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Medizin im Zahlenrausch
Dr. Müller sammelt Daten

Fitnessarmbänder messen Körpertemperatur, Pulsschlag und Schlafrhythmus, Sport- und Abnehm-Apps wissen, wann man joggen war und wie man sich ernährt; Blutzuckerspiegel, Stoffwechselprofile - alles wird erfasst.

Von Lydia Heller | 14.05.2015
    Fitness-App
    Fitness-Apps sammeln Daten, die ihre Benutzer freiwillig preisgeben. (picture alliance / dpa / Foto: Sebastian Kahnert)
    Zwar fällt vieles derzeit noch in die Kategorie Lifestyle und Wellness, dennoch stehen sie für einen Trend, der die Medizin verändern wird: Große Mengen individueller Daten werden gesammelt - aus Patientenakten, Apps, Foren-Einträgen, Facebook-Posts, Tweets - und Algorithmen werten sie aus. Ärzte beziehen die Ergebnisse der Analysen in Diagnostik und Therapie ein, zugleich bekommen Patienten Hinweise, wie sie aktiv verhindern können, dass eine Krankheit sich verschlechtert. Oder - noch besser: dass sie überhaupt krank werden. Die Medizin wird proaktiver, präventiver, personalisierter.
    Werden also Programmierer in Zukunft mit Ärzten konkurrieren und Algorithmen mit deren Fachwissen und Erfahrung? Werden Apps für die Behandlung von Krankheiten ebenso wichtig wie Medikamente? Und: Was passiert mit Menschen, die sich dem "Health Sensing" verweigern?

    Das Manuskript in voller Länge:
    "Ich fühle mich noch gut. Aber wie sieht es morgen aus?
    "Ich führe Dich jetzt einmal durchs Büro. Zeig Dir, was wir wie und warum tun."
    Smartphone-App zur Diabetes-Kontrolle
    Freitagvormittag, zehn Uhr. Ortstermin bei den Machern von MySugr, einer Smartphone-App zur Diabetes-Kontrolle. Eine Fabriketage mitten in Wien. Große, hohe Räume, auf langen Tischen PC an PC, die Wände voller Post-Its. 15 Leute arbeiten hier, dazu freie Mitarbeiter in Deutschland, Frankreich, den USA. Start-Up-Atmosphäre:
    "Wir sind fast alles selbst Diabetiker, wir überlegen: Wo sind unsere Probleme, wie können wir uns helfen? Und hier an der Wand, da sind alle Probleme runtergeschrieben. Probleme mit dem Essen, Insulintherapie, Material, was wir am Körper hängen haben, Insulinpumpen, alles nervige Sachen. Und wir versuchen, dafür Lösungen zu finden."
    Frank Westermann hat MySugr vor drei Jahren gegründet. Noch kurz zuvor hatte er als Betriebswirt in einer Beraterfirma gearbeitet.
    "Ich musste viel reisen und hatte einen sehr unregelmäßigen Tagesablauf und währenddessen ist meine Diabetes, man nennt das, entgleist. Und da hab ich mir überlegt, wie können Smartphones mir dabei helfen, meine Therapie besser in den Griff zu bekommen?"
    Das Ergebnis: Die MySugr-App. 230.000 registrierte Nutzer in Europa und den USA erfassen damit inzwischen regelmäßig ihre Blutzuckerwerte und gespritzten Insulin-Mengen, geben ein, was sie wann gegessen - oder wieviel sie sich bewegt haben. Die App hilft, die Werte in Beziehung zueinander zu setzen - unter anderem über einen Graphen, der die Blutzuckerwerte im Tagesverlauf darstellt.
    "Ich zeig das mal an einem Beispiel: Gestern war ich joggen. Und allein, weil ich joggen war, verändert sich nicht nur der Verlauf über den ganzen Tag, sondern es verändert sich auch die Menge an Insulin, die ich am Morgen spritzen soll. Ich laufe aber nicht jeden Tag und ich vergesse dann auch: Wieviel hab ich denn letzte Woche gespritzt, als ich laufen war? Du kannst durch deine Blutzuckerwerte durchscrollen. Und das Tolle ist, dass man anhand der Werte so Muster erkennen kann. Dafür ist ein Smartphone einfach genial."
    Smartphone-Anwendungen mit Gesundheitsbezug boomen. Etwa 97.000 dieser Apps gibt es derzeit, schätzt eine Studie der Medizinischen Hochschule Hannover - jeden Monat kommen etwa 1.000 neue dazu. Gleichzeitig werden immer mehr und immer neue Sensoren entwickelt:
    Fitness-Armbänder und Smartwatches zählen Schritte - und überwachen Schlaf und Puls.
    "Der nächste Schritt ist, Herzfrequenzen überwachen über den Tag. Hautleitfähigkeit, Schweißentwicklung, Sauerstoffsättigung, etc."
    Möglich per Smartphone-Kamera, über Fingerringe und Sensorpflaster.
    "Das geht schon bis zu implantierten Sensoren. Die bestimmte Blutparameter messen."
    Handy-Zusatzgeräte ermöglichen HIV-Tests innerhalb von 15 Minuten. Mini-Diagnostik-Geräte erkennen Krankheitskeime in Körperflüssigkeiten, tragbare DNA-Sequenzierer identifizieren deren Genen.
    Google, Apple, Microsoft, Samsung - alle großen IT-Player - drängen derzeit auf den Markt mit Gesundheitsanwendungen für den Heimgebrauch.
    "Jetzt gehen wir mal in unser Analytik-Labor, wo wir auch die Messungen durchführen."
    Nicolas Schauer öffnet die Tür zu einem kleinen Raum, im zweiten Stock eines nüchternen Zweckbaus auf dem Campus der Max-Planck- und Fraunhofer-Institute in Potsdam-Golm.
    "Hier kommen die Blutproben an, werden aufbereitet und dann mittels Massenspektrometer analysiert. Dauert ungefähr zwei Minuten pro Probe."
    Angaben zu Lebensgewohnheiten
    Der Biochemiker ist Geschäftsführer von Metabolomic Discoveries. Ein Unternehmen, das in diesen Tagen [Mai 2015] Kenkodo auf den Markt bringt: Mehrere Monate lang nehmen sich die Nutzer der Anwendung einmal pro Woche einen Tropfen Blut ab und senden die Proben an Metabolomics zur Analyse.
    "Vielleicht schauen wir uns das mal an, weil - Blutbilder kann jeder machen und gezielt 10 bis 20 Metabolite analysieren - also Stoffwechselprodukte - machen die meisten Labore. Das Tolle an unserer Technologie ist, dass wir nicht nur die bekannten Substanzen, wie Cholesterol, Vitamin D, C oder Glukose, messen können. Sondern wir messen noch ungefähr 700 andere Substanzen, die wir heute noch gar nicht mit einem Namen identifizieren können. Und die so auch kein anderes Labor messen kann."
    Über die Kenkodo-Web-Plattform oder die Handy-App machen die Nutzer zusätzlich Angaben zu sich und ihren Lebensgewohnheiten.
    "Alter, Geschlecht, Gewicht, Erbkrankheiten, ob man Medikamente nimmt. Dann nehmen wir noch Alltagsdaten auf: Was essen Sie? Wie ist ihr Gemütszustand?"
    Und aus all dem erstellt Metabolomics schließlich individuelle Stoffwechselprofile:
    "Ich habe mich selber vermessen. Im Prinzip war ich daran interessiert, was passiert, wenn ich statt 3.000 Schritte mich etwas mehr bewege. Ich habe interessante Dinge gesehen, die ich ganz kurz hier zeigen kann: Wenn ich mich mehr bewege - also hier unten ist die Schrittanzahl, hier ist die Konzentration der Substanzen angegeben. Sehen wir eine sehr starke Korrelation mit der Schrittanzahl und dem Anstieg dieser Substanz, die ein Karotinoid zu sein scheint. Also etwas, was als Antioxidanz im Körper zur Verfügung steht. Das heißt: hier sehen wir den Beweis, jedenfalls, wenn ich mich anschaue, dass hier wirklich ein positiver Effekt auf meinen Körper stattfindet, wenn ich mich mehr bewege."
    "So, ich werd mal wieder meinen Zucker testen, dafür nehme ich den Teststreifen, stecke ihn in das Testgerät."
    Freitagmittag. Frank Westermann ist essen gewesen, beim Italiener um die Ecke, zusammen mit ein paar Kollegen.
    "... 169. Nach dem Essen - ganz okay."
    Die Art seiner Mahlzeit - Pizza Prosciutto - die aufgenommenen Kohlenhydrate und den Blutzuckerwert protokolliert Frank Westermann sofort in MySugr.
    "Ich hab rausgekriegt, dass der Blutzucker enorm ansteigt mit dem fettreichen Essen. Das hab ich immer gewusst - aber den wirklichen Effekt erst später nachvollziehen können. Und zum Beispiel in der App kann man nach Nahrung suchen und die App spuckt dir alle Tage aus, an denen du Pizza gegessen hast und kannst dann einfach vergleichen, wie ist der Zucker danach gelaufen. Und dann hab ich festgestellt, dass erst vier bis fünf Stunden, nachdem ich die Pizza gegessen hab, nochmal der letzte Push kommt, an Kohlenhydraten, die ausgeschüttet werden. Das sind tolle Learnings, die man draus ziehen kann, definitiv."
    Muster und Abhängigkeiten durch Daten sichtbar
    Je mehr Daten jeder Einzelne über sich sammelt - je mehr Möglichkeiten es gibt, in diesen Daten Muster und Abhängigkeiten zu finden - desto präziser tritt jeder mit seinen ganz individuellen, biologischen Merkmalen hervor. Die Medizin wird personalisierter.
    "Letzte Woche war ich mit dem Anton Skifahren und er muss seine Basalrate um 40 Prozent reduzieren, wenn er Ski fährt und ich kann sie gleich lassen. Also - die Menge an Insulin, die man spritzt, um seinen Grundbedarf abzudecken. Die Diabetes-Therapie, vor allem bei Typ-Einsern, ist extrem individuell. Man kann das überhaupt nicht verallgemeinern. Was der Anton spritzt, ist für mich völlig irrelevant. Hat mich absolut erstaunt, dass es so ist."
    "Natürlich spielt rein, was ich für Daten habe. Es gibt sehr hochwertige Daten, das sind im Allgemeinen die, die ich aus einem Krankenhaus, aus der Krankenakte bekomme. Die sind von Ärzten, von Krankenschwestern erhoben und deswegen sind die sehr valide."
    Tobias Neisecke, Mediziner und Unternehmensberater. Verfolgt die Entwicklungen im Bereich eHealth und mHealth seit Jahren.
    "Was der Patient selber erhebt, ist immer ein Problem."
    Schritt- oder Kalorienzähler arbeiten mit GPS und Richtwerten. Die Daten, die sie liefern, sind nicht präzise.
    "Weil der meine Schrittlänge nicht kennt, und niemals einkalkulieren kann, hab ich gerade Stress oder wie ist das Klima draußen und so weiter. Das machen die Standard-Apps nicht."
    Verschiedene Sensoren messen Blutdruck und Puls, verschiedene Programme werten die Daten aus. Sind die Ergebnisse vergleichbar? Wer weiß, ob ein Anwender sich vor dem Bluttest die Hände gewaschen hat? Oder ob er nüchtern war?
    "Das muss man im Hinterkopf haben, dass das nicht wirklich genau ist. Und oft auch nicht zielführend. Weil der Arzt immer versucht, so wenig Daten wie möglich und die entscheidenden Daten zu erheben. Apps aber dazu neigen, ein Mehr an Daten zu messen. Also: Mein Arzt würde vorgeben: Miss Dir einmal am Tag den Blutdruck und wenn es Dir schlecht geht. Und eine Anwendung macht das vielleicht alle fünf Minuten. So entstehen Datenmengen, die kein Arzt mehr verarbeiten kann."
    Algorithmen aber - können das. Für die Medizin sind sie dem amerikanischen Ökonomen Erik Brynjolfsson zufolge ähnlich bedeutend wie die Erfindung des Mikroskops. Denn so wie das Mikroskop Dinge sichtbar macht, die für das menschliche Auge viel zu klein sind - so macht die Analyse großer Datenmengen Zusammenhänge sichtbar, die für den menschlichen Verstand bisher viel zu groß und komplex waren.
    "Das ist alles noch Forschung. Und das kann ich Ihnen mal zeigen."
    In seinem Büro, im lichten Dachgeschoss der Klinik für pädiatrische Onkologie in Homburg, hat Professor Norbert Graf sein Laptop aufgeklappt.
    "Da ist es: Das ist ein kleines Video, das gedreht worden ist."
    Der Kinderonkologe gehört zum Vorstand des Virtual Physiological Human Instituts. Ein Verbund, in dem Forscher aus 16 Ländern ein Computermodell entwickeln, das die Gesamtheit der physischen, mechanischen und bio-chemischen Abläufe des menschlichen Körpers simuliert. Und die komplexen Abhängigkeiten zwischen Körperfunktionen und Umwelt sichtbar macht. Zusammen mit Mathematikern, Molekularbiologen und Bio-Informatikern arbeitet Graf an einem Modell des Wilms-Tumors, ein kindlicher Nierentumor. Er zeigt auf verschiedene Tabellen:
    "Und da hat man hier bestimmte Daten schon mal drin. Daten zum Zellzyklus, Daten von Medikamenten und ihre pharmakokinetischen Daten. Da fließen natürlich Größe des Kindes, Gewicht, auch die ganzen Kernspin-Bilder, die wir von den Kindern gewinnen, mit ein, da fließen auch Blutwerte mit ein - also all das, was wir an Daten haben."
    Bei Wilms-Tumoren, erklärt Norbert Graf, müssten Ärzte häufig entscheiden, ob sie das Kind sofort operieren - oder ob sie den Tumor zunächst mit einer Chemotherapie behandeln, so dass er schrumpft und später leichter operierbar ist. Allerdings - nicht alle Kinder sprechen auf eine Chemotherapie gleich gut an:
    "Das heißt: Dann hab ich eine ganze Menge von Daten - und jetzt versuche ich, all diese Daten zusammenzuführen und stell mir die Frage: Kann ich vorhersagen, wie der Tumor auf diese Vorbehandlung anspricht? Also, was ich von dem System erwarte ist, dass es mir sagt: Nein, der Tumor wird nicht kleiner, gehe direkt zur Operation. Und das wäre etwas, was uns hilfreich wäre, als Ärzten, damit wir den Kindern die optimale Therapie von Anfang an geben können. Und auch Nebenwirkungen von Therapien ersparen können. Denn wenn der Tumor nicht anspricht, dann brauche ich dem Kind auch die Therapie nicht zu geben."
    Gerade erst lernt das System noch. Norbert Graf weist auf ein 3D-Bild neben einem Graphen:
    "Die graue Linie, die ich hier zeige, ist das reale Tumorvolumen. Und immer wenn's kleiner wurde, hat man Chemotherapie gegeben. Und das hier ist das Bild des Tumors. Und jetzt kann ich berechnen lassen, wie der Tumor sich verändert unter der Therapie. Wenn Sie das dann kalkulieren, mit unterschiedlichen Dosen der Medikamente, da gibt es dann drei Vorhersagen, je nachdem wieviel Medikament ich gebe. Und das kann ich vergleichen mit der Realität. Und dann wiederverwenden für die nächsten Patienten. Je mehr Daten ich hab und je besser mein System immer wieder mit der Realität verglichen wird, desto genauer wird meine Vorhersage."
    Algorithmen und Vorhersage von Krankheiten
    2011 stellten Forscher der Stanford University in Kalifornien einen Algorithmus vor, der Brustkrebs identifiziert. Das Modell untersucht Gewebeproben auf weit mehr Indikatoren als Ärzte das könnten.
    Forscher des Deutschen Krebsforschungszentrums analysierten die Genomdaten von 250 Kindern mit einem speziellen Hirntumor und identifizierten dadurch dessen Auslöser.
    2013 entwickelten Forscher des Pharmakonzerns Pfizer einen Algorithmus, der vorhersagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Patient innerhalb von drei Wochen positiv auf ein Medikament reagiert.
    Anfang 2015 präsentierten Informatiker der University of Rochester eine Software, die aus Webcam-Selfies und Tweets auf die psychische Gesundheit der Verfasser schließt und so Anzeichen einer Depression oder Angststörung erkennt.
    "Dann ist es so, dass man überlegen muss: So ähnlich, wie wenn ich ein neues Medikament in den Markt einführe, muss ich zeigen, dass das genauso sicher ist, wie ein neues Medikament. Da sind wir gerade am Diskutieren, wie man das am besten machen kann. Denn es ist tatsächlich so, dass in vielen Bereichen viele solcher Modelle entwickelt werden. Und die Translation von der Forschung in die klinische Anwendung ist noch völlig unklar."
    Die Medizin wird personalisierter - und vorausschauender. Krankheiten werden nicht mehr nur nach ihrem Erscheinungsbild, ihren Symptomen beurteilt, sondern mehr und mehr nach ihren molekularbiologischen Ursachen und Anlagen.
    "Das Problem wird sein, dass man nur ein Risikoprofil angeben kann: Mit der und der Wahrscheinlichkeit wirst Du das und das bekommen."
    Am Beispiel von Frauen, die die Brustkrebs-Gene BRCA 1 und 2 tragen, erforscht der Theologe Peter Dabrock die Folgen der Verschiebung - von der Diagnose einer Krankheit hin zur Prognose für deren Ausbruch.
    "Inzwischen ist es so, dass man statt zwei bis drei Kandidaten-Genen eher so ein Kontinuum hat. Vom Hochrisiko- zu Schwachrisiko-Patienten. Es gibt da im Englischen inzwischen Begriffe wie 'healthy ill', also gesund Kranke oder 'patient in waiting', 'measured vulnerability', also gemessene Verletzlichkeit, Patienten im Wartestand. Das sind Terminologien, die diesen neuen Zwischenstand versuchen, noch auf eine unbeholfene Weise auf den Begriff zu bringen."
    "Und dann wird's ethisch und ökonomisch und rechtlich interessant, da stellt sich sofort die Frage: Welche Konsequenzen hat das Ganze für das Versicherungswesen? Weil: wenn sie nur BRCA 1 und 2 haben, dann würde man sagen: Ja klar, denen bezahlen wir das. Aber jetzt sagen sie: Naja, 70 Prozent Lebenswahrscheinlichkeit: zahlen wir. Aber was ist mit 65 Prozent? Auch noch?"
    Die Medizin wird präventiver - und pro-aktiver. Je mehr jeder Einzelne über seinen Körper weiß und über seine Veranlagung für bestimmte Krankheiten - desto mehr steht er künftig in der Pflicht, selbst dafür zu sorgen, dass er gesund bleibt.
    Freitagnachmittag, halb vier, zurück bei MySugr in Wien. Frank Westermann holt sein Handy aus der Hosentasche, öffnet die App.
    "Ich hole heute meine Tochter von der Tagesmutter ab - und das heißt: Gleich werde ich zweieinhalb Kilometer mit dem Kinderwagen laufen. Da verbrauche ich immer wesentlich mehr Zucker, als wenn ich einfach mit dem Fahrrad vom Büro nach Hause fahre. Und deshalb kuck ich jetzt nochmal kurz in MySugr. Wie war das vorgestern, als ich bei der Tagesmutter war. Wieviel hab ich da gespritzt, an Insulin - wie gut bin ich damit ausgekommen."
    Noch keine Therapietipps - sondern reine Lifestyle-Produkte
    Technisch, sagt Frank Westermann, könne MySugr die Profile seiner Nutzer schon heute so analysieren, dass daraus Vorhersagen über die Blutzuckerwerte in den nächsten Stunden abgeleitet werden können. Die App könnte auch Insulinmengen empfehlen, die gespritzt werden sollten, um den Blutzucker stabil zu halten. MySugr allerdings gilt als Medizinprodukt mit niedriger Risikoklasse:
    "Und wir dürfen sowas im Moment einfach noch nicht. Das ist unser großes Ziel. Und das ist im Endeffekt auch die Macht, die in den Daten liegt: Dass Du wirklich konkret Therapietipps geben kannst."
    Auch die Macher von Kenkodo - das zunächst noch als Lifestyle-Produkt angeboten wird - wollen in Zukunft Empfehlungen zur Gesundheitsvorsorge geben. Indem sie Anzeichen für Krankheiten identifizieren. Geschäftsführer Nicolas Schauer:
    "Wenn wir ein bestimmtes Muster sehen im Blut, können wir in Zukunft wirklich sagen: Wenn Sie jetzt nicht weniger arbeiten, haben sie in einem halben Jahr ein Burnout. Oder für Sie sind fünfmal die Woche laufen gehen einfach zu viel, gehen sie nur dreimal. Wie es häufig der Fall ist: Wir fühlen uns monatelang gut und plötzlich liegen wir flach. Und hier wollen wir ein Werkzeug entwickeln, das uns genau das sagen kann. Bevor es zu spät ist."
    Daten von Geld- und Rabattkarten verraten, wie oft jemand in Fastfood-Restaurants isst oder Alkohol kauft. Ob daher ein höheres Risiko für Übergewicht besteht oder er eine Depression entwickelt. Ändert jemand sein Telefonverhalten, erkennbar aus der Telefonrechnung, kann das ebenfalls eine Depression ankündigen. Und ist aus Krankenkassendaten und Geo-Daten bekannt, dass jemand mit Asthma in einer Gegend mit hoher Luftverschmutzung lebt - dann ergibt sich daraus die Prognose für den nächsten Krankhausaufenthalt.
    Carolinas HealthCare System, ein Medizin-Netzwerk im US-Bundesstaat North Carolina, hat 2014 bereits damit begonnen, Konsumentendaten mit Gesundheitsdaten abzugleichen - und so Risiko-Patienten identifiziert. In Deutschland sucht der ThinkTank Elsevier Health Analytics in anonymisierten Krankenkassendaten nach Mustern. Auch hier liefern die Algorithmen Risiko-Gruppen. Ärzte können ihre Patientendatei mit diesem Filter abgleichen - und die Risiko-Patienten gezielt und frühzeitig ansprechen.
    Ärzte werden ihre Patienten medizinisch beraten. Sie werden Daten auswerten, die Patienten selbst gesammelt haben. Und: Wenn sie jemanden behandeln, dann werden sie es häufig deshalb tun, weil ein Algorithmus es vorgeschlagen hat.
    "Es braucht dieses Wechselspiel, dadurch befruchtet sich das Ganze. Wir lesen neue Erkenntnisse aus den Daten, die Mediziner können diese dann auf ihre Plausibilität prüfen. Andererseits haben auch die Mediziner oft Hypothesen, die sie bisher nicht überprüfen konnten. Die wir jetzt aber mit dieser neuen Datenbasis erstmals wirklich im Detail untersuchen können."
    Der Mathematiker Mario Drobics forscht am Austrian Institute of Technology seit mehreren Jahren an der Schnittstelle zwischen Sensorik, Datenanalyse und Gesundheitsvorsorge.
    "Ein schönes Beispiel ist wirklich: Aus den Bewegungsdaten kann man Rückschlüsse ableiten auf einerseits Abbauprozesse, die zu einem erhöhten Sturzrisiko führen: Die Schrittweite reduziert sich, der Schritt wird instabiler. Die andere Schiene ist, dass man Rückschlüsse ziehen kann über geistige Abbauprozesse. Alzheimer äußert sich in den Bewegungsdaten. Wenn eine Person zum Beispiel zur Tür geht, dann wieder weggeht, dann doch wieder zur Tür geht und so weiter - da kann man aus der Bewegung in der Wohnung erkennen, ob hier etwas auffälliger ist als vorher. Ich kann das über Sensoren messen. Wie intelligenten Bodenbelägen, die dann zum Beispiel eine Gangmusteranalyse durchführen."
    Natürlich, sagt Mario Drobics, lassen sich viele Krankheits-Indikatoren auch mit der üblichen ärztlichen Diagnostik identifizieren, mit psychologischen Tests, Hirn-Scans, Blut-Bildern.
    "Nur, das wird nicht so regelmäßig gemacht. Und drum ist es für die Personen sehr angenehm, hier einen unsichtbaren Helfer bei sich zu haben, der auf einen aufpasst. Und aus dem Verhalten dann einen Hinweis gibt: Geh zum Arzt, lass Dich mal durchchecken, weil irgendwas dürfte bei Dir nicht in Ordnung sein."
    Studien, die die Wiener Forscher mit Herzschwäche-Patienten gemacht haben, zeigten: Patienten, deren Gesundheitsdaten kontinuierlich gesammelt und von Ärzten per Fernanalyse ausgewertet wurden, schätzten ihre Lebensqualität höher ein als andere Patienten - und sie verbrachten weniger Tage im Krankenhaus.
    "Eigentlich ist das ja eine Selbstverantwortung, die noch freiwillig ist, aber wie lange ist sie noch freiwillig? Wird sie irgendwann nicht mehr freiwillig sein, sondern eine Verpflichtung, sich um irgendwelche Werte zu kümmern?"
    Krankenkasse und Gesundheitsdaten
    Ende 2014 sorgte die Generali-Versicherungsgruppe für Aufsehen mit einer App, über die Kunden Daten über ihre Lebensgewohnheiten an das Unternehmen weiterleiten können. Wer besonders gesund lebt, wird mit Gutscheinen und Rabatten belohnt.
    Die deutsche AOK sammelt in einem Pilotprojekt per App Gesundheitsdaten - und lässt daraus einen "Health Score" berechnen, an den ebenfalls Bonuszahlungen geknüpft sind.
    "Es heißt: Derjenige, der etwas tut, kriegt etwas zurück. Ob sich das irgendwann mal dreht, ist ziemlich wahrscheinlich. Dass Leute, die gesund sind, gut gebildet sind, sich solche Techniken kaufen, davon profitieren können. Und derjenige, der eine Erkrankung hat, eingeschränkt ist, der vielleicht ein mobiles Endgerät nicht nutzen kann, weil er taub, blind oder sein Kopf woanders ist, kann die weniger benutzen und es entsteht ein Nachteil."
    Dem Washingtoner Forschungsinstitut PEW-Research zufolge messen bereits 69 Prozent der US-Amerikaner regelmäßig Gesundheitsdaten von sich oder ihren Angehörigen. Gut ein Fünftel von ihnen protokolliert die Daten mit Hilfe von Smartphones, Tablets oder PCs.
    Möglicherweise besteht die Gefahr nicht so sehr darin, dass wir uns dem "Health-Sensing" bald nicht mehr verweigern können. Sondern: Dass wir uns nicht mehr verweigern wollen.
    "Das Diabetes-Monster ist dieses kleine quietschende Ding."
    In der Küche von Frank Westermann in Wien.
    "Je nachdem, ob Du einen Insulin-Wert getrackt hast, ob der hoch, tief oder whatever war, gibt's unterschiedliche Reaktionen vom Monster. Die sind aber immer positiv. Also, soll Dich immer motivieren."
    Freitagabend, halb elf.
    "Das ist, diese Diabetes-Therapie in einen anderen Kontext gesetzt, gamified, wie wir sagen. Und dadurch: Macht einfach mehr Spaß, sich um seine Diabetes zu kümmern."
    Letzter Blutzucker-Check vor der Nacht.
    "Wenn Du das schaffst, fünfmal am Tag deinen Blutzucker zu testen, dann hast du das Diabetes-Monster für diesen Tag besiegt. Und da siehst du: Da liegt das Monster in Ketten. Das ist das große Ziel. Das Diabetes-Monster zu besiegen. Jeden Tag."