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Die These vom "Willkommensfernsehen" ist Quatsch

Der Medienwissenschaftler Stephan Weichert hält die Äußerungen von AfD-Vizechef Gauland über das öffentlich-rechtliche Fernsehen für Propaganda und Agitation. Gauland hatte ARD und ZDF vorgeworfen, in der Flüchtlingskrise ein "Willkommensfernsehen" zu inszenieren. Weichert hält das für Quatsch - auch wenn die Medien in seinen Augen trotzdem etwas falsch machen.

Stephan Weichert im Gespräch mit Jochen Zurheide | 28.11.2015
    Stephan Weichert
    Stephan Weichert, wissenschaftlicher Leiter des Studiengangs Digital Journalism (picture alliance/dpa/Malte Christians)
    Denn, so Weichert, es gebe durchaus eine gewisse Wellenbewegung in der Berichterstattung. Erst habe es "refugees welcome", Flüchtlinge willkommen, geheißen. Dann habe die Kritik an der Asylpolitik von Bundeskanzlerin Merkel eingesetzt.
    Dieses Nacheinander von cheering und bashing, von Applaus und Draufhauen - und damit also von Extremen - in der Berichterstattung, sehe er kritisch. Denn das könne leicht zu einer verzerrten Darstellung der Dinge führen. Wichtig sei es darum, dass ARD und ZDF sich vor einseitigen Schwerpunktsetzungen hüteten, ihre Berichterstattung entschleunigten und immer auf Ausgewogenheit achteten.
    Grundsätzlich seien die Sendungen von ARD und ZDF durchaus differenziert. So arbeite etwa die Redaktion von "Panorama" insofern ausführlich und ausgewogen, als dort auch regelmäßig Demonstranten auf Kundgebungen der AfD befragt würden.

    Das komplette Interview zum Nachlesen:
    Jürgen Zurheide: Die Kollegen von "Reporter ohne Grenzen" haben ganz genau nachgezählt und demnach hat es in Deutschland in diesem Jahr schon 22 tätliche Angriffe gegen Journalisten in Deutschland gegeben, Sie hören jetzt richtig. Das folgende Gespräch soll jetzt nicht geprägt sein von Selbstmitleid. Aber wir wollen das Phänomen ergründen, was passiert da gerade zwischen Medien und einem Teil der Öffentlichkeit, zumindest jenem Teil der Öffentlichkeit, der sich unter dem Stichwort Pegida versammelt, oder auch möglicherweise AfD.
    - Über dieses Phänomen wollen wir reden mit dem Medienwissenschaftler Stephan Weichert von der Universität Hamburg, den ich zunächst einmal begrüße. Guten Morgen, Herr Weichert!
    Stephan Weichert: Hallo, guten Morgen!
    Zurheide: Die AfD oder andere, die skandieren solche Sätze wie Lügenpresse, wir kennen das alles, und dann gibt es Gewalt. Ist das so eine direkte Linie?
    Weichert: Es ist schlimm, dass so etwas passiert. Das scheint eine direkte Linie zu sein, vor allem auch jetzt zunehmend, dass tätliche Übergriffe auf Journalisten geduldet werden. Und das halte ich auch für eine neue Entwicklung.
    Zurheide: Dann gibt es ja solche Hinweise, da hat dann zum Beispiel AfD-Mitglied Alexander Gauland versucht, einen dieser Angriffe in der vergangenen Woche, zwar auf der einen Seite sich bei der Kollegin zu entschuldigen, aber dann hat er einen Satz, den wir jetzt bitte gemeinsam anhören wollen, da würde ich jetzt bitten, das einzuspielen.
    ((Einspieler))
    Da sind jetzt zwei Aspekte drin: Da ist ja einmal die Frage, gibt es dieses Willkommensfernsehen, da würde ich aber gerne anschließend drüber reden. Die erste Frage ist doch zunächst einmal, damit relativiert er doch eine Entschuldigung, wenn er so etwas sagt, weil er sagt, na ja, eigentlich haben die ja recht, dass sie sie attackieren.
    Weichert: Ja, im Prinzip ist es eine Rechtfertigung. Die Botschaft ist hier ganz klar, selbst schuld, wenn ihr nicht über uns differenziert genug berichtet, dann müsst ihr damit rechnen, dass man euch rumschubst, vielleicht sogar körperlich tätlich angreift.
    Zurheide: Wie sehen Sie das, gibt es dieses Willkommensfernsehen in ARD und ZDF? Was ist Ihre Beobachtung?
    Weichert: Ich halte das für einen ziemlichen Quatsch. Das ist eine Propagandamethode, eine Agitation von Gauland, die er ja populistisch in seiner Art, wie er immer ist, auch schon häufiger versucht hat. Ich beobachte eine ganz andere Entwicklung, nämlich eine sehr differenzierte, sehr ausgewogene Berichterstattung, gerade im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Also das ZDF muss sich diesen Vorwurf genauso wenig gefallen lassen wie die ARD. Ich nenne mal ein Beispiel: Die Redaktion von "Panorama" hat sich sehr, sehr ausführlich und ausgewogen auch mit der Flüchtlingspolitik beschäftigt, indem die Redaktion immer sehr direkt und sehr häufig auch die AfD befragt hat und auch die Demonstranten, die dagegen auf die Straßen gingen.
    Zurheide: Auf der anderen Seite kann man natürlich schon die Frage stellen oder auch den Hinweis geben, ich glaube, Hans Joachim Friedrichs hat das immer gesagt – und in der Gefahr stehen wir natürlich immer –, mach dich auch nicht mit einer guten Sache gemein. Also das kann nicht unsere Aufgabe sein, jetzt Stimmung pro Zuwanderer zu machen. Sehen Sie so etwas denn?
    Weichert: Was ich sehe, und das würde ich auch kritisieren als Medienwissenschaftler, ist, dass wir es immer mal wieder mit Extremen zu tun haben, also mal erleben wir ein Cheering und dann wieder ein Bashing von Flüchtlingen oder der Überforderung der Politiker. Da wünscht man sich manchmal doch eine gewisse Zurücklehnung, eine Entschleunigung, mehr Reflexion. Das ist ein altbekanntes Muster beziehungsweise ein Schema, dass Berichterstattung in Wellen verläuft. Und nachdem wir die erste Phase der Refugees Welcome überall hatten, hatten wir dann die große Kritik an Merkels Asylpolitik. Und jetzt läuft natürlich das Ganze Thema auch Gefahr, so ein bisschen in Vergessenheit zu geraten, wenn andere Ereignisse, wie die Anschläge von Paris, das so ein bisschen überlagern. Diese einseitige Schwerpunktsetzung ist ein Problem in der Berichterstattung, die auch übrigens die Journalisten selber so sehen.
    Zurheide: Dürfte ich jetzt hinzufügen, Sie haben recht, ja. Meine Beobachtung ist, was Sie gerade gesagt haben, dass wir, wenn es ein Phänomen gibt, dazu neigen, offensichtlich kollektiv, zu viel über ein Thema, monothematisch zu berichten. Ist das eine Tendenz in allen Medien eigentlich mehr oder weniger?
    Weichert: Das ist dieser Lemminge-Effekt, also diese Wellenbewegung, Empörungswellen, Kritikwellen. Das ist leider so ein Effekt, den auch die Massenmedien praktisch teilweise erliegen. Das hat etwas mit dieser Ereignisfixierung, der Nachrichtenfixierung zu tun, das kann man schwer abstellen. Dazu muss man sich eben immer wieder stärker bewusst machen, was sind eigentlich die Konsequenzen meines Handelns als Berichterstatter. Und das meint ja auch das Friedrichs-Zitat, dieses nicht gemein machen, eine Objektivität zu wahren, eine gewisse Distanz zum Objekt oder zum Subjekt der Berichterstattung. Das halte ich für ganz wichtig und geboten.
    Zurheide: Sie haben zwei Aspekte angesprochen, die, ich glaube, noch mal vertieft werden müssen: Sie haben gesagt, Provokation ist ein Muster bei Herrn Gauland, aber sicherlich auch bei anderen, das beherrschen ja auch andere. Das andere, was ich zu beobachten meine, ist, es gibt so etwas wie Personalisieren. Sind das die beiden wesentlichen Effekte, die vielleicht im Ergebnis dazu führen, was wir die ganze Zeit bereden?
    Weichert: Ja, es gibt ja noch viel mehr: Die Tracht nach Skandalen, also die Skandalisierungsmechanismen der Medien, die gehören da eben auch mit rein. Das ist so eine gewisse - Deformation professionelle nennt man das im Französischen, also eine zum Teil etwas ungelenke Art, Themen zu setzen, eine bestimmte Agenda auch durchzudrücken, ob die von der Politik gewollt ist, steht noch mal auf einem ganz anderen Blatt. Aber dieses zum Teil sehr einseitige Berichterstatten, sprunghaft zu sein in der Begeisterung oder in der Empörung. Je nachdem führt das einfach zu einer verzerrten Berichterstattung. Und da muss man natürlich sagen, wenn sich solche Wellen breitmachen in der Berichterstattung, spielt das natürlich den Lügenpresse-Gegnern ganz klar in die Hände, weil die sagen, das ist genau das, was wir kritisieren, diese Wellenhaftigkeit. Deswegen müssen sich Medien selbst ermahnen, ausgewogener zu sein in jeder Nachrichtensituation.
    Zurheide: Wobei, das kam mir gerade in den Sinn, ich frage es objektiv: Haben die damit recht, dass es dann Lügenpresse ist oder sind da eigentlich andere Phänomene, die wir gerade beschreiben?
    Weichert: Nein, da geht es natürlich nicht um Lügen oder ein Verschweigen von Fakten oder sogar Zensur, sondern es gibt um bestimmte Berichterstattungsmuster, die, sagen wir mal, eine Verzerrung zur Folge haben, was natürlich noch kein Lügen ist im eigentlichen Sinne. Aber vielleicht eine bestimmte Perspektive mehr in den Vordergrund stellt als eine andere. Und die Differenziertheit unter dem Strich darunter leidet. Und das darf man natürlich kritisieren, aber das hat natürlich nichts mit den Lügenpresse-Vorwürfen – das ist ja ein Begriff aus dem Nationalsozialismus – zu tun, also den muss man gleich sofort streichen als Unwort des Jahres, der er letztes Jahr war.
    Zurheide: Danke schön! Das war Stephan Weichert, der Medienwissenschaftler um 6:57 Uhr. Das Gespräch haben wir kurz vor der Sendung aufgezeichnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.