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Meeresboden
Leben auf der Kriechspur

Die Meere sind unbestritten der größte Lebensraum der Erde. Das Leben hört keineswegs irgendwo ein paar Dezimeter tief im Meeressediment auf. Sogar die bislang tiefste wissenschaftliche Bohrung in Meer vor der Shimokita-Halbinsel hat die Grenze des Lebens noch nicht erreicht – aber spannende Erkenntnisse gebracht.

Von Dagmar Röhrlich | 24.07.2015
    Die Halbinsel Shimokita liegt im Norden Japans. Sie ist wegen des Mount Osore bekannt, eines Vulkans, der in der Mythologie den Eingang zur Hölle markiert. Etwa 80 Kilometer vor der Küste Shimokitas öffneten Wissenschaftler 2012 ein ganz anders geartetes Tor in die Unterwelt: Von Bord des Forschungsschiffs Chikyu aus bohrten sie - über 1.100 Meter Wassersäule hinweg - fast zweieinhalb Kilometer tief in den Meeresgrund hinein:
    "Wir haben diese tiefe Bohrung abgeteuft, um das mikrobielle Leben in den großen Tiefen zu untersuchen."
    Erklärt Kai-Uwe Hinrichs von der Universität Bremen. Das Ziel der Bohrung war eine Abfolge von Kohle-, Ton- und Sandsteinschichten, die vor mehr als 20 Millionen Jahren aus einem Sumpf an der Küste entstanden ist. Die Plattentektonik versenkte diesen Sumpf in die Tiefsee, anderthalb Kilometer Meeressediment deckten ihn zu - und auch die Mikroorganismen, die in ihm lebten. Und deren Nachfahren sind - zur Überraschung der Forscher - aktiv:
    "Die Organismen, die wir auf Basis von Genen eben nachweisen konnten, waren denjenigen am ähnlichsten, die man heutzutage in einem Waldboden finden würde."
    Die Mikrobengemeinschaft des Sumpfs lieferte also die Keimzelle der tief im Meeresboden lebenden "Gesellschaft" heute. Allerdings verschob sich das Artenspektrum: Wer sich nicht anpassen konnte, verschwand. Nur wer es schaffte, in extremer Zeitlupe zu leben, konnte sich halten:
    "Wir haben es hier teilweise mit sehr, sehr alten Organismen zu tun."
    Die Analysen ergaben, dass trotz der extremen Bedingungen kilometertief im Sediment ein buntes Ökosystem existiert. In den Flözen gibt es Mikroorganismen, die Kohle verdauen. Andere nutzen deren Abfallprodukte und produzieren daraus beispielsweise Methan. Mit etwa 100 bis 1000 Zellen pro Milliliter Sediment leben vergleichsweise viele Mikroben in diesen Kohlelagen. Das sieht in den dazwischen abgelagerten Ton- und Sandsteinlagen ganz anders aus:
    "Da waren die Zellzahlen in der Größenordnung von einer vielleicht bis zehn Zellen, teilweise auch weniger als eine Zelle pro Milliliter."
    So wenige lebende Zellen sind Rekord für ein Ökosystem. Doch was hemmt die Mikroben? Es ist nicht die Temperatur: Die liegt mit 50 bis 60 Grad im Wohlfühlbereich. Und es gibt in den Sand- und Tonsteinlagen zwar deutlich weniger organische Verbindungen als in den Flözen, aber "verhungern" sollten die Mikroben trotzdem nicht:
    "Irgendetwas mit den Organismen ist da aus der Balance geraten. Die Organismen sind nicht mehr in der Lage, das Substrat zu nutzen. Wir haben spekuliert, dass einfach physikalische Eigenschaften eine Rolle spielen, die Verfügbarkeit von Wasser zum Beispiel."
    So hat der immense Druck die Sand- und Tonsteine so stark zusammengepresst, dass sie im Grunde trocken sind. Was an Feuchtigkeit da ist, hält ein paar Organismen lebendig, aber es fließt kein Wasser mehr, und damit könnte der Stoffaustausch zum Erliegen kommen: Werden jedoch Abfallprodukte nicht fort- und Nährstoffe herangeschafft, gerät der Energiehaushalt der Mikroben an Grenzen:
    "Man muss auch im Hinterkopf haben, dass diese Mikroorganismen sehr, sehr lange leben, und als Folge gehen bestimmte molekulare Zellbausteine kaputt, was normalerweise eben behoben wird, indem Reparatur stattfindet. Aber wenn ein System sehr stark energielimitiert ist, dann kann diese Reparatur nicht mehr stattfinden."
    Jan Amend von der University of Southern California ist begeistert von der Arbeit seiner Kollegen:
    "Ich bin ein großer Fan dieses phantastischen Artikels. Das Team lieferte vielfältige Beweise dafür, dass in diesem tiefsten bislang im Meeresboden gefundenen Ökosystem unterschiedliche Organismen aktiv sind. Die Arbeit ist wirklich sehr interessant und bahnbrechend."
    Die Arbeit zeigt, unter welch extremen Bedingungen Mikroorganismen existieren, wie langsam Prozesse ablaufen können, ehe das Leben allmählich zum Stillstand kommt. Die Grenzen des Lebens beginnen sich abzuzeichnen, aber erreicht sind sie noch nicht.