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Medizinethiker: Es gibt keine Pflicht zur Organspende

Manipulationen und Betrugsfälle haben die Transplantationsmedizin in eine Vertrauenskrise gestürzt. Jochen Vollmann, Institut für Medizinische Ethik und Geschichte der Medizin an der Ruhr-Universität Bochum, kritisiert, dass die Wertfrage beim Organspenden ausgeblendet wird.

Jochen Vollmann im Gespräch mit Matthias Gierth | 17.06.2013
    Matthias Gierth: Herr Professor Vollmann, die Transplantationsmedizin erlebt derzeit die wohl größte Krise ihrer Geschichte. Über Qualität, Transparenz und institutionelle Zuständigkeiten wird intensiv gestritten. Sie bemängeln, dass ethische und anthropologische Fragen, die der Krise zugrunde liegen, in dieser Diskussion ausgeblendet werden. Welche Fragen sind das konkret? Und warum werden sie ausgeblendet?

    Jochen Vollmann: Wenn Sie sich die heutige Diskussion anschauen, geht es um Spenderzahlen, geht es um Strukturen, geht es um Zuständigkeiten. Das sind sicherlich wichtige Fragen, um Transplantationsmedizin zu betreiben. Sie erklären die Krise aber nicht. Die dahinter liegende Frage ist eine Wertfrage. Warum sollen Menschen uneigennützig höchstpersönliche Dinge nach ihrem Tod spenden? Das ist die entscheidende Frage. Und diese Frage stellt sich in einer Zeit, wo alle Lebensbereiche – auch das Gesundheitswesen – zunehmende ökonomisiert werden, zunehmend Eigeninteressen im Vordergrund stehen. In der Transplantationsmedizin sollen sich die Bürger plötzlich ganz anders entscheiden. Das sehe ich als einen Widerspruch und darüber müssen wir gesellschaftlich diskutieren.

    Gierth: Welche Rolle spielt in diesen Diskussionen die Tatsache, dass sich in den Jahren und Jahrzehnten des Aufstiegs der Transplantationsmedizin ja auch das Arzt-Patienten-Verhältnis gewandelt hat? Der Patient ist heute wesentlich selbstbewusster, der Arzt nicht mehr der Halbgott in Weiß.

    Vollmann: Das ist richtig. Die Transplantationsmedizin hat sich als Symbol für erfolgreiche, moderne High-Technik-Medizin entwickelt. Die ersten Organtransplantationen waren Grenzüberschreitungen. Nicht nur medizinisch, weil man Neuland betreten hat, sondern auch ethisch und rechtlich. Zum Beispiel die erste Herztransplantation in Südafrika, Barnard – allgemein bekannt – wurde deshalb in Südafrika durchgeführt, weil dort die ethischen und rechtlichen Regeln weniger streng waren als in den USA, wo Barnard die Technik erlernt hat und die gesamte Forschung gelaufen ist. Also schon in den Ursprüngen der Transplantationsmedizin geht es um Grenzüberschreitung. Im Bereich der medizinischen Forschung sind die nötig, sonst gibt es keinen Fortschritt. Aber im Bereich von Ethik und Recht muss man fragen: Wo sind die Grenzen im Grenzbereich der Transplantationsmedizin?

    Gierth: Wenn Sie die Grenzüberschreitungen ansprechen, findet sich dieser Glaube, Regeln überschreiten zu dürfen auch in den jetzt bekannt gewordenen Transplantationsskandalen wieder?

    Vollmann: Das kann man auf jeden Fall so interpretieren. Die Ärztinnen und Ärzte haben alles für ihre Patientinnen und Patienten getan, dass ihre Patientinnen und Patienten die Organe, die eben die Mangelware sind, bekommen, und sind so weit gegangen, dass sie falsche Angaben gemacht haben. Das ist eine Grenzüberschreitung, die ethisch und rechtlich nicht zu tolerieren ist, denn wir betreiben heute Transplantationsmedizin in einem öffentlichen System, wo es Regeln gibt für die begrenzten Organe und dort müssen sich alle Transplantationsmediziner an diese Regeln halten, weil sonst die moralische Grundlage, auf der alles Tun aufbaut, zusammenbricht. Genau das erleben wir gerade.

    Gierth: Sie weisen auf die begrenzte Zahl der Spenderorgane hin. Von Seiten der Gesundheitspolitik und der Transplantationsmedizin wird ja suggeriert, dass es so etwas wie eine moralische Pflicht der Bevölkerung gebe, mittels Organspende Menschenleben zu retten. Rechtfertigt aus Ihrer Sicht ein hohes Gut - Hilfe, Lebensverlängerung für Schwerstkranke - dieses Mittel?

    Vollmann: Es gibt keine Pflicht zu einer Spende. Das ist doch sprachlich auch schon eindeutig. In anderen Lebensbereichen sprechen wir auch nicht von einer Pflicht zum Spenden. Das ist doch widersprüchlich. Eine Spende ist immer freiwillig. Und eine Spende muss immer vom Spender eigenmotiviert kommen. Ich selber habe einen Organspendeausweis. Ich habe überhaupt nichts gegen Organspende – im Gegenteil. Seitdem ich Medizin studiert habe, trage ich diese Karte bei mir. Aber es geht doch nicht, dass, weil Patientinnen und Patienten, die schwer krank sind, mit Organen, mit einer Organtransplantation geholfen werden kann – das ist unstrittig -, dass daraus eine Pflicht oder gar ein Zugriffsrecht auf den Körper und die Organe Dritter resultiert. Und Sie merken, das ist nicht nur ethisch zweifelhaft. Es funktioniert in der Praxis auch nicht, weil die Menschen diesen Druck nicht mitmachen, sie weichen eher aus. Und in der Praxis sinken dann die Spenderzahlen.

    Gierth: Eine Voraussetzung für eine Organspende nach dem Tod ist in Deutschland das Kriterium des Ganzhirntods. Dieses Kriterium ist innerwissenschaftlich umstritten, aber es widerspricht vor allem der Lebenserfahrung vieler Angehöriger und Pflegender, dass nämlich ein Mensch tot sein soll, dessen Herz schlägt und dessen Reflexe funktionieren. Kann man einer Gesellschaft die Akzeptanz dieses Hirntodkriteriums eigentlich aufzwingen?

    Vollmann: Nein, das können Sie nicht aufzwingen, das können Sie auch nicht vorschreiben und das funktioniert auch nicht. Wann ist der Mensch tot? Diese Frage hört sich auf den ersten Blick sehr einfach, sehr trivial an. Wenn man aber näher darüber nachdenkt, wird es sehr komplex. Denn offensichtlich hat der Tod etwas mit medizinisch-biologischen Faktoren zu tun, aber eben auch mit unserem Menschenbild, mit unserer Vorstellung von: Was ist menschliches Leben, wann endet menschliches Leben. Das hat etwas mit historischen, psychologischen und sozialen Aspekten zu tun. Und diese Aufzählung macht deutlich, dass eine Todesdefinition unter den Rahmenbedingungen der modernen Medizin etwas sehr Komplexes ist. Dass Wissenschaftler sich da in allen Aspekten nicht einigen, ist in der Wissenschaft auch nicht verwunderlich. Das ist aber auch nicht das Entscheidende. Das Entscheidende ist, dass wir den Menschen ehrlich sagen, was ist dieses Stadium, was wir Tod nennen. Es ist eine Situation, wo der Betroffene keine Chance mehr auf selbstständiges Leben in der Zukunft hat. Und in der Situation entscheide ich als Organspender, bin ich bereit Organe zu spenden oder nicht. Ob das nun Tod für alle ist oder letzte Phase des Sterbens ist für die Betroffenen von untergeordneter Bedeutung.

    Gierth: Nun kommt ein weiteres Konfliktfeld hinzu, denn zwischen den Wünschen eines sterbenden Patienten und denen des auf ein Spenderorgan wartenden Menschen beziehungsweise der Transplantationsmediziner kann es Unterschiede geben. Durch Patientenverfügungen erreichen etwa weniger Patienten heute überhaupt das Stadium des Hirntods, über den wir gerade gesprochen haben. Wie muss man diesen möglichen Interessenskollisionen auf einer Intensivstation begegnen?

    Vollmann: Man muss diese Interessenskollision zunächst einmal benennen. Interessenskonflikte sind an sich ja nichts Schlimmes. In unserer Gesellschaft haben wir viele Lebenssituationen, wo unterschiedliche Interessen aufeinander treffen. Das gehört zu einem normalen Leben. Aber wir müssen mit diesen Interessenskonflikten umgehen, das heißt, wir müssen sie erst einmal transparent machen und benennen. Und dazu gehört nach meiner Vorstellung, dass man den Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit im Rahmen der modernen Medizin aufzeigt, wie möchte ich sterben, was gibt es für Entscheidungen am Lebensende. Das hat zunächst einmal mit Organspende gar nichts zu tun. Das sind die vielen Entscheidungen palliativmedizinische Versorgung oder eher weiterhin auf kurative, auf lebensrettende, lebensverlängernde medizinische Maßnahmen setzen. In diesen gesamten Komplex gehört dann auch die Frage der Organspende. Darüber müssen Bürgerinnen und Bürger aufgeklärt werden. Und das ist gegenwärtig nicht der Fall, weil die gesamte Diskussion normativ vorentschieden ist mit dem Ziel: Wir brauchen mehr Spenderorgane. Das ist ethisch aber nicht richtig und das funktioniert so in der Praxis auch nicht, weil die Bürgerinnen und Bürger spüren, da ist ein Interessenskonflikt, da wird nicht offen diskutiert. Das müssen wir ändern.

    Gierth: Welche Stellschraube muss man dazu drehen, um diese Diskussion, die Sie jetzt einfordern, stärker in Gang zu bringen?

    Vollmann: Indem man zum Beispiel die Diskussion über Palliativmedizin, über Patientenverfügung, über Selbstbestimmung am Lebensende mit der Frage der Organspende in der Transplantationsmedizin verbindet. Also zum Beispiel: Ich möchte keine unnötigen intensivmedizinischen Maßnahmen an Lebensende. Aber ich bin bereit, dass medizinisch eingeleitete Maßnahmen für wenige Tage verlängert werden, weil ich Organe spenden möchte. Das wäre zum Beispiel eine Möglichkeit, wie man sich verhalten kann. Und diese Möglichkeit muss öffentlich diskutiert und den Bürgern und Bürgerinnen transparent vorgeführt werden.

    Gierth: Die Religionsgemeinschaften und Kirchen haben in den vergangenen Jahren der Transplantationsmedizin weithin den Rücken gestärkt und die Organspendebereitschaft von Menschen positiv gewürdigt. Welche Rolle kommt ihnen in der jetzigen Vertrauenskrise der Transplantationsmedizin zu?

    Vollmann: Die Kirchen haben die Organspende als Zeichen der Nächstenliebe positiv dargestellt. Innerhalb der Kirchen und der Theologie gab es aber stets auch immer kritische Stimmen, zum Beispiel zum Verständnis des menschlichen Todes – das Hirntodkriterium. Da haben Sie die Situation innerhalb der Kirchen letztlich so wie in der Gesamtgesellschaft auch und es müssen beide Seiten beleuchtet werden. Es gibt keine Pflicht zur Organspende, aber ich finde schon eine ethische Herausforderung, sich mit dieser Option auseinanderzusetzen. Genauso, wie der Mensch in einer modernen Gesellschaft mit einer modernen Medizin aufgefordert ist, sich überhaupt mit Entscheidungen am Lebensende, mit Gestaltung des eigenen Alters, des eigenen Sterbens zu beschäftigen.