Ganz abgesehen davon, dass seine begeisterten Schilderungen und indirekt ausgesprochenen Einladungen die Etage im Palazzo allmählich in ein Albergo Zschokke verwandeln, und ihn in einen freundlichen, geduldigen Gastgeber.
    Unterschiedliche Tonlagen: von leicht verdrossen bis begeistert
    "Das war verrückt, eigentlich lebe ich nicht sehr sozial, und war plötzlich ein Gastfreund, von denen habe ich immer gelesen und als Gast kenne ich die Leute, die ein offenes Haus haben, wo man hinkommen kann und was wirklich schön ist. Ich war das nie und bin das gar nicht, und das war wirklich interessant, wie so eine Situation einen verändert."
    Aber Zschokke wäre nicht Zschokke, wenn nicht auch seine Launen und Ängste und sein Ärger über die Weltlage – im Sommer 2012 begann der Bürgerkrieg in Syrien – in die Mails miteingeflossen wären. So direkt und persönlich die Aufzeichnungen seiner Erlebnisse sind, so unverzichtbar sind die manchmal launigen, dabei durchaus ernst gemeinten Jeremiaden. In ihrer Kurzlebigkeit und ihrem flanerieartigen Wechsel von Erlebnissen und Stimmungen erinnern die Aufzeichnungen Zschokkes ein wenig an Robert Walsers Mikrogramme, waren doch auch die "Aufzeichnungen aus dem Bleistiftgebiet" nicht für die Ewigkeit geschrieben.
    "Ich weiss nicht, ob man das vergleichen kann. Das Ganze ist ja sowieso interessant, weil ohne dass ich's erklären kann, glaube ich, dass, wenn wir Mails schreiben, schreiben wir einen leicht anderen Stil, als wenn wir einen Brief schreiben oder Prosa schreiben, also diese Form zieht ein anderes Register, das es gar nicht gab vorher."
    Der neue Ton, den Zschokke bereits in der Sammlung von Mails an seinen Kölner Freund Niels angestimmt und zu seinem poetologischen Versuchsfeld erklärt hatte, wird im Venedigbuch weiter ausgetestet. Indem er den Kreis der Empfänger um Freunde, Verwandte, Bekannte und Kollegen erweitert und den Habitus seiner Notate unbewusst auf den jeweiligen Empfänger abstimmt, variieren die Stimmungen und Tonlagen seiner Berichte. Konstant ist allein die Begeisterung des Verfassers.
    So ist wieder ein Buch entstanden, das keineswegs in das von Gattungen, Genres und Kategorien gebildete Korsett passt, das der zeitgenössischen Literatur angelegt wird. Reiseliteratur, die bis ins 18. Jahrhundert durchaus als Literatur angesehen wurde, findet sich heute eher in der Reiseabteilung von Buchhandlungen und wird wohl kaum je in den Genuss eines Buchpreises kommen.
    An solchen Gedanken über das Wesen der Literatur, seinen Überdruss an der Schnelllebigkeit des Literaturbetriebs und der Abhängigkeit der Literatur vom Markt entzündet sich trotz allem Wonnegefühl auch in Venedig gelegentlich Zschokkes ironische Volten schlagende Verdrossenheit.
    "Ich schreibe einen Brief, ist noch keine Literatur, ich erzähle etwas am Tisch, ist keine Literatur, ich nehme den Brief als Material und fange an, dran zu arbeiten, und irgendwann behaupte ich, jetzt ist es Literatur. Ich erzähle irgendwie, wo etwas zwischen drin passiert, zwischen den Zeilen, und warum meine ich jetzt, dass das eigentlich Literatur sei. Ich find das zunehmend einfach ein Faszinosum, dass die Leute, wenn ich sage, das ist ein Briefband, dann sagen sie, ach so, ein Briefband, und dann sage ich, aber nein, ihr müsst das lesen, die Sätze in diesen Briefen sind wunderbar, das ist reine Literatur, dann sagen sie, ach so, das sind literarische Briefe, nein, sage ich, es sind Briefe, aber von einem Dichter geschrieben, der kann nicht anders, und das frage ich mich: warum kann man sagen, wir reden jetzt nicht mehr von Venedig, sondern wir reden jetzt von dem aufgeschriebenen Venedig, von der Art, wie das da drin steht, wie das springt, wie's zurückgeht, wie das woanders hingeht, wie's wieder zurückkommt, und wie sich dadurch ein Venedig entwickelt, aber auf einer rein sprachlichen Ebene."
    Es ist die Leichtigkeit, Flüchtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der Zschokke Emphase und Schnoddrigkeit, die vom ersten Moment an empfundene Erhabenheit und den alltäglichen Ärger, hohen Ton und süffisantes Geplänkel mischt, die den Zschokkeschen Sound ausmachen.
    Wie das auf unaufdringliche und ungekünstelte Art ineinanderfließt und mühelos in Balance gehalten wird, das ist Zschokkes poetologisches Geheimnis. Dieses Lesevergnügen sollte man sich nicht entgehen lassen. Auch wenn sich "Die strengen Frauen von Rosa Salva" vielleicht nicht auf den ersten Blick in der Buchhandlung werden finden lassen, weil sie in der Reiseliteraturabteilung gelandet sind. Sollten sie dort neben Johann Gottfried Seume, Mark Twain, Heines Harzreise oder Fontanes "Wanderungen durch die Mark" liegen, so finden sie sich in adäquater literarischer Nachbarschaft.
    Matthias Zschokke, Die strengen Frauen von Rosa Salva. Wallstein Verlag , Göttingen 2014, 414 Seiten, 22,90 Euro