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Medizin
Umstrittenes Genomprojekt in Estland

Zweit zwölf Jahren sammeln Genetiker in Estland DNA-Proben der Bevölkerung. Bisher ist das Projekt ein reines Forschungsprogramm, doch das könnte sich bald ändern. Die Regierung entscheidet, ob künftig auch für die Patientenbehandlung auf diese Daten zurückgegriffen werden darf.

Von Gabor Paal | 16.12.2013
    Die alte Universitätsstadt Tartu liegt knapp 200 Kilometer von der estnischen Hauptstadt Tallinn entfernt. Mari Alavere studiert hier unter anderem Germanistik. Auch sie hat sich bereit erklärt, ihr Erbgut der Forschung zur Verfügung zu stellen.
    "Die haben mir ein bisschen Blut abgenommen, daraus DNA entfernt, und dazu habe ich noch Informationen über mich gegeben, damit die das auch mit anderer DNA vergleichen können."
    22 Seiten umfasste der Fragebogen, den Mari Alavere ausfüllen musste. Fragen zur Gesundheit, ihrer eigenen und der ihrer Verwandten. Ihre DNA-Probe lagert jetzt tiefgekühlt im Estnischen Genomzentrum. Es befindet sich etwas außerhalb des Stadtzentrums. Laborchef Steven Smit steht vor einem etwa zehn mal zehn Meter großen Raum, der nur durch eine Sicherheitstür zu betreten ist. Als er sie öffnet, werden ein gutes Dutzend großer Stahlbehälter sichtbar.
    "Das ist die Biobank für die Langzeitaufbewahrung unserer Proben. Sie lagern in diesen Stahlfässern mit flüssigem Stickstoff bei minus 190 Grad."
    Über Rohre und Schläuche werden die Stahlfässer gekühlt und mit Stickstoff versorgt. Steven Smit öffnet vorsichtig eines der Fässer und holt, mit dicken Handschuhen geschützt, ein paar Röhrchen heraus. Sie sind mit Barcodes versehen und mit unterschiedlichen Farben markiert.
    "Wir speichern nicht nur die DNA, sondern auch Plasma und weiße Blutkörperchen. Die DNA ist nicht ganz so empfindlich, die können wir auch vorübergehend bei minus 20 Grad lagern, ohne dass sie kaputt gehen. Das hat den Vorteil, dass wir an die Proben, die nur bei minus 20 Grad lagern, schneller herankommen."

    DNA von einer Million Esten
    Vor mehr als zehn Jahren hat Institutsleiter Andres Metspalu mit dieser Arbeit begonnen. Angetreten war er mit dem ambitionierten Ziel, die DNA von einer Million Esten zu erfassen – das wären 70 Prozent der Gesamtbevölkerung des Landes gewesen. Das Projekt wurde ursprünglich vom US-amerikanischen Pharma-Dienstleister EGeen finanziert. Nachdem die Firma 2004 abgesprungen ist, hat der Staat die Finanzierung übernommen, seitdem gehört die Biobank zur Universität Tartu.
    "Mich interessiert, wie Gene und Krankheiten zusammenhängen. Und mich interessiert, welchen Einfluss Gene darauf haben, wie Menschen auf bestimmte Medikamente unterschiedlich reagieren."
    Metspalu versucht zunächst, DNA-Daten mit Gesundheitsinformationen zu korrelieren. Wenn bei Menschen mit einer bestimmten Krankheit bestimmte Gen-Varianten überdurchschnittlich häufig vorkommen, dann, so die Logik, erhöht dieses Gen offensichtlich das Krankheitsrisiko. Und ähnlich untersuchen die Forscher in Tartu, wie Gene den Erfolg bestimmter Therapien beeinflussen.
    "Wir haben zum Beispiel vor kurzem herausgefunden, dass ein bestimmtes Gen einen wesentlichen Einfluss darauf hat, ob ein bestimmtes Antidepressivum wirkt oder nicht. Wir haben festgestellt, dass bei Menschen mit einer bestimmten Genvariante das Risiko um 30 Prozent erhöht ist, dass dieses Antidepressivum bei ihnen nicht wirkt. "
    Gespannt sieht Andres Metspalu nun dem morgigen Dienstag entgegen. Dann nämlich entscheidet der Forschungsrat der estnischen Regierung darüber, ob die bisher gesammelten genetischen Daten in die nationale Gesundheitsdatenbank aufgenommen werden.
    "Dazu muss man wissen, dass in Estland die Gesundheitsdaten und medizinischen Befunde der meisten Bewohner zentral gespeichert sind. Röntgenbilder, Blutwerte, alle möglichen Informationen. Wenn Sie zum Arzt gehen, kann der auf all diese Befunde zugreifen. Wir könnten nun diese Datenbank um die DNA-Daten, die wir von den bisher 50.000 Esten haben, ergänzen."

    DNA-Daten bei der Behandlung von Depression berücksichtigen
    Jeder Arzt hätte dann Einblick in die DNA seiner Patienten und könnte sie, um beim Beispiel zu bleiben, etwa bei der Behandlung einer Depression berücksichtigen. Zumindest in der Theorie. Es setzt allerdings voraus, dass Ärzte die genetischen Informationen auch richtig lesen und einordnen können, meint Urmas Siigur. Er sitzt nur ein paar Häuserblocks weiter, leitet die Universitätsklinik und ist einer von Metspalus größten Kritikern.
    "Angenommen ich weiß, dass ein Patient genetisch bedingt ein um 10 oder 30 Prozent erhöhtes Infarktrisiko hat – in der Praxis bedeutet das so gut wie nichts. Es gibt einige Fälle, wo die Zusammenhänge sehr stark sind, aber das sind wenige. In der Regel kann man den Leuten dann doch nur sagen: Achte auf die Ernährung, auf das Gewicht, mach regelmäßig Sport und rauche nicht – und das ist es."
    Der Humangenetiker Thomas Wienker vom Max-Planck-Institut für molekulare Genetik in Berlin sieht das Projekt ambivalent.
    "Das ist schon etwas Besonders, was einen absoluten Pioniercharakter gehabt hat, was Andres Metspalu aufgezogen hat in Estland."
    Wienker nennt aber auch Schwachpunkte: Gerade was die großen Volkskrankheiten betrifft – Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder eben Depressionen – hat diese Art der Forschung viel weniger konkrete Ergebnisse gebracht als ursprünglich erhofft. Ein paar Ausnahmen gebe es aber.
    "Eine Besonderheit nimmt die Krebsmedizin ein, man kann Krebsformen, die man bisher klinisch nicht unterscheiden konnte, in einzelne spezifische molekulargenetisch definierte Untertypen aufdröseln, bei denen es so aussieht, dass auch gezielt Therapien, die auch an den Ursachen ansetzen, sehr erfolgreich sein können."

    Vom Forschungsprogramm zum Bestandteil des Gesundheitswesens
    In Estland selbst ist das Genomprogramm umstritten. Der Leiter der Uni-Klinik Urmas Siigur hält das ganze Programm für eine große Blase und ist erst recht dagegen, die DNA-Daten in die Nationale Patentendatenbank aufzunehmen. Denn dann würde das ursprünglich als reines Forschungsprogramm gestartete Projekt plötzlich Teil des Gesundheitswesens und würde entsprechend Geld aus dem Gesundheitssystem abziehen.
    "Wissenschaftlich ist der Ansatz schon interessant. Nur: Was die Gesundheitsversorgung betrifft, haben wir in Estland pro Kopf viermal weniger Geld zur Verfügung als in Deutschland. Es reicht jetzt schon nicht, um alle Menschen angemessen zu behandeln. Statt noch mehr in dieses Programm zu stecken, bei dem man nicht weiß, ob es jemals einen klinischen Nutzen bringt, sollten wir das Geld lieber für bewährte Behandlungsformen investieren und die medizinische Versorgung insgesamt verbessern."