Samstag, 20. April 2024

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Medizin in Kriegszeiten
Stromschläge als Psychotherapie

Die Medizinhistoriker Livia Prüll und Philipp Rauh haben Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege untersucht. Wie sich Ärzte in den Dienst der Kriege stellen ließen, in den Dienst der hemmungslosen Brutalisierung und Ideologisierung - das lässt sich in "Krieg und medikale Kultur" nachlesen.

Von Nikolaus Nützel | 14.04.2014
    Im Jahr 1914 konnte die Medizin in Deutschland auf eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte zurückblicken. Der Beruf des Arztes hatte ein Ansehen unter den akademischen Professionen erlangt, um das die Mediziner lange hatten ringen müssen. Gleichzeitig nahmen viele Ärzte die offizielle Propaganda auf, dass Deutschland von feindlichen Mächten wie Russland, England und Frankreich eingekreist sei. Den Krieg zügig zu gewinnen - das sahen viele Ärzte als nationale Aufgabe, zu der auch sie ihren Teil beitragen müssten, erklärt die Medizinhistorikerin Livia Prüll.
    "Und jeder empfand diesen Druck. Die Mediziner empfanden den Druck, und der Druck ist von den Medizinern an die Soldaten weitergegeben worden. Sie sollten funktionieren und die Soldaten haben das aufgenommen. Sie haben versucht durchzuhalten in den Schützengräben, und die Sprache des Soldaten, dass es nicht mehr geht, sind im Prinzip die psychosomatischen Symptome."
    Zermürbte Soldaten und ihr Schicksal
    Schon kurz nach Beginn der Kämpfe zeigte sich, dass dieser erste industrielle Krieg die Soldaten nicht nur körperlich, sondern auch seelisch in einem Maß belastete wie kein Konflikt zuvor. Dauerbeschuss durch Maschinengewehre, Mörser oder Granaten zermürbte die Soldaten ebenso wie das wochen- und monatelange Ausharren in Schützengräben. Der Sammelband "Krieg und medikale Kultur" widmet sich vor allem dem Umgang mit Soldaten, die unter psychischen Problemen litten, wie etwa den sogenannten "Schüttlern". Die Autoren haben zahlreiche Behandlungsakten neu ausgewertet. Sie stellen aber auch Einzelschicksale dar. Etwa von Soldaten, die Psychiater mit der "Kaufmann-Kur" behandelten, benannt nach ihrem Erfinder Fritz Kaufmann. Eine grausame Methode, wie der Mit-Herausgeber Philipp Rauh schildert.
    "Es wurden dem Soldaten elektrische Ströme durch den Körper gejagt, das muss man so sagen. Und zeitgleich wurde er dabei, wenn man so will, suggestiv bearbeitet. Also das kann man als sehr raue, harte Form der Psychotherapie interpretieren. Also es wurde ihm zugeredet im militärischen Ton, sozusagen flankierend zu der Strombehandlung."
    Elektrische Stromschläge als Psychotherapie
    Eine Art Gehirnwäsche kombiniert mit Elektroschocks. Nicht alle Psychiater griffen zu solch rabiaten Methoden. Es habe eine breite Vielfalt an therapeutischen Ansätzen gegeben, stellt das Forscher-Team um Livia Prüll und Philipp Rauh fest. Es setzte sich im Ersten Weltkrieg dann allerdings immer mehr eine Haltung durch, die die Buchautoren mit einem Zitat des Nervenarztes Adolf Friedländer illustrieren.
    "Im Kriege kann vor dem Einzelwohl das Gesamtwohl, kann vor der Liebe für die Kranken die zum Vaterlande kommen."
    Der Medizinhistoriker Rauh sieht in solchen Äußerungen einen Umschwung in der Haltung vieler Psychiater und auch Ärzte anderer Fachrichtungen.
    "Dort wurde sozusagen die Tendenz dahingehend gelegt, dass der Militärarzt mehr Militär und weniger Arzt ist."
    Eine Tendenz, die sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter fortsetzte. Viele Ärzte der Wehrmacht ab 1933 sahen ihre Aufgabe nicht so sehr darin, einzelnen Patienten zu dienen – als vielmehr den ideologischen Zielen der Nazi-Diktatur.
    "Und das sozusagen wurde in der Folgezeit vor allem dann im Nationalsozialismus wenn man so will perfektioniert, konsequent vorangetrieben und hat dann im Zweiten Weltkrieg auch Niederschlag in die Alltagsbehandlung gefunden. Also dort lässt sich dann im Vergleich zum Ersten Weltkrieg, wo sozusagen die Saat gelegt worden ist, dann eine Radikalisierung feststellen."
    Verrohung der Gesellschaft
    Mit dem Ersten Weltkrieg begann also auch in der Medizin eine Entwicklung, die sich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs fortsetzte. Die Verrohung der Gesellschaft in Deutschland in dieser Zeit zwischen 1914 und 1945, die viele Historiker als "Zweiten dreißigjährigen Krieg" bezeichnen, erfasst auch weite Teile der Medizin - nicht nur beim Militär, schreibt Livia Prüll:
    "Im "zweiten dreißigjährigen Krieg" beschritt die Medizin in Deutschland einen Weg, der ihr aufgrund des unethischen bzw. verbrecherischen Verhaltens vieler Fachvertreter im Jahre 1945 einen Vertrauensverlust bescherte, wie er vorher noch nie dagewesen war."
    Sich mit solchen Entwicklungen zu beschäftigen, sei gewinnbringend für Leser, die sich für Geschichte und Politik interessieren, meint die Historikerin Livia Prüll. Aber auch Menschen, die im Gesundheitswesen arbeiten, könnten aus der Geschichte vieles lernen.
    "Dass man im historischen Kontext eigentlich auch die eigene Arbeit besser betrachten kann. Man betreibt Medizin einfach anders, wenn man sie kontextgebunden betreibt und wenn man solche Entwicklungen kennt."
    Schatten der Wehrmacht
    Und die Geschichte der Militärpsychiatrie zeigt, dass es auch in diesem Bereich nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs klare Brüche gab. Das Buch "Krieg und medikale Kultur" zitiert beispielsweise aus der Doktorarbeit des Psychiaters Rudolf Brickenstein, der nach der Wiederbewaffnung eine zentrale Rolle in der Militärpsychiatrie der Bundeswehr spielte. In seiner Dissertation aus dem Jahr 1943 hatte Brickenstein folgendes über suizidgefährdete Soldaten geschrieben:
    "Jedoch besteht meist kein Grund, solchen Soldaten allzu sehr nachzutrauern. Sie wären immer lebensuntüchtig gewesen und für das Volksganze ist das Erbgut solcher Menschen nicht nur wertlos, sondern schädlich."
    Kein leicht verdauliches Werk
    Erst ab den 1980er-Jahren, als Ärzte wie Brickenstein die Militärpsychiatrie der Bundeswehr nicht mehr prägten, konnte es auch dort gelingen, sich von den Schatten der Wehrmacht zu befreien, meint der Historiker Philipp Rauh. Denn erst jetzt wurde auch der Ansatz überwunden, es als persönliches Problem der Soldaten zu sehen, wenn sie nach einem Kampfeinsatz psychisch erkrankten.
    "Heutzutage ab den 90er-Jahren gibt es neue Stress- und Traumakonzepte innerhalb der Bundeswehrpsychiatrie, die sozusagen genau das Gegenteil verfechten. Dort ist eine psychische Erkrankung im Kriegseinsatz eine normale Reaktion auf ein unnatürliches Ereignis."
    Die Aufsatzsammlung "Krieg und medikale Kultur" ist kein leicht verdauliches Werk - die Autoren wollen vielmehr einen wissenschaftlich exakten Beitrag zur Geschichte der Deutschen Militärmedizin leisten. Also zu einem Teilbereich der Geschichtswissenschaft, der in ganz besonderer Weise Schlaglichter auf eine Frage wirft, die für die Gesundheitsversorgung immer aktuell ist: Wie handeln Ärzte, wenn von außen Druck auf sie ausgeübt wird?
    "Krieg und medikale Kultur. Patientenschicksale und ärztliches Handeln in der Zeit der Weltkriege 1914-1945", Herausgegeben von Livia Prüll und Philipp Rauh - das Buch ist im Wallstein-Verlag erschienen, hat 283 Seiten und kostet 24,90 €.