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Mediziner: Gesellschaft muss über Regeln für Organverteilung entscheiden

Der Göttinger Organspendenprozess hat zu Kritik an den Verteilungsregeln für Organe in Deutschland geführt. Man müsse die Regeln anpassen, findet der Kölner Transplantationschirurg Dirk Stippel. Das sei eine gesellschaftliche Entscheidung und die Sitzung des Ethikrats der erster Schritt in diese Richtung.

Dirk Stippel im Gespräch mit Jasper Barenberg | 26.09.2013
    Jasper Barenberg: Werden Spenderorgane in Deutschland medizinisch sinnvoll und gerecht verteilt? Auch um diese Frage geht es derzeit im Göttinger Prozess um Organspenden. Als Leitender Oberarzt der Transplantationschirurgie soll der Angeklagte am Universitätsklinikum Akten gefälscht haben, damit seine Patienten schneller an ein Spenderorgan kommen. Versuchten Totschlag wirft die Staatsanwaltschaft dem Mediziner deshalb vor, weil andere Patienten zwangsläufig leer ausgehen mussten.

    Diesen Vorwurf bestreitet der Angeklagte vehement. Auch um Geld soll es ihm und seiner Klinik nicht gegangen sein. Dafür kritisiert die Verteidigung die Regeln selbst, nach denen Organe in Deutschland verteilt werden. Und Zweifel, ob es bei diesen Regeln gerecht zugeht, haben auch andere Kenner des Systems. Auch deshalb beugt sich heute der Deutsche Ethikrat in einer Sitzung über das Thema.

    Am Telefon begrüße ich Professor Dirk Stippel, den Leiter der Transplantationschirurgie an der Universitätsklinik von Köln. Guten Morgen nach Berlin, wo Sie ja heute auch dabei sein werden, Herr Stippel, bei der Sitzung des Deutschen Ethikrates.

    Dirk Stippel: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Werfen wir einen Blick auf genau diese Regeln, von denen gerade im Beitrag die Rede war, dass sowohl die Dringlichkeit berücksichtigt werden soll bei einem Patienten, aber auch die Erfolgsaussichten, die Frage also, wie lange er absehbar mit einem neuen Organ wird leben können. Unser Berichterstatter, der Kollege Gerhard Schröder, hat das als unüberwindbares Dilemma beschrieben. Sehen Sie das aus Ihrer praktischen Erfahrung in Köln auch so?

    Stippel: Es ist sicherlich ein Widerspruch in der Praxis zwischen diesen zwei Kriterien, und es ist ein sehr komplexes Problem, beide Kriterien zu berücksichtigen. Das derzeitige Verteilungssystem berücksichtigt im Wesentlichen die Dringlichkeit als Hauptschwerpunkt, das ist sicher richtig, und das ist in der Wahrnehmung ein Problem, weil dadurch die Transplantationsergebnisse natürlich nicht optimal sind.

    Barenberg: Das heißt, im Grunde genommen ist die Entwicklung in Deutschland so, dass immer weniger Menschen, die ein Organ transplantiert bekommen, damit auch auf lange Sicht gut leben können?

    Stippel: Ja. Es ist ein Grund, wieso das Transplantatüberleben langfristig nicht optimal ist. Ein anderer Grund ist sicherlich auch der Risiko-Score der Spender. In Deutschland ist die häufigste Todesursache, die zur Organspende führt, der Schlaganfall und nicht, wie in anderen Ländern, der Verkehrsunfall, was auch ein Qualitätszeichen unseres Systems ist, weil wir deutlich weniger Verkehrsunfälle haben. Bei diesen Verstorbenen ist das Risiko, dass die Organe nicht so lange funktionieren, deutlich erhöht.

    Barenberg: Was halten Sie also von diesen Regeln, die ja besagen, dass beides berücksichtigt werden soll, die Dringlichkeit, die Notwendigkeit auf der einen Seite und die Erfolgsaussichten auf der anderen?

    Stippel: Es gibt ja verschiedene Anforderungen an ein Allokationssystem. Ein Allokationssystem muss objektiv sein, es muss reproduzierbar sein. Das heißt, wenn man es mehrfach durchspielt, muss immer das gleiche Ergebnis kommen. Und es muss dadurch eine Transparenz erzeugen, dass es nachher auch nachvollziehbar und gesellschaftlich akzeptabel ist. Diese Kriterien erfüllt die Vergabe nach dem MELD-System sehr, sehr gut. Wie man verhindert, dass man in einem Bereich transplantiert, wo die Ergebnisse nicht mehr gut sind, ist ein zweites, sehr schwerwiegendes Problem.

    Einige Länder wie Kanada und Italien haben einzelne Faktoren zugefügt, haben den MELD erweitert um Spender- und Empfängerfaktoren, die den Erfolg vorhersagen, und haben damit für ihre Länder ganz gute Ergebnisse erreicht. Man muss allerdings sagen, dass man dazu auch so etwas wie ein nationales Transplantationsregister braucht, damit man wirklich landesspezifisch – denn da gibt es große Unterschiede – vorhersagen kann, welche Kombinationen welche Erfolge erzielen.

    Barenberg: Würden Sie sich denn aussprechen, auch vor dem Ethikrat heute, dass man an diesem Regelwerk Änderungen vornimmt, und in welche Richtung würden diese Änderungen dann gehen müssen nach Ihrer Ansicht?

    Stippel: Ich denke schon, dass man die Regeln anpassen muss, was letztendlich ja auch immer wieder geschehen ist. Der MELD ist ja eingeführt worden, weil man nach der Jahrtausendwende gesehen hat, dass die Sterblichkeit auf der Warteliste unakzeptabel hoch wurde. Und die Änderungen, die jetzt, denke ich, zu diskutieren sind, ist zum einen, ob man eine Grenze für Höchstrisiko-Patienten finden kann, also ob man Kriterien finden kann, wo man sagt, auch wenn das für den Betroffenen natürlich eine ganz, ganz schwere Sache ist, dass man hier keine Transplantation mehr durchführt.

    Und wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass in Deutschland auch sehr, sehr viele Organe insbesondere von Spendern, die im beschleunigten Verfahren vermittelt wurden, auch Patienten mit sehr, sehr niedrigem MELD transplantiert wurden. Das ist auch eine Sache, die vom Erfolg her nicht sinnvoll ist, und das, denke ich, muss man auch begrenzen.

    Barenberg: Eine Entscheidung, die Sie andeuten, einem schwer kranken Patienten zu sagen, dass man ihm doch kein Organ transplantieren kann, weil einfach die Erfolgsaussichten schlecht sind, das ist ja eine sehr schwerwiegende Entscheidung. Es geht im wahrsten Sinne um Leben und Tod. Nun ist es ja so, dass das Regelwerk von der Ärzteschaft aufgestellt wird und dass eigentlich die Gesellschaft, dass die Politik sich da völlig heraushält. Kann das bei so einer wichtigen ethischen Frage eigentlich so bleiben?

    Stippel: Nein, das kann eigentlich nicht so bleiben. Der einzelne Arzt kann kann schon gar nicht und darf das natürlich auch nicht, weil dafür sind die Richtlinien ja da, und das kann auch nicht die Ärzteschaft alleine machen. Die Entscheidung, in welche Zielrichtung die Leberzuteilung, Allokation in Deutschland gehen soll, ist eine gesellschaftliche Entscheidung, und wir Ärzte können hierzu Methoden anbieten, mit denen man diese Ziele dann erreichen kann. Aber letztendlich muss die Gesellschaft entscheiden, ob sie die Dringlichkeit, die Erfolgsaussicht oder eine Kombination aus beiden, eine utilaristische Verwendung der Organe möchte.

    Barenberg: Fühlen Sie sich da von der Politik auch ein Stück weit im Stich gelassen? Das Gesundheitsministerium hat ja bisher gesagt, wir schicken da jetzt mal einen Beamten hin, der soll sich das alles angucken, wenn es um die Regeln geht, aber entscheiden soll die Ärzteschaft selber.

    Stippel: Es war in der Transplantation immer so, dass die Politik nicht von sich aus sehr gedrängt hat, diese Entscheidungen zu treffen, denn das ist, glaube ich, für alle Menschen eine gleich unangenehme Entscheidung. Aber ich denke, dass die Gremien in Deutschland schon in der Lage sind, hier eine Entscheidung gemeinschaftlich zu finden. Dafür findet ja zum Beispiel heute auch die Sitzung statt. Das ist halt ein erster Schritt. Das ist nichts, was man in ein, zwei Wochen hinbekommen wird.

    Barenberg: Zum Schluss, Herr Professor Stippel. Ursache dafür, dass das Dilemma so groß ist, ist ja auch der Mangel an Spenderorganen überhaupt. Nun wird es wahrscheinlich nie genug davon geben, aber das Vertrauen ist dahin in der deutschen Bevölkerung. Die Zahlen gehen eindeutig nach unten. Sagen Sie uns noch einen Punkt, der besonders wichtig wäre, um dieses Vertrauen wiederherzustellen.

    Stippel: Ich glaube, dass die Diskussion der Verteilung und auch die Herstellung von Transparenz, dass man das wirklich nachvollziehen kann, dass man unter den Bedingungen etwas bekommt, entscheidend wichtig ist dafür, damit niemand das Gefühl hat, dass das Organ seines verstorbenen Angehörigen im Zweifelsfall in irgendwelche dunklen Kanäle kommt.

    Man muss ganz klar sagen, dass in Deutschland alle Patienten, die transplantiert wurden, auch eine medizinische Indikation hatten. Nur die Gerechtigkeitsfrage ist verletzt worden, weil die Reihenfolge nicht eingehalten worden ist. Aber soweit die Prüfkommission – das steht ja auch in den Prüfberichten drin -, es sind keine Patienten transplantiert worden, die nicht eine Lebertransplantation benötigten.

    Barenberg: Professor Dirk Stippel, der Leiter der Transplantationschirurgie an der Uniklinik in Köln, heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank!

    Stippel: Auf Wiederhören!


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