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"Um Griechenland herum wird nichts mehr wahrgenommen"

Griechenland morgens, Griechenland abends: Die Schuldenkrise dominiert derzeit die Medienagenda. "Andere Themen werden überhaupt nicht mehr beachtet", kritisiert der Politikwissenschaftler Thomas Jäger im DLF. Was etwa im Mittleren Osten oder der Ukraine geschehe, sei jetzt wie weggeblasen.

Thomas Jäger im Gespräch mit Reinhard Bieck | 10.07.2015
    Journalisten warten auf ein Statement des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras.
    Journalisten warten auf ein Statement des griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras. (pa/dpa)
    Reinhard Bieck: Lösen wir uns doch mal von dem tagesaktuellen Hin und Her. Eine buchstäblich große Konstante ist das ungeheure Medieninteresse an der Griechenland-Krise. Fast auf die Minute genau vor 14 Tagen von Freitag auf Samstag kam die Eilmeldung, dass Tsipras ein Referendum ansetzt. Spätestens seitdem gibt es in den deutschen Medien so gut wie kein anderes Thema mehr. Günther Jauch zweimal hintereinander, Maybrit Illner, Hart aber fair, ein ARD-Brennpunkt mit Sigmund Gottlieb jagt den nächsten und auch im Deutschlandfunk am Beginn vieler Sendungen Berichte aus Athen, Brüssel und Berlin plus Expertengespräch. Professor Thomas Jäger, Politikwissenschaftler an der Universität Köln, haben Sie so einen Hype schon mal erlebt?
    Thomas Jäger: So ein großes Interesse, Herr Bieck, das gab es wirklich noch nie. Es gab natürlich Ereignisse, die eine enorme Medienresonanz fanden, wie etwa 9.11 oder der Tsunami 2004. Aber dass ein Thema so lange in den Schlagzeilen war, dass ein Thema so lange auf der ersten Seite war, am Anfang der Nachrichten gebracht wurde, ohne diese enormen Bilder hervorzubringen, an denen sich das festmacht, das habe ich noch nicht erlebt.
    Bieck: Ich erinnere mich natürlich auch an 9.11 oder zum Beispiel auch zehn Jahre Jugoslawien-Krieg. Aber dass die Medien bei diesen Anlässen quasi monothematisch berichtet haben, daran erinnere ich mich auch nicht. Oder ist meine Wahrnehmung getrübt?
    Jäger: Nein, das war so. Andere Themen fallen jetzt sozusagen wirklich hinten runter, werden überhaupt nicht mehr beachtet. Wenn Sie daran denken, dass momentan über Wikileaks Informationen herauskommen, die auch diese Krise um Griechenland betreffen, die kaum einer wahrnimmt. Oder erinnern wir uns: Wir beschäftigen uns mit griechischen Geldautomaten. In der Ukraine wird Krieg geführt und in China verliert die Börse 30 Prozent, ohne dass es jemand mitbekommt. Der Aufmerksamkeits-Fokus ist so stark nach Griechenland gerichtet und darum herum wird nichts mehr wahrgenommen, wie ich das noch nicht erlebt habe.
    Bieck: Wie ist das zu erklären?
    "Das ist unser Geld"
    Jäger: Ich erkläre mir das durch drei Faktoren. Der eine ist, dass wir zumindest seit dem Referendum ein ständiges Hin und Her an taktischen Finessen erleben, so dass man ständig am Laufen gehalten wird. Man muss sich ständig neu informieren, um überhaupt zu verstehen, was geschieht da. Die griechische Regierung sagt am Morgen dieses, am Abend jenes, sie macht vor einer Woche ein Referendum, das die Liste ablehnt, die heute vom Parlament verabschiedet wird. Da wird es schwierig mitzukommen.
    Das Zweite ist, dass diese Fragen, wenn ich das recht beobachte, in Deutschland hoch emotional geführt werden inzwischen nach dem Motto, das ist unser Geld, und man beschäftigt sich damit und man fühlt sich auch an der Nase herumgeführt. Man ist von Politik ja doch gewohnt, dass sie nicht immer ganz ehrlich ist, aber doch berechenbar ist, dass man sich ausrechnen kann was kommt. Das ist hier nicht der Fall.
    Das Dritte scheint mir zu sein doch ein Gespür dafür, dass hier eine Grundfrage der Europäischen Union, eine Grundfrage des europäischen Zusammenlebens auf der Tagesordnung steht, nämlich wird das irgendwann mal eine Transferunion, oder bleibt das dieser Staatenbund, und das betrifft natürlich alle Bürger direkt.
    Bieck: Im Zusammenhang mit Griechenland wird ja ständig spekuliert - ich tue das jetzt auch mal, weil Sie gerade gesagt haben, Grundfragen der Europäischen Union und so weiter -, das spätestens 2017 zu erwartende und im Grunde doch viel wichtigere Referendum über den Austritt Großbritanniens wird die Medien nicht so lange und so ausführlich beschäftigen. Sehen Sie das auch so?
    "Keiner weiß, wie lange die Halbwertszeit der Äußerungen ist"
    Jäger: Das sehe ich auch so und wir haben ja einen Vorläufer. In Schottland fand ein Referendum statt und das waren hier zwei, drei Tage Berichte, die man sehen konnte, aber es war nie ganz vorne in den Nachrichten. In Großbritannien, das wird sicher in Ruhe vorbereitet werden. Es finden diese taktischen Wechsel nicht dauernd statt. Man wird wissen, worum es geht, man wird sich damit befassen, es wird sicher dann auch intensiv über die Folgen gesprochen, aber dann gibt es ein Ergebnis und mit dem Ergebnis liegt dann auch ein Ergebnis vor, während es in Griechenland so ist, dass mit jeder Abstimmung eigentlich eine Abstimmung vorliegt, die dann demnächst aufgehoben wird, und keiner weiß, wie lange die Halbwertszeit dieser Äußerungen und der Abstimmungen ist.
    Bieck: Wir sprechen ja jetzt über dieses ungeheure Interesse der Medien, das die ja an ihr Publikum weitergeben. Gibt es eigentlich auch Indikatoren dafür, dass das dem Publikum allmählich mal zu viel wird nach dem Motto, man kann es nicht mehr hören?
    Jäger: Ich glaube, dass Medien schon sehr darauf achten, was gesehen, gehört und gelesen wird, und zumindest wenn man sich die Zahlen etwa in den Online-Zeitungen ansieht, die Kommentare ansieht, diejenigen, die diesen Live-Tickern folgen, die inzwischen ja alle Zeitungen etwa eingerichtet haben, dann sieht man, dass das Interesse sehr groß ist. Ich weiß nicht. Natürlich ist es so, dass Medien mitbestimmen, was gehört wird und gesehen wird, aber wenn keiner mehr hinschaut, dann hätte man bald andere Themen auf der Tagesordnung, denn es geschieht ja viel derzeit, was wir momentan völlig übersehen.
    Bieck: Inwiefern meinen Sie das?
    "Es wird in der Ukraine Krieg geführt"
    Jäger: Es wird in der Ukraine Krieg geführt. Dort nehmen die Auseinandersetzungen wieder zu. Es gibt Manöver, die jetzt in der Ukraine abgehalten werden, um nur diesen einen Brennpunkt des Geschehens zu nehmen. Was im Mittleren Osten geschieht, was lange unsere Aufmerksamkeit beherrscht hat, ist jetzt wie weggeblasen.
    Bieck: Vergessen wir nicht die Iran-Gespräche.
    Jäger: Die zudem, die momentan in einer Endphase sind, aber das ist so ähnlich wie in Griechenland. Man denkt immer, es ist der letzte Gipfel, der allerletzte Gipfel, der nun wirklich allerletzte Gipfel, der wirklich, wirklich allerletzte Gipfel. Wir werden sehen.
    Bieck: Sagen Sie, Herr Jäger, fühlen Sie sich eigentlich gut informiert? Quantität muss ja nicht unbedingt Qualität bedeuten. Helmut Markworts "Fakten, Fakten, Fakten" sind ja in der Griechenland-Sache eigentlich ziemlich übersichtlich. Aber es wird wie gesagt viel spekuliert und Experten unterschiedlicher Schulen arbeiten sich aneinander ab. Ist das eigentlich zielführend?
    Jäger: Mich wundert bei der Berichterstattung über lange Zeit, dass man Griechenland in Deutschland sehr stark als ein ökonomisches Problem wahrgenommen hat und dann wurden sich die Köpfe heißgeredet darüber, wie man aus Griechenland eine funktionierende Volkswirtschaft macht. Das ist sicher eine wichtige Frage und allen Nachdenkens wert. Aber die Krise, die wir jetzt beobachten, ist keine ökonomische. Es ist im Kern eine politische Krise. Insofern reden wir die meiste Zeit auch einfach über das falsche Thema und insofern verstehen auch so wenige, was da wirklich geschieht. Weil man denkt, es geht darum, Griechenland auf einen Wachstumspfad zu bringen, es geht darum zu überlegen, ob ein Schuldenschnitt besser ist als Investitionen und und und. Das wird gegeneinander abgewogen, aber das ist im Kern nicht die Frage. Im Kern ist die Frage, wie leben die europäischen Staaten zusammen, und da gibt es allerdings nicht genügend Informationen zu.
    Bieck: Die Griechenland-Krise in den Medien - das war Professor Thomas Jäger, Politikwissenschaftler in Köln. Danke für das Gespräch.
    Jäger: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.