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Medizin
Wenn Gewebe Implantate verändern

Bei der Entwicklung von künstlichen Materialien, die als Implantate in den menschlichen Körper eingebracht werden, achten Wissenschaftler darauf, wie das körperfremde Material das umliegende Gewebe beeinflussen könnte. Doch auch die umgekehrte Sicht ist wichtig: Eine Forschungsgruppe am MIT in Boston hat untersucht, welchen Effekt die molekularen Bedingungen im Gewebe auf das Material haben.

Von Magdalena Schmude | 29.01.2015
    "Wenn ich einen Vortrag halte, zeige ich immer das Material auf der einen Seite und das Gewebe auf der anderen. Und es gibt einen Pfeil vom Material zum Gewebe, denn das ist das, was wir normalerweise tun: Wir entwickeln Materialien, die ihre Umgebung beeinflussen. Aber dann füge ich einen zweiten Pfeil hinzu, um zu zeigen, dass wir auch berücksichtigen müssen, dass das umgebende Gewebe auf das Material einwirkt und es verändert."
    Natalie Artzi und ihre Arbeitsgruppe am Massachusetts Institute of Technology entwickeln schon länger Materialien, die für den Einsatz in verschiedenen Geweben optimiert sind. Denn die biochemischen Bedingungen, denen ein Implantat im Körper ausgesetzt ist, sind vielfältig. Je nachdem ob es in den Magen, die Lunge oder die Leber eingesetzt wird, kommt es mit anderen Zellen oder Signalmolekülen in Kontakt.
    Während der Entwicklung eines Materials, das im Darm verwendet werden soll, kam den Wissenschaftlern eine weitere Erkenntnis.
    "Die Patienten, bei denen das Material verwendet werden soll, haben Krankheiten, etwa eine chronische Darmentzündung oder Darmkrebs. Das heißt, dass wir das Verhalten des Materials auch unter diesen Bedingungen untersuchen müssen."
    Das selbstklebende Material, das Natalie Artzi und ihr Team entwickelt haben, soll nach einer Operation im Darm auf die Wundnaht aufgetragen werden, um sie abzudichten und zu stabilisieren. Bisher kommt es nach etwa jeder dritten Operation zum Aufreißen der Wunde, weil das Gewebe durch die normale Darmtätigkeit ständig in Bewegung ist. Das kann die Heilung beeinträchtigen oder im schlimmsten Fall zum Austreten von Darminhalt und Bakterien in den Bauchraum führen.
    Für jeden Krankheitsgrad die richtige Zusammensetzung
    Um das zu verhindern, muss das Dichtungsmaterial fest am Gewebe anhaften. Ein bestimmter Stoff bindet dazu an die Kollagenfasern in der Darmwand und vermittelt den Kontakt. Natalie Artzi und ihr Team haben die Qualität dieser Haftung auch in Tiermodellen mit entzündetem oder kanzerösem Darmgewebe untersucht und fanden heraus, dass sie nicht immer gleich stark ist.
    "In entzündetem Gewebe bauen Enzyme die Kollagenfasern ab. Dadurch gibt es weniger Kontaktstellen für das Implantat. Im kanzerösen Gewebe passiert das Gegenteil. Wenn wir also eine einzige Mischung des Materials für gesundes, kanzeröses und entzündetes Gewebe verwenden, wäre die Haftung in entzündetem Gewebe schwächer und in kanzerösem Gewebe stärker als in gesundem. Das Verhalten des Materials verändert sich, weil die Interaktion mit dem Gewebe verändert ist. Deshalb müssen wir die Zusammensetzung für jeden Zustand anpassen, weil das Material sonst nicht richtig funktionieren kann."
    Bei Entzündungen kann dieser Effekt zum Beispiel durch eine größere Menge des klebenden Stoffes im Implantat ausgeglichen werden. Wie viel davon nötig ist, hängt auch von der Schwere der jeweiligen Erkrankung ab, wie Natalie Artzi und ihr Team herausfanden. Je stärker die Entzündung, desto weniger Kollagenfasern sind noch vorhanden. Mithilfe ihrer Daten entwickelten die Wissenschaftler ein Modell, das für jeden Krankheitsgrad die richtige Zusammensetzung des Dichtungsmaterials vorhersagt. Damit könnten Ärzte noch im Operationssaal entscheiden, welche Zusammensetzung für den jeweiligen Patienten die beste wäre.
    Natalie Artzi hofft, dass dieses Vorgehen auch für andere Biomaterialien Anwendung finden könnte.
    "Man muss verstehen, welche Faktoren in einer bestimmten Mikroumgebung den entscheidend Einfluss auf das Verhalten eines Materials haben. Es gibt Materialien, die von Enzymen abgebaut oder durch Sauerstoff verändert werden oder sich in Gegenwart von Wasser auflösen. All diese Materialien werden dann auch von einer Krankheit unterschiedlich beeinflusst. Aber wir haben jetzt eine Orientierungshilfe und können das Konzept hoffentlich übertragen."